die beiden gebote

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
die beiden gebote


nur zwei gebote binden uns
die liebe deren namen vollkorn
durch alle sprachen zu hören ist
in jedem wort der lieder

im ubahn sausenden du in den tunneln
der zeiten schlauch posaunen tuben
im knautschi enten schnarr geplärr
in sekten geknister papier schrift

dich du den dich binden beide gebote:
du sollst uns nicht in versuchung führen
du sollst uns erlösen: nimm weg alls schlimmes
doch all dein du ist so frei wie

die latex substanz aller du dabbdi du
die du wabbdi dummdumm geschossnen gebote
zu brechen bist frei du dudumm wabbdi du
wenn du mich verführst wild bezauberst
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
latex ist ein lateinisches Wort, beliebt bei Ovid und Vergil, und bedeutet schlicht und einfach Wasser
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Vergil, Aeneis 6,710-712:

tum pater Anchises animae quibus altera fato
corpora debentur Lethaei ad fluminis undam
securos latices et longa oblivia potant

Da sprach Vater Anchises: „Die Seelen, die ihrem Schicksal
neue Körper verdanken, sie trinken an Lethestroms Welle
sorgenlösende Elixiere und tiefes Vergessen."
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich rätsle noch immer, lieber Leser,

warum dieses Lied mit einem nackten Punkt in Deiner Mißachtung hängenbleibt.

Mir als Leser gilt es viel, ich setze mich damit aus-ein-ander. Zu Beginn schon frage ich das lyrische Wir des Gedichts, wen den bloß zwei Gebote binden, wo wir doch eigentlich zehn kanonische kennen, abgesehen von den Geboten im Bürgerlichen Gesetzbuch. "Bloß zwei" könnten es aber in der neutestamentlichen Kurzfassung sein "Liebe deinen Nächsten" und "Liebe Gott", oder nur eines in der Zuschärfung "Liebet eure Feinde!"
Aber wenn "uns" ein Dativ ist und das Satzobjekt, das da gebunden werden soll, "die liebe" ist, geht es nicht um jene Gebote, weder die zehn noch die zwei, sondern um die beiden Gebote, mit denen Gott (der selbst "die Liebe" ist) im Vaterunser gebunden wird. Was ja schließlich auch zitiert wird.
Offensichtlich binden die anderen sogenannten Bitten den "Vater" nicht, denn sie laufen gewissermaßen durch den Menschen hindurch, so daß er sie selbst erfüllen kann: Das tägliche Brot zu geben läuft durch unsere Arbeit (Geldverdienen, um seine Familie dadurch zu ernähren) und Pädagogik (Brot metaphorisch für Seelennahrung), wir müssen es mit-leisten. Den Tätern unserer Umgebung ihre Beleidigungen, Einsersternchen, ihre Mißachtung und stolze Inkompetenz zu vergeben, liegt gleichfalls in unserer eigenen Verantwortung, wie es ja auch heißt "wie auch wir vergeben denen, die an uns schuldig geworden sind". Das geht wesentlich durch Humor; ich nenne es das Humorgebot des Vaterunser.
Bleiben deshalb nur die beiden, die in diesem Gedicht zitiert worden sind. Oh ja, eine große, alte, unabgeschlossene Diskussion, ob man dem Gott unterstellen darf, daß er Menschen in Versuchung führen will.

Und groß, alt, unabgeschlossen bleibt die Aus-ein-ander-Setzung auch hier.

Aber es geht letztlich einen kleinen Schritt weiter: Ist der Gott durch diese beiden Gebote tatsächlich gebunden? Oder ist er so souverän wie jeder Mensch, meinetwegen: Mindestens so souverän wie jeder Mensch, der gerade im Feld der Liebe seinen Wunschpartner in Versuchung führt und von ihm verführt werden möchte?

Es ist auch schwer zu sagen, was das "Schlimme" ist, von dem das lyrische Wir erlöst werden will. Es könnte der bedrückende Ernst der Fremdbestimmung sein, die dunkle Seite des Religiösen. So, wie nicht die Gebotsknechtung, sondern der Humor uns die Vergebung der Taten der Kollegen, Nachbarn und Dichter erleichtert, vielleicht sogar erst ermöglicht, so könnte die Befreiung vom Formalismus der runtergebeteten Gedankenlosigkeiten hilfreich sein: Anstatt dem Gott Gebote zu geben, könnten wir ihn souverän und frei lassen, uns mit allen Mitteln der poetischen Ästhetik zu verführen.

Woher sollte sonst unsere Inspiration kommen? Der Atem des hagion pneuma? Der Kuß der Gottheit, die die Liebe selbst ist?

Groß, alt, unabgeschlossen, diese Aus-ein-ander-Setzung,

grusz, hansz
 

Soljanka

Mitglied
Lieber Hansz,

Die Eins ist sicher nicht gerechtfertigt. Aber das weißt du ja selbst. Deine Lesart der Versuchung im Vaterunser ist beeindruckend. Auch das Wabern der Materie, die Gott allen Ernstes maßregeln will, ist super. Aber es schnarrt und plärrt mal wieder einiges dazwischen, was das Verständnis erschwert.

Zu deiner inhaltlichen Auseinandersetzung mit deinem Text noch ein paar Gedanken. So einfach ist es mit dem Brot-Verdienen nicht für alle Menschen auf der Welt. Und auch das mit der Vergebung ist nicht immer mit Humor getan und aus eigener Kraft zu erreichen. Eine Bitte, auch eine verzweifelte Bitte, ist kein Gebot. Und ein Gebet ist nicht automatisch eine Beschwörung, wogegen sich ja Jesus im Kontext des Vaterunsers auch wehrt.

Gruß von Soljanka
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ein herzliches Dankeschön für Deinen Brief, Soljanka!
Ich möchte auf alles im Einzelnen eingehen:

Die Eins ist sicher nicht gerechtfertigt. Aber das weißt du ja selbst.
Das weiß sogar Orlando. Wenn ich mir mal etwas mehr Humor leisten kann, vergebe ichs ihm.

Deine Lesart der Versuchung im Vaterunser ist beeindruckend. Auch das Wabern der Materie, die Gott allen Ernstes maßregeln will, ist super.
Ich verstehe Deinen Ausdruck "Wabern der Materie" als Konzentratwort für die Onomatopoien der vierten Strophe, ja: das würde ich auch so lesen, daß es eine bewegliche Form von "Materie" ist, was sich da innersprachlich reflektiert wie die vokalischen Gummiamöben an den Widerständen der Konsonanten, Silbenmusik. Aber die Maßregelung sehe ich nicht (nicht etwa, weil ichs "besser wüßte"), weil ich die zweite Strophe zuvor schon so gelesen habe, daß dort das Vollkorn-Brot der Liebe als Bewußtseins-Substanz versifiziert wird: In den "tunneln der zeiten" saust das "du", das Ichbewußtsein in seiner Kommunikations-Substanz, das aus Sprache bestehende Ich. Der all-ein-seiende Gott, die Liebe an und für sich, ist pure Kommunikation, und in dieser LOGOS-Innerlichkeit gebietet er nichts, maßregelt eigentlich auch nicht, und natürlich ist er auch frei davon, irgendein Gebot befolgen zu müssen. Freiheit.

Aber es schnarrt und plärrt mal wieder einiges dazwischen, was das Verständnis erschwert.
Was gewiß damit zu tun hat, daß die in sich lose "wabernde" Musik alle Intentionalität, d.h. alle Beziehungen auf etwas außerhalb des All-Ein-Seins, transzendiert. Wie Friedrich von Hardenberg in "Die Lehrlinge zu Sais" vermutet: "Die echte Sanskrit spräche, um zu sprechen, weil Sprechen ihre Lust und ihr Wesen sei". (Mit "Sanskrit" meint er die substantielle Sprache, aus der die Natur besteht, was ich in diesem Gedicht hier "Vollkorn" genannt habe). Aber ich setze den Novalis hier nicht voraus, ich zitiere ihn ja nicht.

Zu deiner inhaltlichen Auseinandersetzung mit deinem Text noch ein paar Gedanken. So einfach ist es mit dem Brot-Verdienen nicht für alle Menschen auf der Welt.
Das ist der Skandal des "Vaterunser", wenn es als Bitte an einen äußerlichen Brötchengeber verstanden wird: daß es die Hungernden nicht unmittelbar ernährt. Wenn es aber den Gott reflektiert, in dem wir leben, weben und sind, ist es unsere Menschenaufgabe, den Hungernden Brot zu geben.

Und auch das mit der Vergebung ist nicht immer mit Humor getan und aus eigener Kraft zu erreichen.
Ja, der gleiche Skandal wie oben.

Eine Bitte, auch eine verzweifelte Bitte, ist kein Gebot.
Gerade darum, den an sich skandalösen "Gebots"-Chakakter der Imperative durchzurütteln, geht es in diesem Gedicht. Leben, weben und sind wir in der göttlichen Substanz selbst, schlagen verzweifelte Bitten auf dem harten Boden auf, der Fall endet in der Offenbarung der "Existenz". Schlimm, schmerzhaft, erweckend.

Und ein Gebet ist nicht automatisch eine Beschwörung, wogegen sich ja Jesus im Kontext des Vaterunsers auch wehrt.
Daß sich Jesus in der Bergpredigt dagegen "wehrt", den Vater zu "beschwören", ist mir neu. Aber ich würde den All-Ein-Seienden auch nicht beschwören wollen. Und wollte das lyrische Wir des Gedichtes die amöbische Substanz in den Kommunikationstunneln beschwören? Eine interessante Idee ist das schon: Die Onomatopoien als Zauberformeln, ja, das hat was.

Ich lese es eher so, daß der freie Geist Gottes von den "beiden Geboten" frei ist. Aber nicht als fremder Souverän, wie der lieblose Herrschergott im Barock, der macht, was er will, weil ers kann, - aber das sieht bei Spinoza und Leibniz ganz anders aus, denn deren "Gott" ist all-ein-seiend, neuplatonisch-pantheistisch, - sondern als die Freiheit selbst, aus der sich unsere Freiheit schöpft.

Danke für Dein aufmerksames Lesen und Verstehen des Gedichts,

grusz, hansz
 

Soljanka

Mitglied
Oh, ich gebe zu, dass ich das mit den Tunneln und Schläuchen nicht ganz verstanden habe. Du denkst pantheistisch, wenn du vom All-Ein-Seienden sprichst, oder? Wenn ja, dann verstehst du die wabernde Materie gar nicht als Gegenüber zu Gott?
Und wie mir nun beim Nochmallesen aufgefallen ist, ist der Relativsatz mit dem Maßregeln doppeldeutig. Ich meinte, dass die Materie/Welt/Menschheit in deinem Gedicht versucht, Gott unter ihre Gesetze zu bringen.

Dass du den Gebotscharakter der Imperative durchrütteln wolltest, habe ich so verstanden. Und das hat was.
Aber ich lese die Vaterunser-Bitten eben nicht als Gebote, sondern als vertrauensvolle Bitten von Menschen, die wissen, dass sie das Leben und dessen Grundlagen im Letzten nicht selbst in der Hand haben.

Nach Mt 6 gehört es zu Jesu Gebetsschule, nicht zu plappern wie die Heiden, sondern darauf zu vertrauen, dass Gott weiß, was wir zum Leben brauchen. Das meinte ich, als ich schrieb, dass Jesus sich gegen Beschwörungen Gottes wehrte.

Für heute verabschiede ich mich mit besten Grüßen, Hansz, und Gute Nacht,
Soljanka
 



 
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