Ein herzliches Dankeschön für Deinen Brief, Soljanka!
Ich möchte auf alles im Einzelnen eingehen:
Die Eins ist sicher nicht gerechtfertigt. Aber das weißt du ja selbst.
Das weiß sogar Orlando. Wenn ich mir mal etwas mehr Humor leisten kann, vergebe ichs ihm.
Deine Lesart der Versuchung im Vaterunser ist beeindruckend. Auch das Wabern der Materie, die Gott allen Ernstes maßregeln will, ist super.
Ich verstehe Deinen Ausdruck "Wabern der Materie" als Konzentratwort für die Onomatopoien der vierten Strophe, ja: das würde ich auch so lesen, daß es eine bewegliche Form von "Materie" ist, was sich da innersprachlich reflektiert wie die vokalischen Gummiamöben an den Widerständen der Konsonanten, Silbenmusik. Aber die Maßregelung sehe ich nicht (nicht etwa, weil ichs "besser wüßte"), weil ich die zweite Strophe zuvor schon so gelesen habe, daß dort das Vollkorn-Brot der Liebe als Bewußtseins-Substanz versifiziert wird: In den "tunneln der zeiten" saust das "du", das Ichbewußtsein in seiner Kommunikations-Substanz, das aus Sprache bestehende Ich. Der all-ein-seiende Gott, die Liebe an und für sich, ist pure Kommunikation, und in dieser LOGOS-Innerlichkeit gebietet er nichts, maßregelt eigentlich auch nicht, und natürlich ist er auch frei davon, irgendein Gebot befolgen zu müssen. Freiheit.
Aber es schnarrt und plärrt mal wieder einiges dazwischen, was das Verständnis erschwert.
Was gewiß damit zu tun hat, daß die in sich lose "wabernde" Musik alle Intentionalität, d.h. alle Beziehungen auf etwas außerhalb des All-Ein-Seins, transzendiert. Wie Friedrich von Hardenberg in "Die Lehrlinge zu Sais" vermutet: "Die echte Sanskrit spräche, um zu sprechen, weil Sprechen ihre Lust und ihr Wesen sei". (Mit "Sanskrit" meint er die substantielle Sprache, aus der die Natur besteht, was ich in diesem Gedicht hier "Vollkorn" genannt habe). Aber ich setze den Novalis hier nicht voraus, ich zitiere ihn ja nicht.
Zu deiner inhaltlichen Auseinandersetzung mit deinem Text noch ein paar Gedanken. So einfach ist es mit dem Brot-Verdienen nicht für alle Menschen auf der Welt.
Das ist der Skandal des "Vaterunser", wenn es als Bitte an einen äußerlichen Brötchengeber verstanden wird: daß es die Hungernden nicht unmittelbar ernährt. Wenn es aber den Gott reflektiert, in dem wir leben, weben und sind, ist es unsere Menschenaufgabe, den Hungernden Brot zu geben.
Und auch das mit der Vergebung ist nicht immer mit Humor getan und aus eigener Kraft zu erreichen.
Ja, der gleiche Skandal wie oben.
Eine Bitte, auch eine verzweifelte Bitte, ist kein Gebot.
Gerade darum, den an sich skandalösen "Gebots"-Chakakter der Imperative durchzurütteln, geht es in diesem Gedicht. Leben, weben und sind wir in der göttlichen Substanz selbst, schlagen verzweifelte Bitten auf dem harten Boden auf, der Fall endet in der Offenbarung der "Existenz". Schlimm, schmerzhaft, erweckend.
Und ein Gebet ist nicht automatisch eine Beschwörung, wogegen sich ja Jesus im Kontext des Vaterunsers auch wehrt.
Daß sich Jesus in der Bergpredigt dagegen "wehrt", den Vater zu "beschwören", ist mir neu. Aber ich würde den All-Ein-Seienden auch nicht beschwören wollen. Und wollte das lyrische Wir des Gedichtes die amöbische Substanz in den Kommunikationstunneln beschwören? Eine interessante Idee ist das schon: Die Onomatopoien als Zauberformeln, ja, das hat was.
Ich lese es eher so, daß der freie Geist Gottes von den "beiden Geboten" frei ist. Aber nicht als fremder Souverän, wie der lieblose Herrschergott im Barock, der macht, was er will, weil ers kann, - aber das sieht bei Spinoza und Leibniz ganz anders aus, denn deren "Gott" ist all-ein-seiend, neuplatonisch-pantheistisch, - sondern als die Freiheit selbst, aus der sich unsere Freiheit schöpft.
Danke für Dein aufmerksames Lesen und Verstehen des Gedichts,
grusz, hansz