Die Bestie

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Amadis

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Als sich die stählerne Tür öffnete, stand er bereits neben seiner Pritsche. Er wusste, dass es endlich soweit war. Das Warten hatte ein Ende.

Sie waren zu dritt: McPherson, der kleine, pockennarbige Ire, Charlie Solomon, ein Jude aus New Jersey, den es irgendwann in diesen gottverlassenen Teil des Landes verschlagen hatte, und Lalongue, der Kanadier, in dessen Adern das Blut der Ureinwohner floss. Lalongue blieb draußen und hielt die Pumpgun mit beiden Händen quer vor der Brust, während die beiden anderen herein kamen, um ihm die Ketten anzulegen – nicht etwa, weil sie eine Flucht befürchteten, sondern einfach, weil es die Vorschriften so verlangten. Am Vorabend hatte man ihn gefragt, ob er einen Priester zu sehen wünsche. Er hatte mit verächtlichem Gesichtsausdruck abgewinkt.

Er grinste sie an. McPherson, der jüngste der drei, war leichenblass – leichenblass ... Sein Grinsen wurde breiter. Das würde er jetzt auch bald sein – endlich! McPherson vermied es, ihn anzuschauen, während er die breiten, stählernen Armbänder um seine Handgelenke schloss. Solomon hatte derweil die Fußketten befestigt.

„Komm jetzt raus, Bestie!“, forderte ihn Lalongue auf und brachte die Pumpgun in Anschlag. Bestie! Den Namen hatte man ihm gegeben, nachdem er die ersten drei Mädchen vergewaltigt und getötet hatte. Nat Van George, die Bestie!

Nat schaute Lalongue in die dunklen Augen, während er – gefolgt von den beiden anderen Wächtern – hinaus schlurfte. Im Gesicht des großen, dunkelhaarigen Mannes zeigte sich keine Regung.
„Na, Rothaut.“ Nat grinste den Kanadier an. „Macht’s dir Spaß, einen weißen Mann sterben zu sehen?“ Lalongue antwortete nicht, sondern drehte sich um und ging voraus den Gang hinunter.
„Halt die Schnauze und geh!“ Solomon stieß ihm den Knüppel in die Nierengegend und schubste ihn vorwärts.

„Judensau“, brummte Nat und spuckte auf den Linoleumboden. Der war nicht grün, wie in „The Green Mile“, sondern von einem schmutzigen Grau wie alles in diesem Todestrakt. Man würde Nat auch nicht in ein anderes Gebäude bringen, wie es Stephen King in seinem Bestseller beschrieben hatte. Das war hier schon besser organisiert: die Hinrichtung fand am Ende des langen Ganges hinter einer ebenfalls grauen Tür statt.

Die Bestie... Bestie... Bestie... Wie ein Echo hallte dieser Name durch seinen Schädel wie schon so oft in den einsamen Nächten in der Zelle, aber auch schon vorher, in vielen einsamen Jahren. In schmutzigen, herunter gekommenen Motels. In feuchten, kalten Scheunen, wo er sich im Heu verkrochen hatte, immer auf der Flucht, sein Leben lang ...

Auf der Flucht vor seinem Vater, den er immer noch vor sich sah, wie er mit seinem übernatürlich groß erscheinenden, erregierten Penis vor dem Bett seines siebenjährigen Sohnes stand, bevor er zum erstenmal in einem Orkan von Schmerz in ihn eingedrungen war, seine Schmerzensschreie im Kopfkissen erstickend.

Auf der Flucht vor dem teilnahmslosen Gesicht seiner Mutter, wenn sie am Morgen das blutbefleckte Bettlaken gewechselt hatte, ohne ihm in die Augen schauen zu können.

Auf der Flucht vor seinen Schulkameraden, vor denen er sich an solchen Tagen im Wald versteckt hatte, damit sie seine durchgeblutete Hose nicht sahen, seinen stumpfen Blick zum wolkenverhangenen Himmel gerichtet.

Auf der Flucht vor der steilen Klippe, auf der er unzählige Male gestanden hatte, um sich hinab zu stürzen ... und es dann doch nie getan hatte.

Auf der Flucht vor dem entsetzten Gesicht seiner Mutter und den in ungläubigem Staunen aufgerissenen Augen seines Vaters in jener Nacht, als er einen Schlussstrich gezogen hatte mit dem 32er Trommelrevolver, den er sich vor Wochen besorgt hatte. Zwei Kugeln zwischen die Beine des Vaters, um dieses verhasste Körperteil zu zerstören, zwei in sein Gesicht und die letzten beiden ins teilnahmslose Gesicht der Mutter. Irgendwie hatte er es geschafft, das Ganze als die Tat eines Einbrechers hin zu stellen, denn niemand traute dem zwölfjährigen Jungen diese Tat zu, der total verstört und zusammen gekauert von den Nachbarn im Wandschrank seines Zimmers gefunden wurde. An jenem Tag hatte er begonnen, zurück zu schlagen, dem Leben das zurück zu zahlen, was es ihm bis dahin beschert hatte.

Und seit seinem fünfzehnten Lebensjahr auf der ständigen Flucht vor den Behörden – mit Unterbrechungen natürlich, denn die Flucht war nicht immer erfolgreich – war meistens nicht erfolgreich – war eigentlich fast nie erfolgreich gewesen. Sie hatten ihn immer wieder erwischt, genau wie ihn die Bilder im Kopf immer wieder einholten, vor denen er vergeblich zu fliehen suchte.

Er grinste zynisch und schlurfte weiter in Richtung der Tür, hinter der seine Qual nach achtundzwanzig Jahren ein Ende haben sollte. Bestie ... Bestie ... Bestie ... Die harten Absätze der Lederstiefel seiner Bewacher knallten auf den Linoleumboden. Knallten ... knallten ...

Knallten wie die Schüsse, mit denen er den alten Tankwart erledigt hatte, der unvernünftiger weise nach der Schrotflinte unter seiner Theke gegriffen hatte. Notwehr, na klar. Was muss der alte Sack auch nach der Kanone greifen. Sechzehn war er damals gewesen und er hatte siebenunddreißig Dollar, ein paar Stangen Zigaretten und vier Sixpacks Budweiser erbeutet. Mitten in der Wüste von Arizona war das gewesen. Die Waffe hatte er auf einer Brücke aus dem Fenster geworfen und man hatte ihm die Tat nie nachgewiesen. Aus Mangel an Beweisen ... er hatte dem Cop, der ihn festgenommen hatte, ins Gesicht gegrinst und war als freier Mann gegangen.

Er schlurfte, die Stiefel knallten, schlurfen, knallen, schlurfen ...

Das erste Mädchen ... da war er zweiundzwanzig ... es war in Nebraska gewesen, an einer Tankstelle. Die Kleine – er erfuhr später aus der Zeitung, dass ihr Name Anne-Marie Bowman gewesen war, zwölf Jahre alt – fuhr auf ihrem Fahrrad vor der Tankstelle herum, an der er seinen alten Buick auftankte. Es war ziemlich heiß und sie trug eine abgeschnittene Jeans, die wenig verbarg und ein bauchfreies Top. Er hatte fast sofort eine Erektion bekommen. Dunkle Locken, dunkle Augen ... er hatte sie in seinen Wagen gezerrt und in einer verlassenen Scheune hatte er sie genommen, ihre Schreie genossen, den Schmerz, als ihre kleinen Zähne in seine große Hand bissen, mit der er ihren Mund verschloss. Schrei nur, du kleine Schlampe ... du wolltest das doch, so, wie du angezogen bist und mit deinem kleinen Hintern auf dem Fahrrad herum wackelst. Hinterher hatte er nichts rechtes mehr mit ihr anfangen können ... da hatte er ihr mit einer rostigen Sichel, die in der Scheune lag, die Kehle durchgeschnitten, nebenbei, wie man einen Zahnstocher zerbricht.

Er schlurfte, die Stiefel knallten, schlurfen, knallen, schlurfen ...

Er hatte es mehr genossen, als er sich zunächst eingestehen wollte. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, wollte es wieder, dieses Gefühl der totalen Macht, das er nur gegenüber einem Kind empfinden konnte. Auf seiner Reise hinterließ er zwei weitere Mädchenleichen, diesmal neun und elf Jahre alt – Huren waren sie gewesen, alle und sie hatten es genossen, wenn er in sie eindrang, wenn ihr Blut über ihre Schenkel spritzte, sich dann mit seinem Sperma vermischte, wenn er kam und kam und ...

Er schlurfte, die Stiefel knallten, schlurfen, knallen, schlurfen ...

Da hatten sie ihn zum erstenmal Bestie genannt. Bestie ... Bestie ... Bestie.

Die vierte war dann eine zu viel gewesen. Lou-Anne Milbrett, neun Jahre alt. Eine Frau hatte ihn gesehen, als er blutverschmiert den Tatort verließ. Zwei Tage später hatten sie ihn dann in der Nähe von Columbus gefasst, irgendwelche Hinterwäldler aus Montana, die auf welchem Wege auch immer in Polizeiuniformen gerutscht waren. Aber zuschlagen konnten diese Typen, das hatte er schmerzhaft feststellen müssen. Grün und blau geschlagen mit einer Hodenprellung, zwei gebrochenen Rippen, einer klaffenden Platzwunde über dem rechten Auge und einer zerschlagenen Nase hatte er drei Tage auf einer harten Pritsche in einem Provinzgefängnis gelegen, bevor man ihn zur Verhandlung nach Billings gebracht hatte. Jede Nacht hatte er sie draußen gehört, sah sie förmlich vor sich mit ihren Chevy-Pickups auf der Ladefläche stehend, die Pumpgun drohend in der Faust. „Gib die Bestie raus, Sheriff!“ oder „Lass uns das Vieh aufhängen!“ mit whiskeyschwangerem Atem und sie schwangen die Schlinge mit dem dicken Knoten, mit dem sie so gern sein Genick gebrochen hätten. Das Vieh ... Vieh ... Vieh ...

Er schlurfte, die Stiefel knallten, schlurfen, knallen, schlurfen ...

Die Verhandlung war schnell gegangen, da er sich nicht verteidigte und alle Beweise eindeutig waren. Er war sich nicht so ganz darüber im klaren gewesen, ob er stolz darauf sein sollte, der erste Mensch seit dreiundzwanzig Jahren zu sein, der in Montana hingerichtet wurde, aber das war auch egal. Das war jetzt acht Monate her, in denen er in der grauen Zelle des grauen Gebäudes gesessen und auf den Tag gewartet hatte, an dem sie ihn abholen würden.

Er schlurfte, die Stiefel knallten, schlurfen, knallen, schlurfen ...

Stille.

Der breite Rücken des Indianers vor ihm kam zum Stillstand. Einen Moment nestelte Lalongue an seinem Hosenbund und schloss dann die graue Tür am Ende des grauen Ganges auf.

Lalongue ging hinein, drehte sich um und stellte sich neben der Tür auf, während seine beiden Kollegen den Gefangenen hinein führten.

Ein grauer Raum, in der Mitte ein grauer Stuhl, fast eher eine Pritsche. Nat wunderte sich regelrecht, dass der Mann, der neben der Pritsche stand, eine weißen und keinen grauen Kittel trug. Fast ein Stilbruch. Der Mann war Anfang fünfzig, hatte ein langgezogenes Pferdegesicht und trug eine Brille mit runden Gläsern. Er schaute dem Gefangenen mit ausdruckslosem Gesicht entgegen.

Er schlurfte, die Stiefel knallten, schlurfen, knallen, schlurfen ...

Dann stand er vor der Pritsche, sah sich erstmals im Raum um. An der rechten Wand gab es einen etwa drei Meter breiten Spiegel. Nat wusste, dass sich dahinter der Raum mit den Zeugen und jenen befand, die nicht verpassen wollten, wie er von dieser in die andere Welt hinüber befördert wurde. Genau gegenüber der Tür, durch die er mit seinen Bewachern herein gekommen war, befand sich eine weitere Tür, durch die jetzt zwei Männer in dunklen Anzügen den Raum betraten. Einer von ihnen hielt ein Papier in den Händen. Sie vermieden es, seinem Blick zu begegnen und bauten sich auf der anderen Seite der Pritsche auf.

Nat wurde von seinen beiden Bewachern auf der Pritsche fest geschnallt. Hände und Füße waren von starken Lederriemen fixiert und auch über die Stirn legte man einen Riemen, der die Beweglichkeit des Kopfes stark einschränkte.

„Nathaniel Victor Van George.“ Das war der Schwarze mit dem Zettel. Seinen vollen Namen hatte Nat außer bei der Gerichtsverhandlung schon ewig nicht mehr gehört. „Als Vertreter des Bundesstaates Montana und des Gouverneurs bin ich heute hier, um das über sie gesprochene ordentliche Urteil des Gerichtshofs von Billings, Montana, zu vollstrecken. Haben Sie noch etwas zu sagen?“ Eine Weile herrschte Ruhe. Dann spürte Nat, wie der Weißkittel begann, an der Pritsche zu hantieren. Ein kleiner Stich in der Beuge des linken Arms machte ihm klar, dass die Injektionsnadel an Ort und Stelle war.

Irgendwo würden jetzt drei Menschen an drei Flaschen drei Sperrhähne aufdrehen. Aus zweien würde Wasser in den Ausguss, aus der dritten das tödliche Gift in seinen Körper strömen. Die drei würden nie erfahren, wessen Flasche das Gift enthalten hatte.

Die graue Decke war das einzige, was er sehen konnte. Nach einer Weile begann es vor seinen Augen zu flimmern, glaubte er, Gesichter an der Decke zu sehen, bekannte Gesichter, die er aber trotz aller Anstrengung nicht so recht zuordnen konnte. Alles schien zu zerfließen in einer bleiernen Müdigkeit, die seinen Körper ergriff. Sein Gesichtsfeld schien sich einzuschränken, die graue Decke entfernte sich scheinbar von ihm. Das Grau wurde dunkler, schattierte zu schwarz. Schatten ... schwarz ... schwarz ... schwarz ... schw...

*

Als er erwachte, stand er in einem Bus ... stand in einem Bus !!??!! Er hatte schon immer bescheuerte Träume gehabt, aber das hier ... er stand neben dem Fahrer und schaute nach hinten durch den Mittelgang ... aber ... das war das größte ABER aller Zeiten!!! Er war doch tot! Die Giftinjektion in dem grauen Zimmer ... grau ... schwarz ... schwarz ...

Träumte man denn, wenn man schon tot war? Oder starb er gerade und das war sein letzter Traum? Das muss es sein!! Er schaute nach unten. Zwei Mädchen saßen in der ersten Reihe. Ihre Kleider waren zerrissen und blutbefleckt. Lou-Anne Milbrett!!! Und die andere Kleine, wie war noch gleich ihr Name? Sie hatte das Bewusstsein verloren, als er in sie eindrang, das hatte ihm den ganzen Spaß verdorben ... Melissa Meinert, das war ihr Name. Die klaffenden Wunden an den Hälsen der beiden Mädchen grinsten ihn an ... absurd ... er klatschte sich mit der Hand ins Gesicht ... wach auf ... wach endlich auf ... oder stirb ... gottverdammt!! Endlich sterben!! Wozu sollte das jetzt noch gut sein.

„Du musst leben!“ Das war Melissa. Ihre blonden Locken waren blutverschmiert. „Musst leben!“ Ihre schmalen Lippen bewegten sich kaum und ihre Stimme war klein und leise.

„Musst leben!“, drang es jetzt auch aus dem Mund von Lou-Anne.
„Haltet die Schnauze, ihr kleinen Nutten!“

Nat ging durch den Mittelgang. Die nächste Sitzreihe war leer ... dann schaute er in das Gesicht eines jungen Farbigen. Das musste der Kerl aus dem Schnapsladen sein, den er überfallen hatte. Der verdammte Nigger hatte ihn so beknackt angeschaut, dass er nicht anders konnte, als ihm den Schädel mit seinem Baseballschläger einzuschlagen. Er hatte so lange auf ihn eingeschlagen, bis nur noch eine breiige Masse vom Kopf des Jungen übrig war. Jetzt schaute dieser Junge ihn an.
„Du musst Leben, Mann!“, sagte er leise. „Musst leben!“
„Halt’s Maul, Nigger, sonst schlage ich dir noch mal den Schädel ein!“, fauchte Nat und ging weiter nach hinten.

„Musst leben!“, klang es aus den Mündern seiner Opfer wie ein schauriger Chor.

In der vorletzten Reihe saß der Alte von der Tankstelle. Sein blauer Overall war an der Brust blutgetränkt.
„Jaja, ich muss leben“, kam ihm Nat zuvor. „Warum musst du verdammter Idiot auch nach der Knarre greifen? Lohnt es sich, für die paar Bucks zu sterben? Du bist selbst Schuld, Alter!“
„Du musst leben!“, rezitierte der alte Mann unbeeindruckt und fiel damit in den Chor der anderen ein, der immer wiederkehrend durch den Bus klang.

In der letzten Reihe saßen Nats Eltern. Das Gesicht seiner Mutter hatte den gleichen Ausdruck, mit dem sie morgens seine Bettwäsche gewechselt hatte. Sein Vater schaute ihn ohne die geringste Reue an.
„Na, du alter Drecksack! Wie ist es ohne Eier?“, fuhr Nat ihn an. „Und du?“ Er wandte sich seiner Mutter zu. „Ihr seid an allem Schuld.“ Er flüsterte es fast. „An allem!“ Er drehte sich um, schaute nach vorn. „Hört ihr!“, schrie er. „Die sind es!“ Er deutete auf seine Eltern. „Die sind an allem Schuld!“

„Musst leben!“ Der Singsang des grausigen Chores ging weiter. Nat schaute durch die Fenster nach draußen. Außerhalb des Busses war nichts zu erkennen, nur dichter, grauer Nebel. Grau! Er kicherte. Schon wieder grau.

„Wann sterbe ich endlich?!“, rief er und drehte sich immer schneller.

„Musst leben! ... Musst leben!“
„Seid ruhig!“ Er stürmte durch den Mittelgang nach vorn. Der Fahrer war ein großgewachsener, hagerer Mann, der merkwürdigerweise nicht die Kluft eines Busfahrers trug, sondern einen langen dunklen Mantel und einen breitkrempigen schwarzen Hut. Eine riesige Hakennase sprang wie ein Schnabel aus seinem Gesicht und der schmallippige Mund grinste ihn an.
„Halten Sie!“, forderte Nat. „Ich will hier aussteigen, sofort!“
„Aber Nat! Sie können nicht aussteigen! Das ist unmöglich! Sie müssen leben! Leben!“ Er sah wieder nach vorn.

Nat schrie auf ... und erwachte!!!

Er befand sich in einem grauen Zimmer, lag in einem grauen Bett mit weißen Laken. Es war ein anderes Zimmer als das, in dem er hingerichtet worden war. Hingerichtet!?!? Aber wie ...? Der Traum ... der Bus ... musst leben ... musst leben !!

Er schrie, wollte sich aufrichten, aber er war am Bett festgeschnallt.

Vor dem Bett stand plötzlich ein kleiner Mann mit Halbglatze, Brille und Vollbart.

„Beruhigen Sie sich, Mr. Van George! Es ist alles in Ordnung!“

In Ordnung? Wie konnte alles in Ordnung sein? Er lebte!!
„Aber was ...?“
„Die Giftinjektion hat nicht gewirkt. Sie haben nur ein paar Stunden geschlafen, mehr nicht. Es ist uns immer noch ein Rätsel, denn die Dosis hätte auf jeden Fall ausreichen müssen.“

„Und ... und was geschieht jetzt?“
„Genau weiß ich das auch nicht, einen solchen Fall hatten wir noch nicht. Sie werden heute Nachmittag in Ihre Zelle zurück gebracht. Alles weitere wird an anderer Stelle entschieden.“

Ein paar Stunden später lag er wieder in seiner grauen Zelle und starrte gegen die graue Decke.

„Musst leben ... musst leben ... musst leben!“
Er hielt sich die Ohren zu, aber er konnte die Stimmen nicht aussperren, diesen Chor der Verdammten, die ihm den Frieden des Todes nicht gönnen wollten.

Als sie ihn eine Woche später erneut auf der Pritsche festschnallten und es mit einer höheren Dosis versuchten, kicherte Nat unentwegt vor sich hin.
„Ich kann nicht aussteigen, glaubt mir. Der Bus hält nicht an.“
Die Wärter schauten sich vielsagend an – aber auch diesmal wachte Nat nach einigen Stunden des Schlafes wieder auf.
„Muss leben“, murmelte er. „Muss leben ... der Bus!“ Er kicherte wieder.

Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt, sogar das FBI schickte einige Spezialisten, aber niemand konnte ergründen, warum das Gift bei Nat nicht wirkte.

Vier Monate später war die Kommission keinen Schritt weiter gekommen. Man beschloss, es diesmal mit „dem Stuhl“ zu versuchen. Dafür wurde Nat nach Boyze, Idaho, verlegt.

Als man ihm die Haube aufsetzte, stierten seine Augen ins Nichts und er murmelte ständig vor sich hin.
„Was sagt er?“, fragte einer der Wächter seinen Kollegen.
„Keine Ahnung, irgendwas von einem Bus der nicht anhält, was weiß ich. Der Typ ist doch total abgedreht. Weiß der Teufel, was die in Montana mit ihm gemacht haben. Die haben es ja nicht einmal geschafft, ihn hinzurichten. Wir werden denen jetzt mal zeigen, wie das geht!“ Er lachte hart.

Als der Schalter für die Stromzufuhr umgelegt wurde, flog die Hauptsicherung heraus und der ganze Stadtteil war für fünfzehn Minuten ohne Licht. Auch zwei weitere Versuche führten zu keinem Resultat.

Alle standen vor einem Rätsel. Wieder wurden Spezialisten eingeschaltet – ohne Ergebnis.

Schließlich – zwei Monate nach der letzten „Hinrichtung“ – wandelte der Gouverneur von Montana die Todesstrafe für Nat in eine Lebenslange Haftstrafe um – allein: Nat realisierte diese Nachricht nicht mehr. Er lebte in seiner eigenen Welt, in einem Bus, der immer weiter fuhr und niemals anhielt ...
 

Rainer

Mitglied
hallo amadis,

puh, du gehst ja rasant an die sache heran.
handwerklich finde ich deinen text in ordnung, aber inhaltlich habe ich einige persönliche anmerkungen.
du schreibst in deinem profil, dass du die leser unterhalten willst. diese art der unterhaltung sagt mir jedoch nicht zu.
du reißt alle stationen des lebens deines prot kurz an, und mußt natürlich auf grund der kürze die geschichte mit klischees überladen. auf alles fällt ein kurzes schlaglicht, aber das geschehen bleibt farblos.

die idee mit dem bus finde ich nicht schlecht, hier solltest du ausbauen; blut, schweiß und tränen sichtbar machen. vieles von dem was davor kommt, kannst du radikal kürzen. die ganze kindheitsgeschichte kann raus, die beschreibungen seiner taten kann raus. so wie du den jungen im schnapsladen in die geschichte bringst, können auch die anderen auftauchen. nicht zu jedem opfer eine detaillierte geschichte erzählen, beschreib sie über ihre wunden; den rest kannst du ruhig dem leser überlassen.

ein logik-fehler ist mir aufgefallen: das gift wirkt immer. es gibt keine möglichkeit für einen menschen, auf grund irgendwelcher mutationen, nicht auf zellgifte zu reagieren; diese greifen direkt in die zellatmung ein - absolut tödlich.

die ganze geschichte ist schwarz-weiß, aber das leben ist grau (für deinen prot) - das solltest du rüberbringen.

so, ich hoffe ich war nicht zu hart zu dir, aber von einer erzählung erwarte ich stimmigkeit und die möglichkeit, zwischen den zeilen lesen zu können. ich würde die geschichte an deiner stelle (wenn ich schreiben könnte) nochmal komplett neu fassen - ist aber alles nur meine persönliche meinung.

viele grüße

rainer
 

Amadis

Mitglied
hallo rainer,

danke für deine anmerkungen. hm, scheint mir irgendwie immer wieder zu gelingen, nicht an klischees vorbei zu kommen. klar werde ich die geschichte nochmal überarbeiten, ist gestern abend innerhalb von zwei stunden aus dem ärmel entstanden, als ich im fernsehen einen bericht über einen todeskandidaten in der todeszelle gesehen habe.

was den "logischen fehler" angeht, muss ich dir widersprechen: mir ist schon klar, dass dieses gift immer wirkt, deswegen auch die endlosen untersuchungen usw.. was ich herausstellen wollte, ist die tatsache, dass seine opfer wie auch immer sein dahinscheiden verhindern, also auch, dass er durch das gift stirbt. wenn ich mal wieder zeit und lust habe, werde ich die story überarbeiten. vielleicht äußern sich ja noch mehr leser, die ebenfalls verbesserungsvorschläge haben.

bis dann
gruß amadis
 
F

Franktireur

Gast
Mhm, das Mit dem Gift... nun, damit habe ich keine
Probleme, weil es rasch klar wird, daß seine Opfer
dafür sorgen, daß er einfach nicht sterben kann.
Da stellt sich die Frage der Logik nicht so sehr
in den Vordergrund.
Ich bin zwar kein Vefechter von "Schubladen" -
aber ich denke, daß dieser "Logikfehlergedanke"
wahrscheinlich gar nicht entstehen würde, wenn
die Erzählung sich im Horror-Forum befinden
würde - ich würde sie jedenfalls dort posten.

Wo ich Rainer auf jeden Fall recht gebe ist, daß
Du mit dem Bus gute Chancen hast, die Opfer und
die ganzen Vorgeschichten seiner Opfer, auch die
mit seiner Kindheit, dort einzuweben, was handwerklich
einfach besser wäre.
Aber mir ist aus Deinem Kommentar ja schon klar
geworden, daß es ohnehin eine Erstschrift ist.
Du gehörst also zu den Glücklichen, denen es recht
mühelos zu gelingen scheint, den Grundplot schon
einmal niederzuschreiben, bereits eine Struktur dabei
zu haben usw. - darauf kannst Du aufbauen, denn die
anschließenden Verbesserungsarbeiten fußen ja bereits
auf einem guten Fundament.

Die von Rainer angedeutete fehlende psychologische Tiefe...mhm... das ist natürlich ein Problem. Oder
anders formuliert, genau diese ist letztendlich der
Grund dafür, daß so viele Klischees vorkommen.
Aber auch das ist keine unlösbare Aufgabe, denn
immerhin verfügt Dein Protagonist ja bereits über
eine eigene Sprache, da ist es kein wirklich großer
Schritt mehr hin zu einem eigenen psychologischen
Profil, Du mußt es nur mehr herausarbeiten, und dann
ergibt sich manches fast wie von selbst, um die
Klischees abbauen zu können.

Und dann - dann wird es wirklich eine gute Story
sein. Es lohnt sich, was daran zu tun.

Ich hoffe, Dir ein bißchen geholfen zu haben mit meinen
Anmerkungen.

Ach ja, noch eine Anmerkung an Dich, Rainer:
In vielen Kommentaren von Dir - die übrigens
immer gut begründet sind - weist Du darauf hin,
daß es Deine Meinung ist. Das tust Du aber auch
bereits in Deiner Signatur. Warum das Doppelgemoppel?
Ich wage es kaum auszusprechen - aber es kommt mir
ein wenig so vor, als wolltest Du Dich immer noch ein
bißchen absichern... völlig überflüssigerweise.
Das hast Du gar nicht nötig. ;)
 

Rainer

Mitglied
hallo amadis und franktireur,

okay, das mit dem gift schnalle ich jetzt auch - wahrscheinlich habe ich oft probleme mit sog. horrortexten weil diese von mir verlangen, in der realität existierende kausalitäten zu negieren.

ich habe meinen gestrigen komm nochmals gelesen, und glaube, auch auf grund eurer antworten, dass ich mein anliegen falsch formuliert habe. deshalb ganz kurz und klar: die geschichte hat in meinen augen potential, da kann wirklich etwas richtig gutes draus werden.(zustimmung franktireur)

meine doppelt- und dreifachabsicherung: gelobe besserung; warte aber schon auf beleidigte antworten aus der ecke:
"wasn, sinn mei texschte net gut g`nug füre lupe?"
weil user oft nicht realisieren, dass ich zu 99,9 % als normaler leser kommentiere; moderationen werden stets als solche gekennzeichnet.


viele grüße an euch beide + ich freue mich schon auf eine überarbeitete fassung

rainer
 



 
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