Die Bibliothek

4,30 Stern(e) 14 Bewertungen

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Tag - grau und regnerisch, genau richtig für einen Besuch in der Bibliothek. Vorsichtig öffne ich die Tür und warte einen Moment, bis sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt haben. Die Luft riecht abgestanden.
Langsam gehe ich an den Regalen entlang, streiche mit den Fingern über die sepiabraunen Buchrücken, neige den Kopf und lese die einzelnen Titel: Das verlorene Kind. Der Tod des Vaters. Der Mann. Himmel auf Erden. Sehnsucht. Der Junge, der Klavier spielte. Das alte Fahrrad. Frühstück für immer.
Nach zehn Minuten ziehe ich die Tür leise zu.
Die ungeschriebenen Geschichten sind wieder allein.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Uff - ich mag Kurzprosa eigentlich gar nicht. Zu kurz eben. Doch es tauchen immer mal wieder kleine Perlen auf. Das hier ist so ein Exemplar.
Ich hasse im Zusammenhang mit der Beurteilung von Texten das inflationäre Wort "berührt" - und plötzlich fühle ich mich sogar berührt.
Damit möchte ich es gut sein lassen - keine Zeit. Ich muss sofort rüber in meine Bibliothek. Möchte mir wenigstens all die ungeschriebenen Geschichten in Erinnerung zu rufen.

Gruß Ralph
 

Paloma

Mitglied
Hallo Doc,

herzlichen Glückwunsch zum verdienten "bestbewerteten Prosa-Werk".
Bei meinem ersten Besuch hier fand ich das Textchen schon richtig gut, jetzt gefällt es mir noch viel besser. Die Ich-Perspektive steht ihm gut und auch der letzte Schliff ist sehr gelungen.

Liebe Grüße
Paloma
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Ich hatte ganz am Anfang deine erste Version gelesen. Gelesen ist gut - wohl mehr flüchtig durchgelesen und das Wort "ungelesen" völlig überlesen. Es war für mich ein Kurzprosawerk wie viele, ohne tiefere Aussage und nur mäßig nachdenklich stimmend.

Jetzt nachdem du diverse Vorschläge der Leser und Autoren hast einfließen lassen, habe ich es nochmals gelesen, wieder gelesen, nochmals gelesen, diesmal aber richtig gelesen und ich muss Ralph zustimmen, dass es jetzt wirklich eine Perle ist, die berührt.

Wieder mal ein Beispiel dafür, dass man mit wenigen Worten mehr erreichen kann, als es ganze Romane vermögen.

Mein Kompliment ... der Ironbiber
 

anbas

Mitglied
Hallo Doc,

als ich diesen Text zum ersten Mal las, habe ich ihn mehr überflogen. Er reizte mich nicht. Ich hätte ihn vielleicht mit 5 bewertet. Jetzt ist es ein richtig guter Text geworden, der zu Recht in der Bestenliste gelandet ist. Glückwunsch dazu.

Liebe Grüße

Andreas
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
@all: Vielen Dank, bin ganz geplättet. Der Text spukte schon ewig im Kopf herum, gelangte aber erst während des Staubsaugens ans Licht. (Ja, auch das gibt es!)

Wir sind hier bei der LESElupe. Irgendwie scheint das passend zu sein, denn nur echtes Lesen bringt Vorteile.
:)

Und manchmal ist ein Briefbeschwerer ein Diamant, aber erst beim zweiten Hinsehen.

LG Doc
 
E

eisblume

Gast
So gefällt mir das jetzt auch sehr gut ;)

wünsch dir einen schönen Tag
eisblume
 

fraulange

Mitglied
Hallo DocSchneider, hallo zusammen, will mich nur kurz anschließen und bin mal wieder erstaunt, dass so kleine Änderungen oder Auslassungen so viel bewirken. Ich bin normalerweise kein Fan des Präsens, und doch - was für ein hilfreicher Tipp! Hilfreich und mit Hand und Fuß wie überhaupt vieles hier. Glückwunsch zum "Bestenplatz"!
 

Charmaine

Mitglied
Hallo Doc,

auch mir gefällt deine kleine Geschichte ausgesprochen gut. In wenigen Worten hast du ein Lebensgefühl eindringlich beschrieben.

Liebe Grüße
Charmaine
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
@Eisblume, Fraulange, Charmaine: Danke für Eure freundlichen Kommentare und das Lob. Ich freue mich, dass der Text es jetzt irgendwie geschafft hat. :)

Eine Anmerkung noch zu Ironbiber. Du schreibst:

Es war für mich ein Kurzprosawerk wie viele, ohne tiefere Aussage und nur mäßig nachdenklich stimmend.
Ich behaupte mal frech, dass das auf meine bisherigen Kurzprosawerke nicht zutrifft. Lies mal nach!

LG an alle, Doc
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Neiiiiiiiiiin!

Liebe Frau Doktor,

zu tiefst betrübt muss ich erkennen, dass du einer Fehlinterpretation erlegen bist.

Mit dem "Kurzprosawerk wie viele" meinte ich die Summe der eingestellten Beiträge [blue]aller[/blue] Autoren.

Ich hoffe, der Klarheit somit einen Dienst erwiesen zuhaben, beglückwünsche dich erneut zu diesem kleinen Diamanten und verbleibe

freundlich grüßend ... der Ironbiber
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Lieber Biber, ich habe Dich schon richtig verstanden, nur wenn Du so etwas unter mein Werk schreibst, solltest Du eigentlich wissen: Wenn DS Kurzprosa schreibt, wird sie erst dann veröffentlicht, wenn sie Hand und Fuß und einen tieferen Sinn hat. Das trifft auf alle meine Werke in diesem Forum zu.

Du brauchst aber nicht betrübt zu sein, ich bin es auch nicht.:)

Viel Spaß jedem in seiner Bibliothek ...

Doc
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Es war für mich ein Kurzprosawerk wie viele, ohne tiefere Aussage und nur mäßig nachdenklich stimmend.
Mit dem "Kurzprosawerk wie viele" meinte ich die Summe der eingestellten Beiträge aller Autoren.
Na, das sind doch mal richtig aufbauende Worte für alle Kurzprosaschreiber ...

Sorry für OT, Doc!

Ciconia
 

ThomasStefan

Mitglied
Hallo Doc
Glückwunsch zu diesem Schmuckstück der Kurzprosa.
Erst habe ich überlegt, dass diese Bücher ja gar nicht existieren, außer ihrem Titel, sie also leere Seiten beinhalten müssten. Stimmt nicht. Dise Storys gehen einem immer im Kopf herum, sie sind fertig, nur werden sie, warum auch immer, nicht real aufgeschrieben. Also: Hier passt alles.
Grüße, Tom
 

James Blond

Mitglied
Hallöle allerseits!

Ich habe ja nun den bedauernswerten Nachteil und zugleich den beneidenswerten Vorteil, Deine Geschichte erst spät und in einer recht vollendeten Fassung vorzufinden. Noch dazu wurde ich über eine schlechte Parodie hierher geführt, die mich nichts Gutes erwarten ließ.

Daher ist der positive Überraschungseffekt natürlich umso größer!
Vom Stil erinnert mich der spartanische Text an die bekannten Brechtschen Kurzgeschichten, in denen Herr K(euner) den Lese- und Lernstoff für die Deutschstunde lieferte. Stets lag ihr ein Widerspruch zugrunde, den es aufzulösen galt, natürlich dialektisch.
Zugegeben: Erst beim zweiten Lesen stolperte ich über den letzten Satz: "Die ungeschriebenen Geschichten sind wieder allein."

Um eine "normale" Bibliothek kann es sich demnach nicht handeln, und nachdem ich die Buchtitel noch einmal durchgegangen bin, wurde mir klar: In dieser Biblikothek stehen die ungeschriebenen Episoden des eigenen Lebens, darunter Klassiker wie "Das verlorene Kind" und "Sehnsucht", aber auch Seltsames und noch Unentdecktes. :)

Verständlich, dass der Autor nach zehn Minuten Aufenthalt die Nase voll hat. Der Mensch lebt in der Gegenwart und entwirft sich auf die Zukunft hin, wer zuviel im alten Mulsch stochert, dem stinkt's irgendwann gewaltig. Das ist höchstens etwas für Schriftsteller! :)

Aber immerhin beruhigend, wenn das alte Zeugs bereits hübsch sortiert wie aus dem Antiquariat erscheint.Fein in Buchrücken gefasst und mit schönen Titeln versehen, das hat schon was. Wenn ich dagegen an meine eigenen umgekippten Stapel vergilbter und verdreckter Zettel denke, die höchstens zu "Zettels Albtraum" reichten, kann ich trotz der vielen leeren Seiten ob Deiner Bibliothek schon neidisch werden.

LG JB
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo JB, eine Zettelbibliothek ist auch eine. Und natürlich sind die Seiten der Bücher nicht leer, sondern vollgeschrieben. Im Geiste.
Das Geschriebene sieht aber nur der Schriftsteller selbst.
:)

Viel Spaß mit der Zettelwirtschaft,

und lg, Doc
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Wie oben beireits von James Blod angemerkt, lese auch ich natürlich einen reichlich überarbeiteten Text, den ich nun auch bewerte. Aber warum nicht, schließlich stellen wir die Texte ja hier ein, um sie bei Bedarf zu verbessern. ;)

Ich habe den Text sehr gern gelesen. Ich war für Momente weg, in der Bibliothek, in dieser Stille, und bin mit dem LyrIch die Regale abgegangen. Eine tolle Atmosphäre, die du da mit den paar Worten gezaubert hast. Und dann ... ein passender Schluss, man hört beinahe, wie das LyrIch leise die Tür zuzieht ...

LG
BeBa
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Cellist, vielen Dank für den positiven Kommentar - allerdings ist der Text nicht so furchtbar - oder fruchtbar - überarbeitet, dass er vom Original total abweichend wäre.

Viel Freude in der hauseigenen Bibliothek wünscht

Doc
 



 
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