Die Entscheidung (Version2) – Teil1

jon

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Die Entscheidung


Prolog - Zwei Jahre vor dem Tag X

Sein Blick traf sie, tief und brennend. Sie stand inmitten der Menge und konnte es nicht fassen. Er hatte sie angesehen. Hatte sie gesehen, nicht nur so mal von der Bühne heruntergeblickt. Man hätte denken können, er hätte sie erkannt, dabei kannte er sie doch gar nicht. Trotzdem fühlte sich das Band, das Carola seit dem ersten Video spürte, plötzlich sehr real an. Die Blonde vor ihr hatte diesen ganz besonderen Blick auch bemerkt, hatte sich fragend zu ihr umgedreht. Carola hatte die Frage ignoriert, es war ja auch egal, warum es passiert war. Es war passiert: Thomas Bern hatte ihr zugelächelt …



24 Jahre und 9 Monate vor dem Tag X

Der Oktober war warm, ein letztes Aufbäumen des Sommers. Die Sonne brannte noch, doch wenn man durch den Schatten musste, war es kalt. Sehr kalt. Die Frau, in deren Ausweis der Name Johanna Johnson stand, war froh, bald hier weg zu können. Nicht wegen des Herbstes, sie liebte den Herbst. Es war das Land. In dem sie geboren worden war. Heute.
[ 3]Heute.
[ 3]Der Tag, an dem alles passieren konnte.
[ 3]Wie jeden Tag – nach 30 000 Jahren Leben hielt Johanna Johnson nichts mehr für absolut unmöglich. Das wäre auch viel verlangt gewesen von jemandem, der etwas Unmögliches erlebt hatte. Der in ein Zeitloch gefallen war und seitdem immer wieder in Zeitlöcher fiel. Wieder und wieder und wieder. Mal ein paar Tage zurück, mal ein paar hundert Jahre. Oder mehr. Und der in all der Zeit nicht alterte. Dessen Wunden sich schneller schlossen, als bei einem gesunden Menschen möglich, und dessen Körper Krankheiten heilte, die als unheilbar galten. Der unsterblich war.
[ 3]Vielleicht.
[ 3]Vielleicht endete das heute. Vielleicht setzte die Zeit jetzt wieder ein. Vielleicht starb Johanna noch vor diesem Abend, weil die Natur keinen Menschen doppelt duldete. Johanna hielt das für möglich. Sie hielt alles für möglich …
[ 3]Die Sonne gleißte auf dem hellen Granitpflaster der Straße. Es lag kaum Laub auf dem Boden, die alten Bäume hielten es hartnäckig fest, obwohl es schon längst gelb war. So warfen ihre Kronen tiefdunkle Schatten auf die wenigen Fahrzeuge und Passanten, die es an diesem Sonntagmittag verblüffend eilig hatten.
[ 3]Johanna hörte eine Straßenbahn heranrumpeln und tauchte aus ihren Grübeleien auf. Sie sah der Bahn entgegen. Dann streifte ihr Blick die Schatten auf der anderen Straßenseite und verfing sich an einer Bewegung darin. Ein Kind. Es spielte mit einem Ball. Die Selbstvergessenheit, mit der es ihn immer wieder hochwarf und auffing, hatte etwas Hypnotisches.
[ 3] Ein tiefbassiges Motorengeräusch lenkte Johanna ab. Für den Bruchteil einer Sekunde wandte sie den Blick von dem Kind fort, sah im Augenwinkel, dass der Rhythmus des Ballspiels abbrach, schaute wieder hin. Der Ball rollte auf die Straße, das Kind lief ihm nach. Instinktiv trat Johanna einen Schritt vor, auf das Kind zu, es zu retten. Kreischend bremste die Bahn, Johanna sah das Entsetzen im Gesicht des Fahrers. Dann ein Schaben von Metall auf Metall, ein Stoß, Johanna fiel.
[ 3]Ein Schmerz schoss durch ihren Fuß und ließ sie aufstöhnen. Sekundenlang nahm sie nichts anders wahr. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, blind tastete sie das Gelenk ab, um zu prüfen, ob es gebrochen war.
[ 3]„Diese Rowdys!“, hörte sie einen Mann empört sagen.
[ 3]Jemand legte ihr die Hand auf den Arm. „Alles in Ordnung?“
[ 3]„Klar!“, zischte sie. „Ich hocke hier, weil 's so schön ist!“
[ 3]„Also sowas gab 's zu meiner Zeit nicht!“, moserte der Mann.
[ 3]Johanna spürte die Hand heiß durch den Jackenstoff hindurch.
[ 3]„Kann ich Ihnen helfen?“ Es klang sehr besorgt.
[ 3]Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Es geht schon. Nur verstaucht.“ Sie probierte ein beruhigendes Lächeln und schaute auf.
[ 3]Sein Blick traf sie.
[ 3]Sie stürzte in die Tiefe des Schwarz' und verlor sich.
[ 3]Thomas.
[ 3]Eine Ewigkeit lang.
[ 3]„… den jungen Kerls solche Mordmaschinen nicht geben!“, keifte der Mann.
[ 3]Johanna drehte sich um. Der Mann war um die 50 Jahre alt, trug feinen Zwirn und eine Aktentasche unterm Arm.
[ 3]„Wir haben in unserer Jugend niemanden umgebracht!“, keifte er.
[ 3]„Stimmt“, sagte Johanna. „Niemand aus Ihrer Generation hat im Krieg auch nur daran gedacht, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Oder irgendeine andere Mordmaschine.“
[ 3]Im Hintergrund lachte jemand kurz auf. Der Herr im Zwirn warf den Kopf in den Nacken und stakte davon. Dabei stieß er mit dem Kind zusammen, das – den Ball ab und zu hochwerfend – halb neugierig, halb gelangweilt das Geschehen verfolgte. Der Herr scheuchte es mit einer Handbewegung fort.
[ 3]Eine Schmerzwelle brandete Johannas Bein herauf. Sie zog scharf die Luft ein.
[ 3]„Was kann ich tun?“, fragte Tom.
[ 3]Sie lächelte ihm zu. „Nichts. Geht schon. Der Fuß ist nur verstaucht.“
[ 3]Es beruhigte ihn nicht. „Ich sollte Sie nach Hause bringen“, sagte er. „Oder zu einem Arzt.“
[ 3]„Nach Hause ist ok.“ Sie versuchte aufzustehen.
[ 3]Tom stützte sie. Sie bemerkte, dass er starke Arme hatte, und fand das kitschig.
[ 3]„Ist ok“, sagte Johanna und versuchte, sich aus Toms Griff zu lösen.
[ 3]Er gab sie frei, bereit, beim kleinsten Zeichen eines Wanken erneut zuzufassen.
[ 3]Während Johanna nach sicherem Stand suchte, betrachtete sie ihn. Er war es, kein Zweifel. Die Augen, die Stimme, die Haltung. Er war nur so jung, so unglaublich jung! Jünger als auf den Aufnahmen aus dieser Zeit, die Johanna in ihrer Sammlung gehabt hatte. Damals, vor der Reise.
[ 3]Die Straßenbahn fuhr an und jetzt sah Johanna ein Motorrad am Straßenrand liegen. „Ist das deins?"
[ 3]„Ja.“ Er ging hin und hob die Maschine auf.
[ 3],Die muss nagelneu sein', dachte sie und sagte: „Hoffentlich ist nichts kaputt.“
[ 3]Er sah das Motorrad kurz an. Am Spiegel blieb sein Blick etwas länger hängen. „Wie es aussieht, ist es nichts Schlimmes.“ Er schob die Maschine näher, startete sie. Dann sah er auffordernd zu Johanna.
[ 3]Sie verstand nicht. „Was ist?“
[ 3]„Ich soll Sie doch nach Hause bringen.“
[ 3]Johanna zögerte. Auf dem Motorrad? Mit ihm? Der Gedanke, ihm so nah zu sein, machte ihr Angst. ,Oh Mann!', schalt sie sich. ,Du hast Schlimmeres unter Kontrolle gehabt. Und er ist noch fast ein Kind!' Sie überschlug es kurz: ,Er ist 18. Na gut, Kind ist da wohl doch übertrieben.' Seltsamerweise gewann sie mit dieser Überlegung ihre Ruhe zurück. „Ok“, sagt sie. „Aber nicht rasen!“
[ 3]„Versprochen!“ Er schob die Maschine etwas näher, damit sie aufsteigen konnte
[ 3]Es war schwieriger, als sie vermutet hatte, eine Position auf dem Rücksitz zu finden, in der sie Halt hatte, der verstauchte Fuß aber nicht zu sehr schmerzte. Es ließ sich nicht vermeiden, dafür die Arme um Thomas zu legen. Er wartete geduldig, bis sie sich zurecht gerückt hatte, und fuhr dann behutsam los.

Er fuhr spürbar vorsichtig, so brauchten sie fast eine Viertelstunde bis zu Jos gegenwärtigem Zuhause. Als er anhielt, war sie noch immer damit beschäftigt, die Erinnerungen, die seine Nähe in ihr aufsteigen ließ, zu verdrängen. All die Stunden, die sie seiner Musik gelauscht hatte, die Konzerte, die Bilder, die sie sich aus den spärlichen Informationen zusammensetzte.
[ 3]„Alles in Ordnung?“, fragte er nach hinten.
[ 3]Sie schrak auf. „Ja. Ja, klar.“ Sie stieg ab. Eine unbedachte Bewegung jagte eine Schmerzwelle durch ihren Fuß und das Bein hinauf. Beinahe wäre sie gestürzt, sie konnte sich gerade noch an Tom festhalten. Dann stand sie sicher.
[ 3]„Danke fürs Bringen“, sagte sie.
[ 3]Tom schaltete den Motor aus, stieg vom Motorrad und hievte es auf den Fußweg. Dort bockte er es auf.
[ 3]Johanna runzelte die Stirn.
[ 3]„Ich bring Sie noch bis in die Wohnung“, sagte Tom.
[ 3]„Nicht nötig“, behauptete sie und machte einen Schritt Richtung Hauseingang. Natürlich tat es weh und sie zuckte zusammen.
[ 3]Sofort war er bei ihr, stützte sie. So brachte er sie zum Eingang und half ihr die Stufen zur kleinen Dachwohnung hinauf. Erneut wurde ihr bewusst, dass er um einiges stärker war, als seine Statur vermuten ließ. Sie hatte nicht gewusst, dass er so früh schon Krafttraining betrieben hatte. Vielleicht tat er es ja auch gar nicht, aber Jo wurde das Bild seiner muskulösen Arme einfach nicht los.
[ 3]Oben angekommen war Jo außer Atem. Das hatte - sie wusste es - nicht nur mit dem Aufstieg zu tun. Sie ärgerte sich darüber.
[ 3]„Danke“, sagte sie und schloss die Tür auf.
[ 3]Er wartete.
[ 3]„Ist noch was?“
[ 3]„Vielleicht sollte ich Sie noch reinbringen.“
[ 3]„Ja. Aber vielleicht auch nicht!“
[ 3]Er schwieg irrtiert.
[ 3]Sie schalt sich kindisch. Das dachte Tom jetzt bestimmt nicht. Nicht bei ihr. ,Reiß dich zusammen! Er ist 18, für den bist du uralt! Und außerdem bist du sowieso nicht sein Typ …'
[ 3]„Ich heiße Thomas.“
[ 3],Ich weiß', lag ihr auf der Zunge. Sie schluckte es herunter. Sie reicht ihm die Hand „Johanna. Johanna Johnson.“
[ 3]Sein Händedruck war kräftig aber nicht hart. Sie konnte ihn im ganzen Körper spüren.
[ 3]„Ich schau morgen nach Ihnen. Falls Sie etwas brauchen …“
[ 3]Sie fühlte, wie sich ihr Inneres sträubte. „Nicht nötig. Ich komme schon klar.“
[ 3]„Ich tu es gern. Immerhin habe ich Sie angefahren.“
[ 3]„Es ist nicht nötig“, wiederholte sie lauter als beabsichtigt. Und warum auch nicht! Sie hatte weiß Gott noch eine Menge zu tun, bevor sie nach New York ging! Sie konnte einen Thomas Bern jetzt überhaupt nicht gebrauchen! Nicht mal, wenn sie nichts zu tun gehabt hätte!
[ 3]Er nickte andeutungsweise. Sein Mund war hart gespannt.
[ 3]Es traf sie, ihn jetzt schon so zu sehen. „Tut mir leid. Ich wollte nicht laut werden. Ich bin nur … Ich habe viel zu tun.“
[ 3]„Ich kann Ihnen helfen.“
[ 3]Sie schüttelte den Kopf. Energischer als nötig gewesen wäre.
[ 3]„Aber Sie können nicht laufen …“
[ 3]„Es …“ Sie stockte. Es war unlogisch, sich so zu sperren, was konnte denn schon passieren. Sie seufzte theatralisch. „Du gibst nicht auf, was?“
[ 3]„Nie“, sagte er und lächelte.
[ 3],Ich weiß', dachte sie und versuchte, das Lächeln nicht in sich hinein zu lassen. „Na dann bis morgen, Tom.“
[ 3]„Bis morgen! … Jo.“

12 Jahre nach dem Tag X

Sie hasste Botengänge zu Kunden, mit denen sie eigentlich nichts zu tun hatte. Nicht immer verstanden die Leute, dass sie zwar zur Firma gehörte, aber deshalb nicht zwangsläufig Antwort auf alle Fragen geben konnte. Hoffentlich war der Chef der Clubs nicht da und sie konnte die Entwürfe einem Mitarbeiter in die Hand drücken.
[ 3]Mit diesen Gedanken öffnete Carola schwungvoll die Eingangstür und stockte. Das kleine Foyer war proppevoll mit Leuten in Jeans und Shirts und Lederjacken. Überall prangten Thomas-Bern-Embleme sowie Bildchen und Sticker, die sich auf Bern-Alben bezogen. Fans, eindeutig. Carola fühlte sich angenehm überrumpelt und merkte, dass sie lächelte.
[ 3]Eine Frau mit langen blonden, scheinbar kaltgewellten Haaren drehte sich zu Carola um.
[ 3]Sie nickte ihr instinktiv zu.
[ 3]„Hallo“, sagte die Frau und reichte ihr die Hand. „Du bist bestimmt Svenja. Ich bin Margitt.“
[ 3]„Hallo. Nein. Ich heiße Carola.“
[ 3]„Ach so. Ich dachte du bist die Neue. Zu welchem Club gehörst du?“
[ 3]„Zu keinem. Ich bin eigentlich dienstlich hier. Aber…“, beeilte sie sich hinzuzusetzen, “ … ich bin auch Bern-Fan.“
[ 3]Margitt lachte. „Na da haste ja Glück! Wir treffen uns heute hier mit Tom, kannst ja mit da bleiben.“
[ 3]Carola zögerte. Sie wollte Tom nicht treffen.
[ 3]„Ist wirklich kein Problem“, sagte Margitt, Carolas Reaktion offenkundig missdeutend. „Einer mehr oder weniger, das geht schon.“
[ 3]„Naja, ich … ich bin eigentlich dienstlich hier. Ich muss zum Chef des Hauses.“
[ 3]„Ach so. Na dann. Kannst es dir ja noch überlegen, wenn dann noch Zeit ist.“
[ 3]Carola nickte. „Ja. Danke. Mal sehen.“
[ 3]Die Menge begann, irgendwohin zu strömen, wahrscheinlich in den Gastraum des Clubs. Margitt schloss sich an. Am Rande des Foyers blieb ein schlaksiger junger Mann zurück. Er trug einen schlecht sitzenden Anzug und war offenbar kein Fan. Carola ging zu ihm.
[ 3]„Entschuldigen Sie“, sprach sie ihn an. „Ich soll hier den Proof für das Programmheft abgeben.“
[ 3]„Den was?“
[ 3]„Das Farbmuster.“ Sie hielt ihm den Umschlag hin.
[ 3]Er ignorierte ihn. „Ach so. Erwin ist im Büro.“
[ 3]„Und wo ist das?“
[ 3]Er machte eine Kopfbewegung nach rechts. „Hinten.“
[ 3]Carola erkannte im Schatten eine Tür. „Danke.“ Sie ging hinüber. Sie wollte gerade klopfen, als die Tür aufging. Eine junge Frau trat heraus und sah Carola ungnädig an.
[ 3]„Ich wollte was abgeben …“
[ 3]Die Frau ging einen Schritt zur Seite. „Ganz hinten links.“ Dann ließ sie Carola stehen.
[ 3]Carola betrat den Gang, folgte ihm und klopfte ganz hinten links an die Tür. Ein Mann öffnete.
[ 3]„Guten Tag. Ich wollte den Proof …“
[ 3]„Gut!“ Er nahm ihr den Umschlag aus der Hand und öffnete ihn. Er nahm das Muster heraus und blätterte kurz durch. „Schön.“
[ 3]„Ok. Es wäre schön, wenn Sie morgen Bescheid geben könnten, ob das so in Ordnung geht.“
[ 3]Er nickte. „Ich rufe an.“
[ 3]„Ok. Dann auf Wiedersehen.“
[ 3]„Wiedersehen.“ Er trat zurück ins Zimmer und schloss die Tür.
[ 3]Carola atmete innerlich auf und ging Richtung Foyer. Dort stieß sie beinahe mit dem schlaksigen jungen Mann zusammen. Als der in dem Gang verschwunden war, überlegte Carola einen Moment lang, ob sie in den Gastraum gehen sollte. Tom zu sehen lockte. In seiner Nähe zu sein. Sie erinnerte sich an seine Nähe und die Intensität dieses Gefühls erschreckte sie. Es war Jahre her. Jahrzehnte. Ein Leben. So fern, dass es schon nicht mehr wahr war. Was also konnte schon passieren? Nun: Er konnte sie erkennen …


24 Jahre und 9 Monate vor dem Tag X

Thomas kam am nächsten Tag wieder. Und am übernächsten Tag. Und am Tag danach und am Tag danach und …
[ 3]„Ich weiß nicht, ob du 's schon gemerkt hast, aber ich kann wieder selbst einkaufen gehen.“
[ 3]„Ich helfe gern“, sagte Thomas und packte Milch und Brot weg. „Ich habe frischen Kaffee mitgebracht, soll ich welchen machen?“
[ 3]„Und ich kann auch selbst kochen.“ Sie ging zu ihm in die Küchenecke und machte eine scheuchende Handbewegung.
[ 3]Er trollte sich in den Wohnbereich, ließ sich auf die alte Couch fallen. Er griff nach der Gitarre und begann, darauf herumzuklimpern.
[ 3]Johanna setzte Wasser auf und mahlte den Kaffee. Dabei sah sie Tom beim Spielen zu. Kaffeeduft breitete sich aus.
[ 3]Er sah auf. „Jo?“
[ 3]„Mhm?“
[ 3]„Dein Name … Du bist keine Deutsche, oder?“
[ 3]„Nein.“ Nicht in diesem Leben. „Amerikanerin.“
[ 3]„Dein Deutsch ist perfekt.“
[ 3]„Danke.“
[ 3]„Wieso?“
[ 3]„Was wieso?"
[ 3]„Woher kannst du so gut Deutsch?"
[ 3]„ … Das ist 'ne lange Geschichte.“
[ 3]„Ich habe Zeit.“
[ 3]„Eine sehr lange Geschichte.“ Sie wandte sich ab, um nachzusehen, ob das Wasser schon kochte.
[ 3]„Du redest nicht gern über dich“, stellte er fest. Er hatte aufgehört zu spielen.
[ 3]Sie drehte sich um. Er hatte sich auf die Gitarre gestützt und beobachtete sie.
[ 3]„Nein. Tu ich nicht.“
[ 3]„Warum?“
[ 3]„Warum nicht? - Hör zu!“ Sie stellte die Kaffeemühle ab und setzte sich Tom gegenüber auf den hochlehnigen Stuhl. „Das hier“, sie machte eine das Zimmer umfassende Handbewegung, „ist nur eine Zwischenstation. Ich war vor ein paar Wochen in den Staaten und ich werde bald wieder dorthin fliegen. Inzwischen …“
[ 3]„Wann?“
[ 3]„Was?“
[ 3]„Wann wirst du abreisen?“
[ 3]„Wenn … Wofür ist das wichtig?“
[ 3]„Ich wüsste nur gern, wie lange ich Zeit habe, dich zum Bleiben zu bewegen.“
[ 3]Johanna erstarrte.
[ 3]„Habe ich was Unangebrachtes gesagt?“
[ 3]„Nein, du … Wie um Himmels Willen kommst du darauf?“
[ 3]„Ich mag dich.“
[ 3]„Ich bin …“, sie musste kurz überlegen, „… 23!“
[ 3]Er schnaufte. „… verstehe.“
[ 3]„Tom, ich …“ Sie stand auf und ging in die Küchenecke, schaute in den Wassertopf. Als sie sich gefasst hatte, ging sie wieder zu ihm. „Tom.“
[ 3]Er sah auf.
[ 3]Sie fiel in die Schwärze, diese traurige Tiefe. Es tat weh. „Tom, du bist wirklich nett, aber du bist 18 und …“
[ 3]„… du ziehst ältere Männer vor. Ich versteh schon.“
[ 3]Sie holte tief Luft. „Darum geht es nicht! Selbst wenn es stimmen würde, es hat damit gar nichts zu tun. Du bist … Das würde nicht funktionieren, verstehst du?“
[ 3]„Nein. Warum würde es nicht – wie sagtest du? – funktionieren?“
[ 3]„Weil …“ Sie suchte nach Worten. „Ich bin nicht … nicht das, was man einen passenden Umgang nennen würde. Du würdest … nur Probleme kriegen, wenn du dich weiter mit mir abgibst. Du kennst mich nicht, weißt nichts von mir.“
[ 3]„Das kann man ändern. Ich möchte es gern ändern. Immerhin weiß ich, dass du anders bist als die andern Mädchen.“
[ 3]Ohne darüber nachzudenken sagte sie: „Das liegt daran, dass Mädchen nicht ganz die passende Bezeichnung für mich ist.“
[ 3]Er stutzte, dann grinste er.
[ 3]Sie wurde davon überrollt und brauchte einen Augenblick, es zu deuten. „Das meine ich nicht! Ich …“ , … würde dir nicht gut tun', wollte sie sagen und begriff im selben Moment, dass sie eigentlich ,es würde mir nicht gut tun' meinte. Sie würde sich in ihm verlieren, ihr Leben um seine Wünsche ranken, um sein Wohlfühlen. Und würde ausbrennen dabei, bis nichts mehr da war, was ihn hätte interessieren können.
[ 3]„Entschuldige“, bat er und nahm ihre Hand in seine. Sie war warm und sanft. „Ich wollte dich nicht verletzten. Es ist richtig, ich weiß nichts von dir. Ich weiß nicht, warum du nie etwas über dich erzählst, aber das ist mir auch nicht wichtig. Ich bin gern mit dir zusammen. Bei dir habe ich das Gefühl, dass ich … etwas Besonderes bin. Ich weiß, das ist egoistisch. Aber es ist ein sehr schönes Gefühl.“
[ 3]Ihre Kehle schnürte sich zu.
[ 3]Er lächelte. „Ich habe gestern ein Lied darüber gemacht, willst du es hören?“
[ 3]Sie nickte. „Mhm.“


12 Jahre nach dem Tag X

Carola zögerte noch immer. Es war extrem unwahrscheinlich, dass Tom sie erkannte. Vielleicht würde er eine deutliche Ähnlichkeit feststellen, aber auf die Idee, dass Johanna heute noch so aussehen könnte wie damals, würde er nicht kommen. Wenn ihm überhaupt etwas auffiel. In Wirklichkeit war Jo doch nur eine kurze Episode in seinem Leben gewesen, so kurz, dass er wahrscheinlich kaum noch detailierte Erinnerungen daran hatte …
[ 3]Obwohl Carola wusste, dass diese letzte Überlegung pures Wunschdenken war, betrat sie das, was sie für den Gastraum gehalten hatte. Er war klein, am Rand standen ein paar Stühle und beiseite gerückte Bistrotische, in einer Ecke gab es einen Tresen. Er war kahl.
[ 3]Carola blieb hinten, an der Tür stehen. Margitt war ziemlich weit vorn, dort, wo in der Nähe einer zweiten Tür ein Tischchen stand. Die beiden Frauen nickten einander lächelnd zu.
[ 3]Und dann kam er.
[ 3]Er kam vom Foyer her, ging an Carola vorbei, ohne sie zu sehen, schüttelte Hände, erwiderte Begrüßungworte. Er wirkte sehr gelöst, so als hätte er alle Zeit der Welt für seine Fans. Die strömte ihm entgegen, so dass er rasch mitten in einem Pulk eingekeilt war. Es schien ihm nichts auszumachen. Er lächelte, als wäre er nach Jahren zu guten Freunden zurückgekehrt. Es war wunderbar, ihn so zufrieden zu sehen.


24 Jahre, 9 Monate vor dem Tag X

Johannas Leben in diesen Tagen war zwiegespalten. Wenn Tom in der Berufsschule oder arbeiten war, zu Hause zu tun hatte oder mit seiner Band probte, kümmerte sich Jo um die Vorbereitungen für New York. Sie aktivierte Kontakte, schichtete Geld um, suchte nach einer Wohnung. Obwohl sie diesmal keine zusätzlichen Probleme durch ihre neue Identität hatte, ging es nur schleppend voran. Vor Ort wäre vieles leichter gewesen.
[ 3]An den Nachmittagen traf sie sich mit Thomas. Sie gingen in Cafés und plauderten, sie fuhren mit dem Motorrad durch die Gegend oder bummelten durch die Stadt. Manchmal streifte seine Hand wie zufällig die ihre oder er legte im Lachen den Arm um sie. Es sah aus wie eine Freundschaft.
[ 3]Johanna tat, was sie konnte, dass es so blieb. Nicht, dass sie ihn abwies, aber sie vermied alles, was ihn einladen konnte. Aber sie genoss die Stunden mit Tom, in denen sie die vergangenen 30 000 Jahre einfach vergaß. In denen sie nichts dachte, nicht an das Baby Carola und nicht an New York. Tatsächlich dachte sie nicht mal an Thomas. Nicht so wie sie sonst an ihn dachte. Nichts in ihr fragte, ob es ihm wohl gut ging. Nichts in ihr sehnte sich nach ihm. Kein Wunsch nach ihm. Denn er war da. Voller Energie und voller Lachen.
[ 3]Irgendwann, so war sich Johanna sicher, würde er merken, dass sie nichts davon zurück gab. Dass sie ihm nur folgte, tat, was er vorschlug. Dass er nichts Neues über Jo erfuhr. Dass alles gesagt war, es langweilig wurde. Dann würde sie gehen …
[ 3]„Woran denkst du gerade?“, fragte er.
[ 3]Sie sah auf. „Was?“
[ 3]„Deine Gedanken waren eben weit entfernt von hier.“
[ 3]Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Ich wundere mich nur, dass du immer noch fast jeden Tag herkommst. Ich wohne ja nun nicht gerade nebenan …“
[ 3]„Mit der Maschine eine halbe Stunde, das ist doch nicht weit.“
[ 3]„Naja. Aber für Eis essen, Shopping, Zoo oder nur so unterhalten schon ein weiter Weg. So Tag für Tag.“
[ 3]„Dafür würde ich es auch nicht tun.“
[ 3]„Wofür dann?“, fragte sie und bereute es sofort. „Was meinen eigentlich deine Freunde dazu, dass du mit einer so einer alten Schachtel durch die Gegend ziehst?“, versuchte sie, zu retten, was zu retten war.
[ 3]„Frag sie doch einfach.“
[ 3]„Ha-ha!“, machte sie. „Ich kenne sie ja nicht mal.“
[ 3]„Das lässt sich ändern. Heute Abend spielen die Jungs und ich auf einer Fete. Es sind alle da. Ich möchte dich ihnen gern vorstellen.“
[ 3]Johanna verzog den Mund zu einem Lächeln. In ihrem Hirn rasten die Gedanken. Normalerweise prahlten junge Kerle gern mit ihren Freundinnen, demonstrierten, was für tolle Hechte sie doch waren. Allerdings war sie älter als Tom und ein bisschen größer, sie entsprach nicht im Mindesten dem Schönheitsideal dieser Zeit – keiner Zeit, wenn man es genau nahm – und hatte auch sonst nichts, womit ein 18-Jähriger prahlen konnte. Deshalb wohl hatte Tom es bisher auch nicht versucht und Jo hatte dies für ein gutes Zeichen gehalten. Dass er es jetzt tun wollte, sie sozusagen der Öffentlichkeit, seiner Öffentlichkeit, präsentieren wollte, wog dadurch doppelt schwer. Tom würde – mindestens – fragende Blicke ernten und er wusste das. Er musste es wissen, bei aller Jugend, so blind war er nicht. Er nahm es in Kauf. Er wollte sie an seiner Seite haben.
[ 3]„Ist dir das unangenehm?“, fragte Tom, Sorge im Blick.
[ 3]„Ein bisschen. Da werden lauter junge Leute da sein …“
[ 3]Er sah sie fragend an.
[ 3]„Ich pass da nicht hin, Tom.“
[ 3]„… wieso nicht? Einige der Leute sind fast 30.“
[ 3]Sie setzte ein Lächeln auf. „Uralt, hm?“ Im Stillen betete sie, dass er von der Idee abließ.
[ 3]„Nein!“, wies er sofort von sich. „Nein, ich meine nur, es ist ein bunt gemischtes Publikum.“
[ 3]„Ich weiß nicht …“
[ 3]„Die Jungs und ich bringen ein paar neue Lieder. Selbst gemachte Sachen.“ Er senkte die Stimme. „Es wäre wirklich sehr schön, wenn du da wärst.“
[ 3]Jede Faser ihres Körpers wusste, dass sie im Begriff war, etwas Dummes zu tun. Aber sie hatte keine Argumente mehr. Nicht gegen diese Stimme. Also sagte sie: „Ok. Überredet.“

(Weiter: http://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=79384)
 

Prospero

Mitglied
Erzählerisch klasse, eine Geschichte, die sich wie ein Film im Kopf herunterspult. Ich war von Anfang an gefesselt, hatte (und hab wohl immer noch) allerdings einige Schwierigkeiten mit dem Verständnis. Das mag daran liegen, dass ich Zeitreise-Geschichten wegen der unvermeidlichen Paradoxa generell mit Argwohn betrachte (mehr dazu weiter unten).

Hilfreich fand ich auf jeden Fall die "Datumsangaben", allerdings deutet sich für mich hier schon die typische Zeitreise-Problematik an: Im Prolog erscheint mir "vor dem Tag X" korrekt, weil Carola/Johanna hier noch in "normaler Zeit" lebt, danach aber ist "vor dem Tag X" eigentlich "nach dem Tag X", weil Carola/Johanna ihn ja, obwohl er zeitlich gesehen noch vor ihr liegt, bereits hinter sich hat ... (hier hör ich auf, an diesem Punkt bekomme ich bei Zeitreisegeschichten regelmäßig Kopfschmerzen).

Irritiert haben mich die 30000 Jahre. Angesichts dieser Dimension erschien mir die Sache mit Tom (die Schwärmerei eines jungen Mädchens für einen Pop-Star) eher nichtig (auch konnte ich mir nicht vorstellen, wie man jemand, der zudem noch 20 Jahre jünger ist, nach 30000 Jahren auf Anhieb wiedererkennen kann). Deshalb hatte ich anfangs im Hinterkopf, dass Tom während dieser 30 000 Jahre irgendeine zentrale Rolle spielt, dass sie ihm vielleicht immer und immer wieder begegnet (eine Zeitschleife oder sowas).

Auf ein paar Anmerkungen will ich nicht verzichten, auch wenn das meiste davon Beckmesserei ist:

Der Oktober war warm, ein letztes Aufbäumen des Sommers. [blue]Im Oktober ist der Sommer definitiv vorbei, kann sich also auch nicht mehr aufbäumen (das ist natürlich arge Beckmesserei, aber da du nicht viel Gelegenheit zum rumkritteln gibst, halte ich mich halt an solchen Sachen fest)[/blue] Die Sonne brannte noch, doch wenn man durch den Schatten musste, war es kalt. Sehr kalt. Die Frau, in deren Ausweis der Name Johanna Johnson stand, war froh, bald hier weg zu können. Nicht wegen des Herbstes, sie liebte den Herbst. Es war das Land. In dem sie geboren worden war. Heute.
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Ein tiefbassiges Motorengeräusch lenkte Johanna ab. Für den Bruchteil einer Sekunde wandte sie den Blick von dem Kind fort, sah im Augenwinkel, dass der Rhythmus des Ballspiels abbrach, schaute wieder hin. Der Ball rollte auf die Straße, das Kind lief ihm nach. Instinktiv trat Johanna einen Schritt vor, auf das Kind zu, es zu retten. Kreischend bremste die Bahn, Johanna sah das Entsetzen im Gesicht des Fahrers. Dann ein Schaben von Metall auf Metall, ein Stoß, Johanna fiel.
Ein Schmerz schoss durch ihren Fuß und ließ sie aufstöhnen. Sekundenlang nahm sie nichts anders wahr. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, blind tastete sie das Gelenk ab, um zu prüfen, ob es gebrochen war.
„Diese Rowdys!“, hörte sie einen Mann empört sagen.
Jemand legt [blue]Ist die Zeitform Absicht oder hast du nur ein "e" vergessen?[/blue] ihr die Hand auf den Arm. „Alles in Ordnung?“
„Klar!“, zischte sie. „Ich hocke hier, weil 's so schön ist!“
„Also sowas gab 's zu meiner Zeit nicht!“, moserte der Mann.
Johanna spürte die Hand heiß durch den Jackenstoff hindurch.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Es klang sehr besorgt.
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Es geht schon. Nur verstaucht.“ Sie probierte ein beruhigendes Lächeln und schaute auf.
Sein Blick traf sie.
Sie stürzte in die Tiefe des Schwarz' und verlor sich.
Thomas.
Eine Ewigkeit lang.
„… den jungen Kerls solche Mordmaschinen nicht geben!“, keifte der Mann.
Johanna drehte sich um. Der Mann war um die 50 Jahre alt, trug feinen Zwirn und eine Aktentasche unterm Arm.
„Wir haben in unserer Jugend niemanden umgebracht!“, keifte er.
„Stimmt“, sagte Johanna. „Niemand aus Ihrer Generation hat im Krieg auch nur daran gedacht, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Oder irgendeine andere Mordmaschine.“
Im Hintergrund lachte jemand kurz auf. Der Herr im Zwirn warf den Kopf in den Nacken und stakte davon. [blue]Was ist eigentlich aus dem Kind mit dem Ball geworden? Wahrscheinlich ist ihm nichts passiert, weil sich alle ja nur um Johanna kümmern, aber ein Satz dazu würde mich schon beruhigen.[/blue]
Eine Schmerzwelle brandete Johannas Bein herauf. Sie zog scharf die Luft ein.
„Was kann ich tun?“, fragte Tom.
Sie lächelte ihm zu. „Nichts. Geht schon. Der Fuß ist nur verstaucht.“
Es beruhigte ihn nicht. „Ich sollte Sie nach Hause bringen“, sagte er. „Oder zu einem Arzt.“
„Nach Hause ist ok.“ Sie versuchte aufzustehen.
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Sie verstand nicht. „Was ist?“
„Ich soll Sie doch nach Hause bringen.“
Johanna zögerte. Auf dem Motorrad? Mit ihm? Der Gedanke, ihm so nah zu sein, machte ihr Angst. ,Oh Mann!', schalt sie sich. ,Du hast Schlimmeres unter Kontrolle gehabt. Und er ist noch fast ein Kind!' Ohne darüber nachzudenken, überschlug sie es kurz: [blue]wie kann sie es überschlagen ohne darüber nachzudenken?[/blue] ,Er ist 18. Na gut, Kind ist da wohl doch übertrieben.' Seltsamerweise gewann sie mit dieser Überlegung ihre Ruhe zurück. „Ok“, sagt sie. „Aber nicht rasen!“
„Versprochen!“ Er schob die Maschine etwas näher, damit sie aufsteigen konnte
Es erwies sich als schwieriger als [blue]zweimal als[/blue] vermutet, eine Position auf dem Rücksitz zu finden, in der Halt sie [blue]Wortdreher[/blue] hatte, der verstauchte Fuß aber nicht zu sehr schmerzte. Es ließ sich nicht vermeiden, dafür die Arme um Thomas zu legen. Er wartete geduldig, bis sie sich zurecht gerückt hatte, und fuhr dann behutsam los.

Er fuhr spürbar vorsichtig, so brauchten sie fast eine Viertelstunde bis zu Jos gegenwärtigem zu Hause [blue]Zuhause, oder? ("Ich bin zu Hause", aber: "Das ist mein Zuhause")[/blue]. Als er anhielt, war sie noch immer damit beschäftigt, die Erinnerungen, die seine Nähe in ihr aufsteigen ließ, zu verdrängen. All die Stunden, die sie seiner Musik gelauscht hatte, die Konzerte, die Bilder, die sie sich aus den spärlichen Informationen zusammensetzte.
„Alles in Ordnung?“, fragte er nach hinten.
Sie schrak auf. „Ja. Ja, klar.“ Sie stieg ab. Eine unbedachte Bewegung jagte eine Schmerzwelle durch ihren Fuß und das Bein hinauf. Beinahe wäre sie gestürzt, sie konnte sich gerade noch an Tom festhalten. Dann stand sie sicher.
„Danke für ' s [blue]"fürs" scheint mir hier die gebräuchlichere Form[/blue] Bringen“, sagte sie.
Tom schaltete der [red]den[/red] Motor aus, stieg vom Motorrad und hievte es auf den Fußweg. Dort bockte er es auf.
Johanna runzelte die Stirn.
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12 Jahre nach dem Tag X

Sie hasste Botengänge zu Kunden, mit denen sie eigentlich nichts zu tun hatte. Nicht immer verstanden die Leute, dass sie zwar zur Firma gehörte, aber deshalb nicht zwangsläufig Antwort auf alle Fragen geben konnte. Hoffentlich war der Chef der Clubs nicht da und sie konnte die Entwürfe einem Mitarbeiter in die Hand drücken.
Mit diesen Gedanken öffnete Caro schwungvoll die Eingangstür und stockte. Das kleine Foyer war proppevoll [red]proppenvoll?[/red] mit Leuten in Jeans und Shirts und Lederjacken. Überall prangten Thomas-Bern-Embleme sowie Bildchen und Sticker, die sich auf Bern-Alben bezogen. Fans, eindeutig. Carola fühlte sich angenehm überrumpelt und merkte, dass sie lächelte.
Eine Frau [red]mit[/red] langen blonden, scheinbar kaltgewellten Haaren dreht [red]drehte?[/red] sich zu Caro um.
Carola nickte ihr instinktiv zu. [blue]Der Wechsel von Caro zu Carola und umgekehrt erschließt sich mir nicht. Steckt dahinter ein tieferer Sinn? (s. unten)[/blue]
„Hallo“, sagte die Frau und reichte Caro die Hand. „Du bist bestimmt Svenja. Ich bin Margitt.“
„Hallo. Nein. Ich heiße Carola.“
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„Ich mag dich.“
„Ich bin …“, sie musste kurz überlegen, „… 23!“ [blue]Warum muss sie da überlegen? Wenn sie seit 30000 Jahren 23 ist, sollte sie das eigentlich langsam wissen.(nur ein Scherz)[/blue]
Er schnaufte. „… verstehe.“ [blue]Instinktiv würde ich "Verstehe ..." vorziehen.[/blue]
„Tom, ich …“ Sie stand auf und ging in die Küchenecke, schaute in den Wassertopf. Als sie sich gefasst hatte, ging sie wieder zu ihm. „Tom.“
Er sah auf.
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Johanna tat, was sie konnte, dass es so blieb. Nicht, dass sie ihn abwies, aber sie vermied alles, was ihn einladen konnte. Aber sie genoss die Stunden mit Tom, in denen sie die vergangenen 30 000 Jahre einfach vergaß. In denen sie nichts dachte, nicht an das Baby Carola und nicht an New York. Tatsächlich dachte sie nicht mal an Thomas. Nicht so wie sie sonst an ihn dachte. Nichts in ihr fragte, ob es ihm wohl gut geht [blue]oder "gut ging"?[/blue]. Nichts in ihr sehnte sich nach ihm. Kein Wunsch nach ihm. Denn er war da. Voller Energie und voller Lachen.
[blue]Manchmal habe ich richtig Angst vor Zeitreise-Geschichten. Immer wenn ich meine, auf der richtigen Fährte zu sein, kommt in der Regel ein Dämpfer, der mir sagt, dass ich überhaupt nichts kapiert habe. So auch hier: Was hat es mit diesem Baby auf sich? Ist das ihre spätere Identität, 12 Jahre nach dem Tag X? Woher weiß sie dann aber in diesem Moment davon? Weil sie schon mal in der Zukunft war und dort als Carola aufgetreten ist? Stellt sich die Frage, wie das Ganze funktioniert. Ich stell mir das so vor: Sie stürzt in ein Zeitloch und erscheint als nobody in einer anderen Zeit. Sie bringt jemand um oder wartet, bis er von selbst stirbt, und übernimmt dessen Identität (Carola). Das geht jedoch nur ein Mal (beim zweiten Mal wäre Carola schon nicht mehr Carola, oder es hätte beim ersten Mal nicht funktionieren können). Wenn sie also hier von Carola weiß, heißt das, sie war zuerst in der Zukunft, wo sie dann aber nichts von ihrem Sohn hätte wissen dürfen. Oder sehe ich das alles völlig falsch? Bewegt sie sich nicht selbst in der Zeit, sondern springt nur ihr Bewusstsein hin und her? Sind "Carola" und "Caro" 12 Jahre nach dem Tag X in Wirklichkeit zwei verschiedene Identitäten (s. Anmerkung weiter oben), was ich eigentlich nicht so gelesen habe?
Sorry, wenn ich hier so ins Detail gehe, bei einer guten Geschichte (und deine ist gut) kann man das ignorieren, und bei Zeitreise-Geschichten schaltet man seinen Logik-Chip sowieso am besten ganz ab, außerdem bezweifle ich, dass meine Gedankengänge alle richtig sind ... aber:
Das eigentliche Problem ist, dass ich eine wirkliche Vorstellung davon, was es mit dem Durchs-Zeitloch-Fallen auf sich hat, nicht habe, und ich frage mich nun: Ist das meine Schuld - bin ich einfach zu dumm? - oder ist es deine, weil du es nicht richtig beschrieben hast?[/blue]
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Johanna verzog den Mund zu einem Lächeln. In ihrem Hirn rasten die Gedanken. Normalerweise prahlten junge Kerle gern mit ihren Freundinnen, demonstrierten, was für tolle Hechte sie doch waren. Allerdings war sie älter als Tom und ein bisschen größer, sie entsprach nicht im Mindesten dem Schönheitsideal dieser Zeit - keiner Zeit, wenn man es genau nahm - und hatte auch sonst nichts, womit ein 18-Jähriger prahlen konnte. Deshalb wohl hatte Tom es bisher auch nicht versucht und Jo hatte dies für ein gutes Zeichen gehalten. Dass er es jetzt tun wollte, sie sozusagen der Öffentlichkeit, seiner Öffentlichkeit, zu präsentieren, [blue]Der Satz scheint mir durcheinander geraten ("Dass er es jetzt tun, sie sozusagen der Öffentlichkeit, seiner Öffentlichkeit, präsentieren wollte ..." ?)[/blue] wog dadurch doppelt schwer. Tom würde - mindestens - fragende Blicke ernten und er wusste das. Er musste es wissen, bei aller Jugend, so blind war er nicht. Er nahm es in Kauf. Er wollte sie an seiner Seite haben.

Gruß,
Joachim
 

jon

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… aber das ist doch ganz einfach :D
Nein im Ernst: Ich weiß, dass viele bei dem Wort Zeitsprung automatisch auf „Ist mir zu verwürcht!“ schalten, ich habe aber noch keine Methode gefunden, dem vorzubeugen. Bei Geschichten, wo der Akteur eindeutig in einer ganz anderen Zeit agiert, ist es noch einfach - es ist fast wie nur ein anderer Ort. Die Probleme fangen an, wenn sich die „Existenzen überschneiden“ …
Man muss auch das immense Potential an Paradoxien tapfer ignorieren, wenn man als Schreiber und/oder Leser nicht den Verstand verlieren will. Man legt einfach dies und jenes fest …

Und ich hab das festgelegt (, ich nehme mal die Zahlen, wie sie in meiner Liste stehen, sie sind aber nur Rechen- und Orientierungshilfe, gelten nicht automatisch so für die Story):
Im Herbst 1967 wird Carola geboren.
1989 wird Carola Bern-Fan (und verschlingt alles, was sie zu fassen kriegt - auch Kinder- und Jugendbilder. Fans wissen, wovon ich rede.)
1992 fällt Carola in ein Zeitloch in die entfernte Vergangenheit. Es setzt eine Art Quasi-Unsterblichkeit ein: kein Altern, extreme Selbstheilungskräfte. (Frag nicht, wie das geht, an der Erklärung bastle ich noch.) So lebt sie sich „an den tag X heran“ - dabei fällt sie aber immer wieder zurück, so dass - Pi mal Daumen - 1967 30.000 Jahre Lebenszeit zusammengekommen sind.
Anfang 1967 nimmt Carloa die Identität der Johanna Johnson an. Im Oktober trifft sie - in dieser Rolle - Tom. Das heißt, es gibt sie zu dieser Zeit doppelt: Als Jo und als Baby Carola. (Immerhin: Die Reisende hatte schon befürchtet, dass die Natur das „nicht akzeptieren“ würde und sie an dem Tag ihrer Geburt sterben würde - das ist nicht passiert. Ein Gefühl von Irritation und Beklemmung ist jedoch geblieben …)

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Sie ist also 30000 Jahre lang 25 – die Identität Johanna Johnson (, die sie erst seit kurzem hat) schreibt 23 vor.
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Ja, Tom spielt auch in den 30000 Jahren eine Rolle, aber nicht durch „persönliche Anwesenheit“, sondern durch die Wirkung auf Carola. Er verkörpert die Kraft und Energie, die sie sich immer wieder ins Bewusstsein holen muss, um die seelischen Strapazen der Reise zu überstehen. Ein Ankerpunkt, an dem sie sich festhält. Als sie ihm dann begegnet, stellt sich heraus, dass auch die „romantische Schwärmerei“ durchaus „in natura“ Boden hat (, eine Sache, die sie erstaunlich selbstverständlich hinnimmt, was ich - als Autor heute - mit spockmäßig erhobener Braue zur Kenntnis nehme. Aber das ist ein ganz anderes Thema …)
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Wenn ich mir diesen November ansehe, dann kann im Oktober die Sonne durchaus mal so heiß brezeln, dass man (wie die Meteorologen es bei Werten ab 20 ° tun, soweit ich weiß) von sommerlichen Temperaturen reden kann.
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Die Carola / Caro Mischung ist wiedermal meiner Idee, dass man mit dem Namen Distanz und Näher darstellen kann, geschuldet. Ich kann mich nur schlecht daran gewöhnen, dass es es offenbar nicht funktioniert. Ich ändere es …

… und die anderen Sachen auch, die du noch angemerkt hast. Danke dafür.
 



 
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