Die Gabe

jon

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Die Gabe
(Teil von „Carola“)


Dezember 2014

Auf der Beerdigung seines Vaters spürte Pawel Król es zum ersten Mal: eine Präsenz, so als wäre jemand in der Nähe, der Kontakt zu ihm suchte. Er schob das irritierende Gefühl auf die besonderen Umstände und versuchte, es zu ignorieren. Doch so sehr er sich auch auf die Totenreden konzentrierte, die einfach kein Ende nehmen wollten, das Empfinden der Gegenwart eines anderen blieb. Ab und an ertappte er sich dabei, sich nach diesem anderen umzusehen, und schalt sich töricht. In der riesigen Menge der Trauernden einen einzelnen Menschen, den er vermutlich nicht mal kannte, zu finden, war aussichtslos. Schließlich – inzwischen brach der Trauerzug auf, um den Sarg von der Kirche zum Grab zu bringen – redete er sich ein, dass es wohl nur der Wunsch war, nochmal mit seinem Vater zu sprechen, der ihm das Gefühl der Kontaktsuche bescherte. Einen Moment lang spielte er sogar mit dem Gedanken, die Seele von Miroslaw Król suche nach ihm, doch er wischte die Idee beiseite – weder er noch sein Vater waren jemals sonderlich religiös gewesen. Nach und nach verblasste die Empfindung, unbedingt diesen Menschen treffen zu müssen, und bei der Grablegung, bei der nur noch die Familie und die Offiziellen anwesend waren, war es schließlich ganz verschwunden.

Das Wochenende nach der Beisetzung empfand Pawel als bedrückend. Er und seine Mutter hatten Gästezimmer im Haus seines Vaters bezogen, seine Witwe – die dritte Frau Król – behandelte sie mit Respekt aber wenig Herzlichkeit. Warum sollte sie auch, sie hatten zu Lebzeiten des Vaters kaum Kontakt gehabt. Pawel hatte seinen Vater zwar hin und wieder besucht, aber in den 1960ern war es noch nicht üblich gewesen, dass Väter einen innigen Kontakt zu den Kindern aus geschiedenen Ehen hielten. Zudem nahm damals gerade Króls Karriere Fahrt auf, da blieb nicht viel Zeit für den Jungen. Später, als Pawel erwachsen war, hatten sie eher eine lose Freundschaft als eine Vater-Sohn-Beziehung gepflegt.

Ab und an schauten Verwandte, Kollegen und das, was man „Weggefährten“ nannte, im Haus der Witwe herein, um ihr beizustehen. Sie wirkte nicht, als hätte sie Beistand nötig, sie hatte sich an der Seite des Stars eine gut haltbare Fassade von Gefasstheit zugelegt. Pawel glaubte dennoch, ab und an tiefere Regungen an ihr zu erkennen, wenn die Gäste in Erinnerungen schwelgten. Er hielt Helena Król nicht für unterkühlt, wie so manch anderer, sie war nur nicht überschwänglich. Sein Vater war es auch nicht gewesen. Auf der Bühne konnte er so richtig aus sich herausgehen, aber privat wirkte er immer ein bisschen, als müsse er etwas tief in sich beschützen.

Pawel wurde es müde, den immer gleichen Anekdoten zuzuhören und pflichtschuldig zu lächeln. Seine Mutter hatte sich in den Wintergarten zurückgezogen, er brachte ihr eine Strickjacke hinaus und setzte sich zu ihr. „Gib Bescheid, wenn du fahren möchtest.“

„Ich würde gern nochmal an das Grab“, sagte Agata Król.

„Da werden in den nächsten Tagen jede Menge Leute sein.“

„Das macht nichts.“ Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Du solltest ihm nicht grollen, Pascha.“

Er sah sie überrascht an. „Ich grolle ihm nicht, Mama. Warum sollte ich?“

„Er war kaum für dich da.“

„Naja, er hatte kaum Zeit. Aber wenn wir zusammen waren, war er … wie soll ich sagen … liebenswert. – Mama?“

„Ja?“

„Die Serie, die hat ihn verändert damals, oder?“

„Wie kommst du darauf?“

„Was du von ihm erzählt hast und wie ich ihn später kennenlernte …“

„Ach, wir waren jung. Er wurde eben erwachsen.“ Sie drehte sich ein wenig zu ihm. „Weißt du, die Filme zu machen, war schwer für ihn. Schon als er das Drehbuch las, veränderte er sich.“

„Er ahnte wohl, dass es ein Erfolg würde.“

„Nein nein, das war es nicht, Pascha. Ihn beschäftigte eine Erinnerung. Sie hatte mit Tante Danuta zu tun.“

„Vaters Ziehschwester?“

„Halbschwester, eigentlich war sie seine Halbschwester. Väterlicherseits.“

„Ach! Das wusste ich gar nicht.“

„Darüber hat er auch nie gesprochen. Wohl seiner Mutter zuliebe.“

„Verstanden er und Danuta sich deshalb so wenig?“

„Ich glaube nicht. Sie waren wohl einfach zu verschieden. Vielleicht erinnerte sie ihn auch zu sehr an ihre Mutter. Dein Vater muss sie während des Krieges getroffen haben. Er hat sich damals wohl ein bisschen in sie verguckt.“

„Tatsächlich? Er war noch ein Kind damals.“

Sie lächelte nachsichtig. „Fünfzehn oder sechzehn. Alt genug, um von einer Frau beeindruckt zu sein. Als sein leiblicher Vater die Kleine zu den Króls brachte, erzählt er, dass die Mutter zuletzt noch von der Gestapo gefasst worden wäre. Ihr Tod jedenfalls muss deinen Vater sehr getroffen haben.“

„Habt ihr euch deshalb getrennt? Weil du sozusagen in ihrem Schatten standest?“

„Oh nein. Nein, das war wegen der anderen.“

Pawel nickte verstehend. Die andere – so nannte seine Mutter Króls zweite Frau noch immer.

„Ich glaube, er hat während des Drehens zu oft an Danutas Mutter denken müssen. Es ist das eine, so eine Rolle zu spielen, etwas anderes, jemanden zu gekannt zu haben, der dafür starb.“ Sie schaute durch die großen Fenster in den reifüberzogenen Garten. „Er hat nie wirklich darüber gesprochen. Ich weiß nichtmal, wie sie hieß.“

Pawel Król blickte ebenfalls in den Garten hinaus. Ihn beschlich das Gefühl, seinen Vater noch weniger gekannt zu haben, als ihm bewusst gewesen war.

Agata Król atmete geräuschvoll durch und erhob sich umständlich. „Es ist spät, Pascha, und du musst morgen wieder zur Arbeit. Lass uns fahren.“



Eine Woche später besuchte Pawel mit seiner Mutter das Grab seines Vaters. Noch immer war es üppig mit Blumen bedeckt, wahrscheinlich legten immer wieder Besucher Sträuße und Kränze nieder. Miroslaw Król hätte darüber milde gelächelt.

Der Blick der alten Dame glitt suchend über den Blütenberg. Dann legte sie die weißen Nelken an den Fuß des Haufens und trat einen Schritt zurück. Während sie in Erinnerungen versinkend auf das kaum erkennbare Grab schaute, trat Helena Król heran. Pawel nickte ihr grüßend zu, sie blieb auf seiner Höhe stehen. Auch sie schaute als erstes über den Blumenberg. Offenbar entdeckte sie etwas in der Menge, denn sie ging näher. Agata Król bemerkte sie und grüßte, Helena nickte zurück und nahm dann eine einzelne, mit Schleierkraut umkränzte Chrysantheme aus der Menge.

Da spürte Pawel es erneut: Aus dem Hintergrund des Friedhofes näherte sich jemand, Pawel wandte sich nach ihm um. Ein Mann in langem Mantel und mit Hut schlenderte in ihre Richtung. Er schien lediglich auf einem Spaziergang zu sein, trotzdem hatte Pawel das Gefühl, als wollte er zu ihm. Wie beiläufig blickte der Mann in ihre Richtung, dann bog er in einen Seitenweg ab. Seine Schritte beschleunigten sich. Als er hinter einer Hecke verschwand, schien er beinahe zu rennen.

„Wer war das?“, fragte Helena Król, dem Mann nachsehend.

„Kein Ahnung. Irgendein alter Herr.“

„Alt?“ Sie sah Pawel skeptisch an. „Bei dem Tempo, das er an den Tag legte?“

„Er trug einen Hut.“

Ihre Skepsis vertiefte sich. „Den tragen jetzt viele.“

„Künstler“, erwiderte er, ohne vorher zu überlegen.

„Auch“, antwortete sie, schien aber nicht verärgert zu sein. „Hast du schon den Brief vom Anwalt bekommen, Pawel?“

Agata drehte sich um. „Anwalt?“

„Wegen des Testaments.“

„Ich nahm an, Vater hat alles dir vermacht.“ Er sagte es ohne Vorwurf, denn tatsächlich empfand er keinen.

„Das meiste“, räumte sie ein. „Er hat aber auch für dich etwas verfügt.“ Sie zögerte. „Und für deinen Bruder.“

Er starrte sie an. „… Bruder?“

Auch seine Mutter sah Helena Król groß an.

Die schluckte. „Ja. Er hat mir vor … als er krank wurde und absehbar war, dass … Also er hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass er noch einen weiteren Sohn habe.“ Es fiel ihr offenbar schwer, das zu sagen. „Er ist jetzt zwei oder drei Jahre, ich weiß nicht genau. Ich wollte es nicht wissen, der Anwalt kümmert sich darum.“

„Zwei oder drei?“, wiederholte Agata hörbar irritiert.

Helena nickte steif.

„Der alte Herr hat mit über achtzig …?“ Pawel schnaufte. „Alle Achtung.“

Helena warf ihm einen giftigen Blick zu. Auch seine Mutter schaute ihn strafend an.

Pawel versuchte, schuldbewusst auszusehen, merkte aber, dass es ihm nicht gelang. „Entschuldigung. Aber ihr müsst zugeben, das ist schon eine Überraschung. Bist du sicher, dass ihn da keine reingelegt hat? Ich meine …“

„Ich weiß, was du meinst!“, unterbrach ihn Helena. „Es gibt einen Test“, setzte sie unwirsch hinzu. „Er war positiv.“

Pawel Król versuchte sich zu erinnern, ob er je von Liebschaften seines Vaters gehört hatte. Nach der Wende hatte es hin und wieder Gerüchte gegeben, für glaubhaft hatte er keines gehalten. Und nun das.

Helena warf die Chrysantheme, die sie in der Zwischenzeit beinahe zerpflückt hatte, auf den Blumenberg zurück und ging grußlos. Ein Besucher, der offenbar zum Grab wollte, wich ihr respektvoll aus. Agata und Pawel gingen ebenfalls, der Besucher sah Pawel irritiert nach. Pawel kannte den Blick, er sah seinem Vater wirklich sehr ähnlich. Immer wieder hörte er, dass er wie aus Vaters Serie entstiegen wirkte. Nur ohne Uniform eben.

Kurz vor dem Einsteigen ins Auto hatte Pawel noch einmal kurz das Gefühl, dass der Mann mit Mantel und Hut in der Nähe war, doch er konnte ihn nicht sehen und so stieg er ein und fuhr mit seiner Mutter nach Hause.



Der dritte Advent begann mit Schmuddelwetter. Pawel hatte keine Lust, in die Innenstadt zu fahren, und er überlegte ernsthaft, das diesjährige Treffen mit den alten Schulfreunden auszulassen. Ohnehin war der Kreis mit den Jahren immer kleiner geworden. Ihn störte weniger das nasskalte Wetter, das die Clique sicher zu ausgiebigem Punschgenuss nutzen würde, dem er sich nicht entziehen konnte, als vielmehr eventuelle Beileidsbekundungen. Er wollte mal einen Tag lang nicht an seinen Vater denken, nach all dem, was er inzwischen über ihn erfahren hatte. Schließlich raffte er sich doch auf und fuhr zum Weihnachtsmarkt.

Es war später Vormittag und der Markt begann sich gerade mit Besuchern zu füllen. Je näher Pawel dem Treffpunkt – der Punschbude neben dem hinteren Eingang – kam, desto unwohler fühlte er sich. Er konnte nicht bestimmen, was diese zunehmende Nervosität auslöste. Der Hutträger vom Friedhof fiel ihm ein und er sah sich nach ihm um. Er war nicht zu sehen.

Kurz bevor er um die letzte Ecke bog, stieß er mit einem Mann zusammen. Er wirkte ein wenig deplatziert, wie ein schlecht getarnter Exot. Pawel dachte sofort, er müsse ein Amerikaner sein, und suchte reflexartig nach Cowboystiefeln.

Der Mann bemerkte den Blick nach unten und lächelte breit. „Die wärmen nicht gut genug.“ Dann reichte er Pawel die Hand, die dieser ohne nachzudenken ergriff, und sagte in unpassend förmlich wirkendem Tonfall: „Gestatten? Charlston Blackwood. Zu Ihren Diensten.“

„Zu …?“, setzte Pawel an. Dann überrollte ihn das Gefühl von Blackwoods Präsenz wie eine Flutwelle und raubte ihm fast den Atem. Er strauchelte.

„Nanana!“, sagte Blackwood und griff Hilfe bietend nach Pawel. „Senkrecht bleiben, Herr Król!“

Pawel starrte ihn an. Jetzt konnte er das Gefühl zuordnen – es war das gleiche wie bei der Beerdigung, nur um vieles stärker. „Wer sind Sie?“, brachte Pawel heraus.

„Was“, erwiderte er. „Sie sollten fragen: Was sind Sie?“ Dann sah er sich um.

Pawel folgte seinem Blick. Eva, eine der alten Schulkolleginnen, steuerte auf ihn zu.

Blackwood drückte Pawel etwas in die Hand. Eine Visitenkarte. „Rufen Sie mich an!“ Dann verschwand er in der dichter werdenden Menge. Pawel sah ihm verstört nach.

Evas Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart. „Pascha!“ Sie strahlte ihn an. „Schön, dich zu sehen.“ Sie umarmte ihn. Dabei sagte sie: „Es tut mir so leid. Wie geht es dir denn?“

„Gut. Ganz gut.“ Es fühlte sich in diesem Moment nicht einmal gelogen an.

Sie löste sich von ihm und musterte sein Gesicht. „Mein je, wie machst du das nur? Du siehst keinen Tag älter aus als dreißig.“

Er lächelte pflichtschuldig. „Na du siehst auch nicht schlecht aus. Die Scheidung ist dir gut bekommen.“

Sie lachte und schlug im Scherz nach ihm. „Ach du wieder! Nein nein, ich bin schon fast wieder vor dem Traualtar.“

„Im Ernst? Und in der Schule sagte man dir eine besonders rasche Auffassungsgabe nach.“

„Ach, das ist schon so lange her. Ein halbes Leben. Auch wenn man es dir wirklich nicht ansieht, Pasch. – Na komm, die anderen warten schon.“



Am nächsten Morgen erwachte Pawel Król mit der Erwartung, es wie jedes Jahr nach dem Klassentreffen mit einem veritablen Kater zu tun zu bekommen. Der gewohnte Druck unter der Schädeldecke blieb jedoch aus. Auch das pelzige Gefühl im Mund, das er in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Morgen nach dem dritten Advent zu verbinden gelernt hatte, fehlte diesmal. Dabei hatte er seines Wissens nach nicht weniger getrunken als sonst, eher im Gegenteil, wie die zerknautschten Sachen, in denen er geschlafen hatte, bewiesen.

Als sich Pawel aus der sich schmuddelig anfühlenden Kleidung schälte, fiel ihm die Visitenkarte von Blackwood in die Hand. Sie zeigte lediglich den Namen und eine Mobilnummer an und war auch sonst erstaunlich schmucklos. Sie wirkte fast schon provisorisch. Pawel legte sie auf dem Weg ins Bad auf den Couchtisch.

Dort lag sie noch am Nachmittag, als er vom ebenfalls Tradition gewordenen Essen bei seiner Mutter zurückkam. Sein Blick blieb daran haften. Sie erinnerte ihn an das Gefühl, das Blackwoods Gegenwart in ihm erzeugt hatte. Und an seine Worte, er sollte besser fragen, was er sei.

Was, nicht wer er sei.

Pawel rief sich das Verhalten des Hutträgers auf dem Friedhof in Erinnerung. Er hatte eindeutig zum Grab gewollt. Und er hatte wissen müssen, dass noch immer Besucher dort sein würden, die Abschied von Miroslaw Król nehmen wollten. Die bloße Gegenwart von Menschen hatte ihn also sicher nicht weggehen lassen. Es gab nur eine Erklärung, so verschroben sie auch klingen mochte: Der Hutträger war nur deshalb nicht näher gekommen, weil er, Pawel, dagewesen war, weil er seine Gegenwart hatte spüren können, so wie Pawel seine gespürt hatte.

Pawel Król rief Charlston Blackwood an.



1944

Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, doch im Schatten wurde es schon kühl. Die Frau zog die Strickjacke enger um die Schultern. Sie huschte in die Hofeinfahrt. Im Erdgeschoss des Hinterhauses stand ein Fenster offen, es war also schon jemand da. Die Frau eilte in die Wohnung, die der Widerstandszelle als Treffpunkt diente. Ein Mann in deutscher Uniform trat aus dem Schatten des Kleiderschranks.

„Erich? Wo ist Wladek?“

„Verhindert. Er schickt Ersatz.“

„Ach, deshalb sollte ich kommen.“ Sie öffnete den Schrank und holte eine Kiste heraus. „Ich hätte mal üben sollen“, sagte sie, während sie das Funkgerät aufbaute. „Chiffriert hast du es schon?“

Er nickte und reichte ihr einen Zettel. „Sie haben den Termin vorverlegt, ich hoffe, die Jungs schaffen es trotzdem.“

Draußen ging die Tür. Erich huschte wieder in den Sichtschutz hinter dem Schrank. Die Frau warf eine Decke über das Funkgerät. Da trat der Besucher auch schon ein. Es war ein Junge, um die vierzehn oder fünfzehn Jahre alt.

„Ich suche die Schneiderei“, sagte er. „Im Vorderhaus war niemand da.“

„Hier gibt es nur einen Sattler, aber der setzt auch Flicken ein“, vervollständigte die Frau die Parole.

Der Junge entspannte sich sichtlich und trat näher. „Wladek schickt mich, ich soll Jacek eine Nachricht übergeben.“

Die Frau streckte die Hand aus. „Na dann her damit.“

Der Junge zögerte.

„Ich bin Jacek“, lächelte sie.

Er runzelte skeptisch die Stirn.

Jacek schmunzelte. „Ich weiß, aber als Tarnung ist das doch nicht schlecht, oder?“

Der Junge grinste und holte einen Papierschnipsel aus seiner Jackentasche. Er gab ihn ihr.

Jacek faltete den Schnipsel auf und überflog die Nachricht.

„Ich soll auf Antwort warten“, sagte der Junge.

„Das geht nicht so schnell.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Ich muss in fünf Minuten erstmal die Nachricht senden.“

Der Junge nickte und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Hinter ihm drücket sich Erich tiefer in den Schatten.

Jacek, die das bemerkte, fragte den Jungen: „Wie alt bist du?“

„Fünfzehn.“

„Wissen deine Eltern, was du tust?“

„Sie sind tot“, antwortete er etwas zu schnell und zu obenhin.

Sie musterte ihn. „Wie heißt du?“

„Zbynek.“

„Zbynek?“ Sie lachte leise auf. „Solltest du nicht zu Hause sein und dich um die Schule kümmern?“

Er straffte sich. „Ich wollte helfen.“

„Helfen?“

„Die Deutschen zu verjagen.“

„Deutsche verjagen, soso. Hoffentlich lässt du mich noch ein Weilchen meine Arbeit machen, ehe du mich auch verjagst.“

Er brauchte einen Moment, um zu verstehen. „Ich meine die bösen Deutschen“, korrigierte er sich zerknirscht. „Die Faschisten.“

Sie schmunzelte kurz, wurde dann wieder ernst. „Deshalb bist du von zu Hause weggelaufen? Du könntest sterben.“

Er straffte sich erneut, hob dabei den Kopf etwas an, als mache er Meldung. „Ich bin bereit.“

„Mit fünfzehn?“ Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt doch gar nicht, wovon du da redest, Miroslaw.“

Er wich einen Schritt zurück. „Ich heiße Zbynek.“

„Tust du nicht. Und du bist auch nicht bereit, zu sterben. Das ist nicht deine Aufgabe.“

„Ich will …“

„… helfen, das sagtest du schon. Und ich sagte, das ist nicht deine Aufgabe. Du musst überleben. Du wirst von uns erzählen. Nach dem Krieg.“

„Von uns …?“

„Also nicht von dir und mir, von dem hier.“ Sie machte eine den Raum umfassende Geste. „Dem Widerstand.“

„Wie meinst du das: erzählen? Ein Buch schreiben oder so?“

Sie lächelte. „Du wirst es sehen, wenn es soweit ist. Vertrau mir.“

„Aber ich kann doch nicht einfach desertieren!“

„Deser… Oh Gott, Miro!“ Sie lachte unfroh auf. „Dein Engagement in allen Ehren, aber du gehörst hier wirklich nicht her. Geh nach Hause und überlebe!“

Er schüttelte trotzig den Kopf.

„Das ist ein Befehl.“ Sie sah zur Uhr und wandte sich dann dem Funkgerät zu. Sie begann zu senden.

Der Junge sah ihr dabei zu. Als sie das Antwortsignal bekommen und das Gerät abgeschaltet hatte, fragte er: „Was ist mit mir?“

Sie sah ihn irritiert an. „Mit dir?“

„Wladek wartet sicher schon.“

„Ach so. Ja.“ Sie nahm den Zettel, den sie von ihm bekommen hatte, und strich etwas darauf durch. Dann gab sie ihm das Papier zurück. Dabei blieb sie einen Moment lang direkt vor ihm stehen und musterte ihn. Plötzlich neigte er sich vor, um sie zu küssen. Sie hielt ihn auf, indem sie einen Schritt nach hinten machte. Gleichzeitig trat Erich aus dem Schatten, die Dielen knarrten. Zbynek fuhr zu ihm herum. Als er die Uniform registrierte, wurde er blass und stolperte rückwärts..

„Ganz ruhig“, sagte Jacek. „Er gehört zu uns.“

Der Junge schaute ein paarmal zweifelnd zwischen ihnen hin und her.

„Lass dich nicht vom Äußeren täuschen“, versuchte Jacek, ihn zu beruhigen.

Erich begann, das Funkgerät zusammenzupacken. „Besser, er ist zu vorsichtig als zu unvorsichtig.“

„Besser wäre, er wäre gar nicht hier“, sagte sie, ihm zur Hand gehend.

„Weil er zu jung ist?“

Sie drehte sich zu Zbynek um, betrachtete ihn.

„Ich bin wirklich nicht zu jung“, beteuerte er.

„Darum geht es gar nicht, Miroslaw. – Also gut, machen wir einen Handel: Du befolgst meinen Befehl und gehst nach Hause. Dein Auftrag: Überleben! Und wenn wir uns wiedersehen, dann bekommst du deinen Kuss. Abgemacht?“

Er nickte eifrig. Dann verschwand er.

Erich und Jacek sahen ihm nach.

„Hast du bemerkt, dass er dir ähnlich sieht?“, sagte sie.

Er schaute sie fragend an.

„Ihr könntet als Brüder durchgehen.“

„Hast du ihn deshalb nach Hause geschickt? Um wenigstens einen zu retten?“ Er lächelte dabei.

Sie lächelte nicht. „Interessanter Gedanke. Aber: Nein, er hat wirklich eine andere Aufgabe, nach dem Krieg.“

„Wieder eine deiner Ahnungen?“

„Sowas in der Art.“

„Du wirst ihn also wiedersehen.“

„Ich ihn? Ja. – Übrigens: Wladek hat einen neuen Briefkasten festgelegt. Ich will ihn mir auf dem Rückweg mal ansehen. Kommst du mit?




Dezember 2014


Pawel konnte Charlston Blackwood schon von Weitem spüren. Er sah aus wie ein schlechter Sherlock-Holmes-Verschnitt, sogar Regenschirm und Pfeife fehlten nicht. Pawel schloss daraus, dass Unauffälligkeit nicht zu dem gehörte, was Blackwood war. Er setzte sich zu ihm auf die Parkbank.

„Ich hoffte, dass Sie anrufen würden“, begrüßte ihn Blackwood. „Sie sind spät dran.“

Pawel sah auf die Uhr.

Blackwood lachte. „Nein nein, nicht zu dieser Verabredung. Zu …“, er sah sich sichernd um und senkte die Stimme, „… Ihrem nächsten Leben.“

„Zu meinem nächsten Leben. Aha. – Hören Sie! Ich habe gerade meinen Vater verloren und ein paar Dinge über ihn erfahren, die mich ernsthaft irritieren. Ich bin wirklich nicht zu Scherzen aufgelegt.“

Blackwood setzte ein mitfühlendes Gesicht auf. „Mein Beileid zu Ihrem Verlust. Einer der Unseren entdeckte Sie bei der Beisetzung, und bat mich …“

„Moment mal! Einer der Ihren?“

„Der Unseren“, korrigierte Blackwood und zeigte dabei auf sich und ihn. „Älter als wir beide zusammen wahrscheinlich, aber sonst … Er bat mich, mich Ihrer anzunehmen.“

„Ich brauche keine Hilfe.“

„Oh doch! Das brauchen Sie. Denn Sie haben keine Ahnung, was Sie sind.“

„Aber Sie wissen es.“

Blackwood nickte. „Sie haben die Gabe.“

„Was meinen Sie? Hellsehen?“

Blackwood drehte sich etwas zu ihm. „Unsterblichkeit.“

„Un…? Ja klar!“ Pawel stand auf. „Für solche Scherze bin ich derzeit nicht zu haben.“

„Setzen Sie sich!“

„Wenn Sie mir was verkaufen wollen …“

„Sie spüren es“, unterbrach ihn Blackwood.

Pawel sah ihn einen Moment lang an. Dann setzte er sich.

„Wir können einander erkennen. Sie können mich spüren, habe ich recht? Also ich kann Sie spüren. Oder vielmehr die Gabe in Ihnen.“

Pawel versuchte, irgendwas zu denken. Alles, was ihm einfiel, war das Bild seines toten Vaters. Er war schmal geworden durch die Krankheit.

„Ich weiß, dass es verwirrend ist. Das ging mir damals ähnlich. Allerdings hatte ich das Glück, schon früh entdeckt zu werden. Mein Aussehen stand noch nicht in so großem Widerspruch zu meinem Alter wie in Ihrem Fall.“

Pawel runzelte die Stirn.

„Sie sind … wie alt? Siebenundfünfzig?“

„Fünfundfünfzig.“

„Gut, fünfundfünfzig. Und Sie wissen sicher, dass Sie jünger aussehen. Wie vierzig? Oder dreißig? Was glauben Sie, wie lange das noch gutgeht?“

„Ich habe mich eben gut gehalten.“

„Glauben Sie das wirklich?“

Er dachte an Evas Bemerkung. Nicht nur sie war irritiert gewesen, einer der Schulfreunde hatte sogar vermutet, er hätte eine Schönheitsoperation machen lassen. Vielleicht hatte Blackwood recht. „Und nun?“

„Punkt eins: Wenn Sie nicht als Versuchskaninchen enden wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass niemand Ihren Zustand bemerkt. Punkt zwei: Es ist generell zu vermeiden, Nichteingeweihten gegenüber etwas verlautbaren zu lassen. Aus ähnlichen Gründen. Und nun zu Ihrem neuen Leben: Sie brauchen … “

„Sekunde bitte!“

Blackwood sah ihn fragend an.

„Was genau ist das, diese Gabe?“

„Unsterblichkeit.“

„Ja, aber was ist das genau.“

„Die Gabe sorgt dafür, dass wir nicht altern oder schon aufgetretene Alterserscheinungen aufgehoben werden. Dazu kommt eine große Selbstheilungskraft, die je nach Intensität der Gabe variiert. Das alles …“

„Das meinte ich nicht. Wie kommt man dazu? Vererbt wird es offenbar nicht.“

„Wohl nicht“, stimmte Blackwood zu. „Wie man die Gabe erwirbt, weiß niemand. Man selbst merkt es ja nicht. Nicht bevor einem auffällt, dass man nicht altert. Oder bis man einen anderen Untersterblichen trifft.“

„Gibt es viele?“

„Unsterbliche? Einige.“

„Im Laufe der Zeit müssen sich doch viele … nun ja: angesammelt haben.“

„Nicht unbedingt. Man kann die Gabe auch verlieren. Das passiert gar nicht mal so selten.“

Pawel lehnte sich zurück. Er bemerkte, dass er Blackwood jedes einzelne Wort glaubte, obwohl sein Verstand sehr wohl die Unsinnigkeit der ganzen Sache wahrnahm. „Erinnert alles ein wenig an Highlander“, sagte er.

„Highlander? Ach so! Dieser Film. Naja, es ist auch so ähnlich. Nur dass wir uns nicht gegenseitig die Köpfe abhacken.“

„Beruhigend“, hörte sich Pawel sagen. Ihm fiel ein Gespräch mit seinem Vater ein, das sie kurz vor dessen Tod geführt hatten. Er habe ein erfülltes Leben gehabt, hatte Miroslaw Król gesagt, trotz allem. Pawel hatte nicht gefragt, was er damit meinte. Sein Vater hatte ihn angesehen und gesagt, er solle das Leben nicht verpassen. Und wenn es nur eine Nacht lang währen würde. Auch das hatte Pawel nicht hinterfragt. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Vielleicht, weil ihm bewusst wurde, dass Zeit für ihn keine Rolle mehr spielen würde. Er sah Blackwood an. „Wie alt sind Sie?“

„Das fragt man nicht.“

„Hundert Jahre? Zweihundert?“

Blackwood blieb ernst. „Das fragt man nicht. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz unter den Unsterblichen. Sag nichts, frag nichts. Die vergangenen Leben sind tabu.“

„Warum?“

Blackwoods Gesicht verschloss sich. „Sie werden es verstehen. Irgendwann.“ Er sah auf seine Uhr. „Sie haben viele Fragen, das ist mir klar. Ich bin allerdings im Moment etwas in Eile. Deshalb erstmal das Wichtigste: Sie brauchen eine neue Identität. Es gibt ein paar Spezialisten, die das bieten können.“

„Neue Papiere?“

„Besser etwas mehr als das. Eine passende Biografie, etwas familiärer Hintergrund – sowas eben. Außerdem sollten Sie bisherige Verbindungen lockern, damit das Verschwinden von Pawel Król nicht zu vielen Leuten auffällt. Und Sie müssen dafür sorgen, dass Sie finanzielle Mittel in Ihr neues Leben mitnehmen können. Außerdem gibt es noch ein paar Besonderheiten, die Sie lernen müssen, aber dazu ein andermal. Erstmal zum Wichtigsten.“ Er reichte ihm einen Zettel mit einer Telefonnummer. „Das hier ist ein Kontakt, der Ihnen in Sachen Papiere weiterhelfen kann. Sagen Sie, Charlie schicke Sie. Sie sollten das als Erstes veranlassen, denn eine passende Identität zu entwickeln, kann ein paar Monate dauern. Sie müssen damit immerhin in den nächsten vierzig oder fünfzig Jahren zurechtkommen. – So.“ Er sah erneut auf seine Uhr. „Ich muss jetzt wirklich gehen.“ Blackwood stand auf. „Verarbeiten Sie das erstmal. Aber nicht vergessen …“ Er legt den Finger über seinen Mund. Dann reichte er Pawel die Hand. „Ich melde mich bei Ihnen. Oder Sie bei mir, die Nummer haben Sie ja. Auf Wiedersehen, Herr Król.“ Damit ging er.

Pawel schaute ihm nach. Er hatte den Eindruck, dass er eine zweite Präsenz in der Ferne spüren konnte. Er sah Blackwood durch die kahlen Büsche hindurch bei jemandem Halt machen. Dessen Statur kam ihm bekannt vor, auch die Gesten, die der Mann machte und die verärgert wirkten. Dann gingen die beiden auf getrennten Wegen fort und Pawel hatte das Gefühl, in eine dieser konspirativen Szenen aus Vaters Serie geraten zu sein. Er verscheuchte den Gedanken und verließ den Park ebenfalls.



Pawel Król hatte den Tag auf dem Dresdner Striezelmarkt zugebracht und dabei die Zeit etwas aus den Augen verloren. Er musste sich sputen, um noch rechtzeitig zu dem vereinbarten Treffpunkt zu kommen. Die Frau, deren Telefonnummer er von Blackwood bekommen hatte, hatte nicht nach seinem Namen gefragt, „Charlie“ schien ihr als Referenz zu genügen. Sie hatte ihn zu einem Spielplatz bestellt, auf dem sie mit ihren Kindern sein würde, und ihm eine Parole genannt. Sie hatte polnisch gesprochen, ihr Name hatte allerdings deutsch geklungen. Carola Bauer.

Als er an dem Spielplatz ankam, sah er sie sofort. Sie und die beiden Kinder waren die Einzigen auf der eher dürftig ausgestatteten Anlage. Das Mädchen schien um die zehn Jahre alt zu sein, sie setzte ihren kleinen Bruder gerade auf eine wenig vertrauenerweckend aussehende Schaukel. Ihre Mutter sah ihnen vom Rand des Platzes aus dabei lächelnd zu. Pawel ertappte sich dabei, wie er nach dem Gefühl ihrer Präsenz forschte. Es war nichts zu spüren.

Er trat zu ihr. „Verzeihen Sie“, sprach er sie auf Polnisch an. „Wissen Sie zufällig, ob es eine Schneiderei in der Nähe gibt?“

Die Frau antwortete: „Es gibt einen Sattler drei Straßen weiter.“ Dabei drehte sich zu ihm, noch immer lächelnd. Sie setzte zu einer Begrüßung an, doch dann erstarrte ihr Gesicht.

Pawel nickte grüßend. „Mein Name ist Pawel Król. Herr Blackwood meinte, Sie könnten das ändern.“

Sie schluckte hart und wandte sich abrupt ab. „Sagte er das.“ Sie winkte ihrer Tochter und rief ihr auf Deutsch zu, sie solle vorsichtig sein. Das Mädchen bremste daraufhin die Schaukel etwas ab, was der Junge offenbar irritiert zur Kenntnis nahm.

Da die Frau schwieg, sagte er: „Verzeihen Sie, das ist alles ist noch recht neu für mich. Ich weiß nicht, wie das jetzt abläuft.“

„Sprachen?“, fragte sie, noch immer stur auf die Kinder schauend. „Englisch, Französisch? Spanisch? Chinesisch?“

„Englisch. Ein wenig. Und Deutsch. Etwas besser.“

Sie nahm es starr zur Kenntnis.

„Ist das alles? Brauchen Sie nicht ein Foto von mir oder sowas?“

„Nicht im Moment.“

„Kontaktdaten, um …“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich dachte mir, ich könnte nach Kraków ziehen, die Stadt ist groß genug …“

Sie sah ihn an. Ihr Blick war feucht. „Machen Sie Witze?“, fragte sie verärgert. „Mit dem Gesicht?“ Sie schnaufte und wandte sich wieder ab.

„Was schlagen Sie denn vor?“

Sie winkte erneut und rief auf Deutsch: „Katja! Wir gehen!“

Er fühlte, wie er ungeduldig wurde. „Entschuldigen Sie, wenn ich etwas ungeschickt bin, aber es ist wirklich eine ungewohnte …“

„Hören Sie!“ Sie drehte sich zu ihm. „Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, aber ich …“ Sie unterbrach sich, um durchzuatmen. Dabei wischte sie sich über die Augen. Wieder wandte sie sich ab. Ihre Tochter kam, den Jungen auf dem Arm. „… ich kann das nicht“, sagte die Frau und eine Träne lief ihr über die Wange. „Charlie soll Ihnen einen anderen Kontakt geben.“

„Aber ich bin extra …“, setzte er an.

Sie ließ ihn stehen und ging auf ihre Tochter zu.

„Mutti, Miroslaw will nicht laufen“, sagte das Mädchen. „Du musst ihn tragen.“

Sie nahm ihr den Jungen ab. Dann sagte sie in Pawels Richtung, doch ohne ihn anzusehen: „Es tut mir leid, aber ich kann das nicht“, nahm Katja an die Hand und ging.
 
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