Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 1

Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 1



Famal hatte sich auf einen ruhigen Abend und eine ebenso ruhige, aber auch einsame, Nacht an ihrem Feuer eingestellt, als der Fremde aus der Dunkelheit auftauchte und auf ihr Lager zu torkelte. Anders konnte sie seine Art der Fortbewegung nicht nennen, aber trotzdem kam keine Angst bei ihr auf. Seitdem sie zu kämpfen gelernt hatte, fürchtete sie sich nicht mehr vor einem einzelnen Mann, egal wie groß und kräftig dieser auch sei. Und der hier stellte sich als ein erstaunlich großes Exemplar heraus und unter normalen Umständen hätte er wohl auch entsprechend viel Kraft besessen. Allerdings nicht in seiner jetzigen Situation.

Zuerst hatte sie in der Dunkelheit, die über der Steppe lag, nicht viel erkennen können, aber dann war der Fremde in den Schein ihres Feuers getorkelt. Dadurch erhielt sie die Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Als erstes sprang ihr dabei ins Auge, wie groß er tatsächlich war. Dann wurde ihr klar, dass er offensichtlich bereits seit mehreren Tagen unterwegs gewesen sein musste und das in einem Gebiet, das einerseits wenig Schatten bot, in dem andererseits viele Pflanzen mit Dornen wuchsen. Da fiel ihr doch sofort der Landstrich ein, der sich nach Osten hin, fast bis zum Fuß der Berge zog. Die Sonne hatte fast seine gesamte ungeschützte Haut verbrannt und er war mit blutigen Kratzern übersät. Und sie hatte nicht übersehen können, dass so gut wie sein ganzer Körper ungeschützt war, denn, was er einmal an Kleidung getragen hatte, bestand nur noch aus Fetzen, die kaum etwas von ihm verbargen. Von seiner kurzen Tunika waren nur einige Streifen übriggeblieben und was auch immer seinen Unterleib und seine Beine bekleidet hatte, war fast völlig zerstört worden, bis auf einen kleinen Rest, der seine Blöße allerdings nur ungenügend bedeckte.

Bei diesem Anblick hätte sie beinahe ihren Kopf weggedreht. Die Wunden und die Verbrennungen störten sie nicht, aber sie hatte in ihrem Leben, bisher, so gut wie keine Erfahrungen mit halbnackten Männern gemacht, denn in ihrer Heimat war sie niemals in eine solche Situation geraten. Auf ihren Reisen im Übrigen auch nicht. Zumindest nicht bis zu diesem Tag.

Der Riese starrte sie an, als hielte er sie für eine nächtliche Erscheinung. Aber plötzlich sank er neben dem Feuer auf die Knie und öffnete den Mund. Was immer er allerdings zu ihr sagen wollte, würde sie wohl nicht erfahren, denn er brachte nicht mehr als ein unverständliches Krächzen hervor. Wahrscheinlich hatte er schon seit Tagen nichts mehr getrunken und deshalb waren seine Zunge und seine Lippen völlig ausgetrocknet. Er trug auch keinen leeren Schlauch oder eine andere Art von Gefäß bei sich. Und sie ging davon aus, dass er auch nichts zu essen dabeigehabt hatte. Allerdings stellte dies ihrer Meinung nach nur das kleinere seiner Probleme dar.

Famal verschwendete keinen Augenblick, um darüber nachzudenken, was sie tun sollte. Noch bevor der Fremde zu Boden ging, hielt sie bereits ihren Wasserschlauch in der Hand und begab sich sofort an seine Seite. Und sie verlor keine Zeit. Sie ließ etwas von der Flüssigkeit über seine Lippen und in seinen Mund fließen, damit ihm bewusst wurde, dass es etwas zu trinken für ihn gab. Sobald er bemerkte, was sie tat, legte er seinen Kopf in den Nacken, um zu verhindern, dass das Wasser wieder aus seinem Mund herausfloss. Er versuchte zu schlucken, brauchte allerdings mehrere Versuche, bis er damit Erfolg hatte. Aber erst als sie sich dessen sicher war, ließ sie weiteres Wasser aus dem Schlauch rinnen, aber immer nur eine kleine Menge.

Sie war geduldig und obwohl ihr nicht entging, wie gerne er mehr und schneller getrunken hätte, ließ auch er sich Zeit. Sie bewunderte seine Disziplin und seine Entschlossenheit. Aber ohne diese Eigenschaften hätte er den Weg an ihr Feuer wahrscheinlich gar nicht erst geschafft. Immer wieder flößte sie ihm kleine Mengen Wasser ein. Von vornherein hatte sie gewusst, dass dies die ganze Nacht dauern würde, aber das störte sie nicht. Auch wenn es für sie bedeutete, keinen Schlaf zu bekommen. Aber es hieß entweder, diese Strapazen auf sich nehmen oder, den Fremden sterben lassen. Und letzteres kam für sie nicht in Frage, auch wenn sie den Mann nicht kannte. Allerdings fiel ihr durchaus auf, dass er umso gefährlicher wirkte, je länger sie sich mit ihm beschäftigte.

Zu Beginn gab es immer wieder längere Phasen, in denen er nicht auf sie reagierte. Aber je mehr Wasser er zu sich nahm und je weiter die Nacht voranschritt, desto besser sprach er auf ihre Hilfe an. Als der Morgen dann anbrach, war er schließlich in der Lage, sie aus klaren Augen anzusehen. Da war ihr klar, dass er das Schlimmste überstanden hatte und sie konnte sich endlich die Zeit nehmen, das Lager auf einen Tag unter der unerbittlichen Sonne vorzubereiten. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, länger hier zu verweilen, aber der Fremde war nicht in der Lage, schon weiterzuziehen. Aus diesem Grund musste sie für Schatten sorgen. Aber dies würde kein Problem darstellen, denn sie hatte sich auch auf so etwas vorbereitet. Sie hatte darauf geachtet, dass ihre Ausrüstung alles enthielt, was sie fürs Überleben in der Steppe benötigte. Dazu gehörte auch ein Sonnenschutz, der einfach aus einem großen Stück Stoff bestand, das sie jetzt zwischen einigen der halbhohen Bäume aufspannte. Sie hatte gestern den Platz für ihr nächtliches Lager auch nach dem Gesichtspunkt ausgewählt, im Notfall den Tag hier verbringen zu können. Auch wenn sie am Abend zuvor keinen Grund gehabt hatte von einem Notfall auszugehen.

Der Fremde hatte sich schließlich auf die Seite fallen lassen und lag nun neben dem Feuer, aber er beobachtete sie genau, bei allem was sie tat. Seine Augen – die von einem dunklen Blau waren, wie sie festgestellt hatte, als es hell genug geworden war – folgten ihr, als sie sich zu ihrem Packpferd begab und in einer der Taschen wühlte. Sie holte einen Topf heraus und Zutaten für Suppe. Außerdem nahm sie auch einen weiteren Wasserschlauch an sich. Nachdem sie gestern ihr Lager aufgeschlagen hatte, war sie auf die Jagd gegangen und dabei erfolgreich gewesen. Aus diesem Grund, hatte sie am Abend keinen Bedarf für eine Suppe gehabt. Aber ihr Überraschungsgast war nicht in der Lage, das über dem Feuer geröstete Fleisch herunterzubekommen. Er benötigte dringend mehr Flüssigkeit, allerdings etwas Nahrhafteres als Wasser.

Als sie sich wieder am Feuer niederließ und mit den Vorbereitungen für die Suppe begann, wollte er sich aufsetzen. Sie erkannte aber sofort, dass dies, von seiner Seite aus, nur ein halbherziger Versuch war und als sie den Kopf schüttelte, ließ er sich sofort wieder zurücksinken. Aber er hörte nicht auf, sie zu beobachten. Und sie ließ ihn auch nicht aus den Augen. Langsam begann sich Misstrauen auf seinem Gesicht auszubreiten und sie erkannte daran, dass er sich Gedanken über seine Lage machte. Dies zeigte ihr aber auch, dass es ihm wieder besser ging, denn in der Nacht hatte er dafür keine Kraft gehabt.

Sie lächelte ihn an, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob ihn das beruhigen würde. Lächeln war nicht unbedingt eine Stärke von ihr, aber ihr fiel nichts Besseres ein. Auf seine Reaktion war sie allerdings nicht vorbereitet. Er riss die Augen auf, als hätte sie etwas völlig Überraschendes getan und dann senkte er seinen Blick, als würde er sich für etwas schämen. Obwohl es wegen der sonnenverbrannten Haut seines Gesichts schwierig zu erkennen war, glaubte sie dennoch, dass er errötete. Nun war es an ihr, sich zu wundern. Sie hatte noch nie erlebt, dass ein Mann auf ihr Lächeln auf diese Art und Weise reagierte. Die meisten wurden nervös und andere hatten über sie gelacht. Einzig ihr Vater stellte in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, denn er hatte immer zurückgelächelt.

Während sie über die Reaktion des Fremden nachdachte, arbeitete sie weiter. Sie füllte den Topf mit Wasser und warf das getrocknete und zerkleinerte Gemüse hinein. Zusätzlich legte sie auch noch einige Streifen des harten Trockenfleisches mit dazu. Den Topf platzierte sie über dem Feuer und dann blieb ihr nur noch, stetig zu rühren. Dies gab ihr erneut Gelegenheit, ihren Gast zu betrachten, diesmal aber unauffällig. Dabei fiel ihr als erstes auf, dass er ein ausnehmend hässliches Exemplar von Mann war. Zumindest, wenn man nicht genauer hinsah. Er hatte ein grobschlächtiges Gesicht mit einer niedrigen Stirn, kleinen Augen, einer breiten und flachen Nase und einem ebenso breiten Mund. Aber sie konnte sich gut vorstellen, dass er ein wunderbares Lachen besaß. Dann bemerkte sie auf einmal, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Wie konnte sie in dieser Situation über das Lachen eines Fremden nachdenken, das sie noch nicht einmal gesehen hatte. Außerdem legte ihr sein Gesichtsausdruck nahe, dass ihm auch nicht nach Lachen zumute war. Und die Falten, die sich in sein Gesicht eingegraben hatten, legten nahe, dass er auch zuvor nicht viel zu lachen gehabt hatte.

Dann ging ihr Blick von seinem Gesicht zu seinem übrigen Körper und sie erinnerte sich daran, dass ihr bereits am gestrigen Abend aufgefallen war, wie groß er war. Sie konnte sich zwar nicht ganz sicher sein, aber sie glaubte, er könnte durchaus größer sein, als sie selbst. Das würde ihn dann zu einem seltenen Exemplar von Mann machen. Aber er war nicht nur groß, sondern auch breitschultrig, mit einem muskulösen Oberkörper und langen Gliedmaßen. Im Gegensatz zu seinem Gesicht, war der Rest von ihm wohlproportioniert und passte zu seiner Gesamtgröße. Dies ließ ihn in ihren Augen äußerst attraktiv erscheinen. Sie errötete erneut. Und ihre Verlegenheit wurde noch größer, als ihr Blick auf seinen Unterleib und die kärglichen Reste seiner Kleidung fiel, die ihn nur ungenügend bedeckten. Sie konnten auf jeden Fall nicht verbergen, dass alles an ihm groß war.

Und dann bemerkte sie, dass sie hier nicht die einzige Person war, die errötete. War sie sich zuvor nicht sicher gewesen, so konnte sie nun klar erkennen, dass seine tiefrote Gesichtsfarbe nicht nur von der Sonne herrührte. Er war ganz offensichtlich ihrem Blick gefolgt, denn er versuchte die Reste seiner Kleidung so über seinen Unterleib zu drapieren, dass sie alles verdeckten. Aber seine Bemühungen waren vergeblich, dafür steigerten sie seine Attraktivität für sie noch einmal. Als ihr das bewusst wurde, nahm ihr Gesicht langsam ebenfalls eine tiefrote Farbe an.

Bevor das für sie und ihn noch unangenehmer werden konnte, ließ sie die Suppe für einen Moment unbeaufsichtigt und begab sich noch einmal zu ihrem Packtier, um in ihren Taschen zu wühlen. Es dauerte einen Augenblick, aber dann hatte sie gefunden, wonach sie suchte. Sie hatte es immer als ihre Übungskleidung bezeichnet, aber genau genommen, war es nichts weiter, als eine weite Hose und ein dazu passendes Hemd. Beides dürfte für ihn etwas zu kurz sein, aber ansonsten müsste es passen. Die Kleidungsstücke waren extra weit geschnitten, damit sie sich beim Üben gut bewegen konnte. Schuhe würden allerdings ein Problem darstellen, denn seine Füße sahen größer aus, als ihre. Ihre Ersatzstiefel würde sie ihm daher nicht anbieten können. Aber sie hatte noch ein paar Sohlen und dazu auch etliche Lederriemen im Gepäck. Damit müsste es eigentlich möglich sein, provisorische Sandalen anzufertigen. Aber das hatte Zeit, bis sie sich um seine Fußsohlen gekümmert hatte. Schließlich war er barfuß unterwegs gewesen.

Sie kehrte mit ihrem Fund zum Feuer zurück. Der Fremde beobachtete sie immer noch, aber inzwischen mit unverhohlenem Misstrauen.

Famal legte die Kleidung neben ihm ab. „Das müsste dir passen. Es wird dich vor der Sonne schützen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Und vor unwillkommenen Blicken.“ Sie konnte nicht anders, sie musste grinsen.

Er blickte auf das Hemd und auf die Hose. Und dann erschien auch auf seinem Gesicht ein Grinsen. Zwar nur ein ganz zaghaftes und auch nur ganz kurz, und dabei wurde er erneut rot, aber zumindest für einen Augenblick, hatte er sein Misstrauen abgelegt.

Sie wandte sich erneut der Suppe zu und nahm das Rühren wieder auf, während er sich bemühte, in eine sitzende Position zu gelangen. Er erweckte dabei nicht den Anschein, als ob ihm das leicht fallen würde, aber er gab nicht auf und war schließlich erfolgreich damit. Nachdem er es endlich geschafft hatte, ins Sitzen zu kommen, ließ er sich Zeit und versuchte erstmal, wieder zu Atem zu kommen. Auch damit hatte er schließlich Erfolg. Erst dann nahm er die Kleidung in die Hand. Das Hemd betrachtete er nur kurz, bevor er die Reste seiner Tunika entfernte. Dabei offenbarte er nichts von seinem Oberkörper, was sie nicht zuvor schon gesehen hatte. Als er das Hemd überstreifte, stellte sie fest, dass sie sich nicht geirrt hatte. Es passte ihm. Sofern er es nicht zuschnürte. Aber es verbarg nichts von seinen Muskeln.

Dann aber runzelte er die Stirn, als er sich die Hose genauer ansah. Seine Reaktion verwirrte sie, bis ihr plötzlich einfiel, was jenseits der Berge lag. Nun wunderte sie sich nicht mehr darüber, dass er nicht besonders glücklich wegen des Kleidungsstücks wirkte, das sie ihm zur Verfügung gestellt hatte. Schon begann sie, über eine Lösung des Problems nachzudenken, als sein Gesichtsausdruck sich entspannte. Ihm war wohl gerade aufgegangen, dass er keine Wahl hatte. Die Reste seines Rockes – denn das war es wohl, was er trug – waren ihm schon jetzt nicht mehr dienlich.

Er sah von der Hose auf und dann zu ihr hin und sein Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an, aber er sah nicht wieder weg. Zuerst verstand sie nicht, was er wollte, aber dann wurde es ihr plötzlich klar. Sie rückte ein Stück von ihm ab, auf die andere Seite des Feuers, und drehte den Kopf zur Seite. Er wollte einfach nicht dabei beobachtet werden, wie er die Hose anzog. Das konnte sie gut nachvollziehen. Trotzdem fiel es ihr erstaunlich schwer, ihre Augen abgewandt zu lassen. Sie versuchte, sich auf die Suppe zu konzentrieren, um sich abzulenken.

Sie hörte wie der Fremde sich mit der Hose abmühte. Er keuchte vor Anstrengung, weil selbst diese, im Normalfall so einfache, Tätigkeit, seine Kräfte fast überstieg. Außerdem war es bestimmt auch nicht sehr angenehm, die Hose über seine zerkratzten und sonnenverbrannten Beine zu ziehen. Aber es könnte auch daran liegen, dass er es nicht gewohnt war, eine Hose zu tragen. Sie wusste nicht viel über das Land hinter den Bergen, bis auf die Bruchstücke, die sie im Süden aufgeschnappt hatte. Geschichten von Frauen in Hosen und mit kurzen Haaren, die Waffen trugen und kämpften. Aber diese Geschichten erzählten auch von Männern in Röcken und mit langem Haar. Dies würde sehr gut passen, denn sein Haar war tatsächlich ziemlich lang. Der Zopf, in dem er es zusammengefasst hatte, ging ihm fast bis zur Taille.

Als sie nichts mehr von ihm hörte, blickte sie wieder auf und zu ihm hin, nur um festzustellen, dass er sich mit der Verschnürung der Hose abmühte. Zuerst dachte sie sein Problem läge darin, dass er mit seinen Fingern – die von der Größe her zum Rest von ihm passten – die Schnüre nicht greifen konnte, aber dann sah sie, dass er kaum in der Lage war, seine linke Hand zu benutzen, die ziemlich zerkratzt worden war. Deshalb konnte er mit ihr nicht gut zugreifen.

„Lass mich dir helfen.“ Sie versuchte ihre Stimme ganz beiläufig klingen zu lassen, als wenn sie jeden Tag fremden Männern anbot, ihnen die Hose zuzuschnüren, aber natürlich gelang ihr das nicht. Trotzdem war sie bereit, ihm zu helfen. Schließlich war es notwendig.

Er sah sie an und nickte, aber er sah dabei nicht glücklich aus. Er sah eher so aus, als ob er sich vor ihr fürchten würde. Allerdings ergab das für sie keinen Sinn. Aber darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken. Stattdessen stand sie auf und begab sich zu ihm, kniete neben ihm nieder und legte dann Hand an. Erst nachdem sie die Schnüre verknotet hatte, sah sie ihm wieder ins Gesicht. Und versuchte sich erneut an einem Lächeln, als sie erkannte, wie angespannt er war.

„Ich bin Famal“, stellte sie sich vor. Sie fand, es war an der Zeit dafür. Er räusperte sich, aber er hatte seine Stimme noch nicht wieder zurückgewonnen. „Lass dir Zeit“, fuhr sie fort. „Die Suppe ist gleich fertig. Wenn du etwas davon gegessen hast, wirst du dich besser fühlen. Ich habe kein Problem damit, solange hier zu bleiben, bis du in der Lage bist, weiterzureisen.“

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Es war Cytys sehr unangenehm, ihre Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Und in dem ungewohnten Kleidungsstück, in dieser Hose, fühlte er sich nicht wirklich wohl. Dies lag nicht etwa daran, dass sich der Stoff auf seiner verbrannten und zerkratzen Haut nicht gut anfühlte. Allerdings auch nicht daran, dass es ihre Hose war – genau, wie es auch ihr Hemd war – die er nun trug. Aber sein Leben lang hatte man ihm eingebläut, dass er keine Hosen zu tragen hatte und nun hatte diese fremde Frau – Famal – ihm eine in die Hand gedrückt. Und sie hatte von ihm erwartet, dass er sie anzog. Sie hatte es zwar nicht mit so eindeutigen Worten ausgedrückt, aber für ihn war es unmissverständlich gewesen. Und an ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass er sich in dieser Hinsicht nicht geirrt hatte.

Er war verwirrt. Wieso bot ihm diese Frau eine Hose an und war dann auch noch zufrieden mit ihm? Und wieso hinderte sie ihn daran, ihr zur Hand zu gehen? Er war sich zwar sicher, dass er dazu nicht in der Lage sein würde, aber das hatte bisher noch keine Vassu davon abgehalten, ihm Arbeit aufzubürden. Seine Verwirrung machte ihn unsicher. Und wenn er unsicher war, begann er sich unwohl zu fühlen. Dazu kam noch, dass ihm die Reaktion seines Körpers, auf ihren Anblick, ebenfalls unangenehm war. Er hatte geglaubt, sich so etwas abgewöhnt zu haben. Schließlich hatten die Vassu ihm schon vor Jahren klargemacht, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollten. Und in den letzten Jahren, hatte es ja auch keine Gelegenheit für ihn gegeben. Er war nicht davon ausgegangen, jemals wieder eine solche Gelegenheit zu erhalten.

Aber die Fremde war nicht wie die Vassu, die ihm das Leben schwer gemacht hatten. Sie war ihm ohne zu zögern zur Hilfe gekommen, als er am vorherigen Abend in ihr Lager gestolpert kam. Ohne auch nur ein einziges Mal mit ihm zu schimpfen. Sie hatte ihm Wasser angeboten und war ihm die ganze Nacht nicht von der Seite gewichen, obwohl er nicht zu viel mehr in der Lage gewesen war, als die Flüssigkeit herunterzuschlucken und nicht umzufallen. Dies hatte seine gesamte Kraft in Anspruch genommen, weil er immer wieder das Gefühl gehabt hatte, gleich umzukippen. Aber diese Blöße wollte er sich dann doch nicht geben, denn solange er saß, war er wenigstens noch in der Lage, sich mit den Resten seines Rocks zu bedecken.

Gegen Morgen blieb ihm dann aber doch nichts anderes übrig, als sich hinzulegen. Nachdem er es aufgegeben hatte, krampfhaft zu versuchen, aufrecht sitzenzubleiben, wurde ihm erneut bewusst, dass sie seine nackten Beine sehen konnte. Da störte es ihn schon fast nicht mehr, dass die Lumpen, die ihm geblieben waren, seinen Unterleib nur unzureichend bedeckten. Wenigstens hatte sich sein Zopf nicht gelöst, ansonsten wäre er vor Scham gestorben. Wäre ihm rechtzeitig aufgefallen, dass die Person am Feuer eine Frau war, hätte er sich ihr gar nicht erst genähert.

Er verstand allerdings nicht, warum er trotz seiner unangenehmen Lage den Blick nicht von ihr abwenden konnte. Er traute sich das aber nur in den Momenten, in denen sie selbst nicht zu ihm hinübersah. Er konnte es aber nicht sein lassen, denn er war von ihr fasziniert. Dies lag vor allem daran, dass er festgestellt hatte, wie groß sie war. Noch nie war ihm eine Vassu von ihrer Größe begegnet. Er glaubte, sie könnte tatsächlich nur wenig kleiner, als er selbst sein. Als sie ihn auch noch anlächelte, merkte er, wie er rot wurde und er hoffte, sie hätte das wegen seines sonnenverbrannten Gesichtes nicht erkennen können. Ihr Lächeln hatte ihr Gesicht noch attraktiver für ihn gemacht. Und er hatte nicht übersehen können, dass ihre dunkelgrünen Augen im Licht der Morgensonne funkelten. Sein Körper reagierte darauf, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte und er war sich sicher, dass sie mitbekommen hatte, was in ihm vorging. Er selbst hatte aber auch nicht übersehen können, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. In dem Moment war er sich sicher gewesen, sie würde ihn auffordern, zu verschwinden.

Stattdessen hatte sie ihm ihr Hemd und ihre Hose angeboten. Und dann auch noch ihre Hilfe, als sie feststellte, dass er seine linke Hand nicht richtig benutzen konnte. Dann teilte sie ihm ihren Namen mit und versicherte ihm, er könne sich Zeit lassen. Sie gab ihm auch zu verstehen, sie würde mit ihrer Weiterreise warten, bis er sich erholt hatte. Und deutete damit an, dass er sie begleiten könnte.

Wäre das eine gute Idee? Er hatte bisher nur schlechte Erfahrungen mit den Vassu gemacht. Aber ihm war auch klar, dass er nicht alleine weiterreisen konnte. Dass er es bis hierher geschafft hatte, schrieb er nur seiner Sturheit und der Tatsache zu, dass er zu dumm war, um seine verzweifelte Lage zu erkennen. Jetzt saß er am Feuer einer Fremden und konnte sich nichts mehr vormachen. Er benötigte ihre Hilfe. Ohne sie würde er nicht weit kommen. Und wenn er alleine hierbleiben müsste, würde er sterben. So viel verstand sogar er. Ganz so dumm war er dann doch nicht.

Auch wenn er sich mit der Hose unwohl fühlte, bedeckte sie zumindest seine Beine. Tatsächlich bedeckte sie mehr von seinen Beinen, als jeder Rock, den er jemals getragen hatte, denn nur noch seine Füße und seine Knöchel waren darunter zu sehen. Er empfand es zwar als unangenehm, die Hose zu tragen, aber er war sehr zufrieden damit, dass die Fremde nicht mehr so viel von seinen nackten Beinen zu sehen bekam.

Auf einmal erwischte er sich dabei, darüber nachzudenken, wie das wäre, wenn sie ein Recht darauf hätte, seine Beine zu sehen. Oder wie er sich fühlen würde, wenn er seinen Zopf in ihrer Gegenwart lösen dürfte. In seinem Bauch breitete sich bei diesen Gedanken ein ungewohntes Gefühl aus. Ihm wurde auf einmal ziemlich warm und er war sich sicher, dass dies nichts mit der Sonne zu tun hatte. Genauso wenig, wie sein rotes Gesicht etwas mit der Sonne zu tun gehabt hatte. Krampfhaft versuchte er an etwas anderes zu denken. Er benutzte sogar seinen Hunger, um sich abzulenken. Vielleicht war es auch das, was er nun fühlte. Hunger. Ausgelöst von dem Geruch der Suppe, die über dem Feuer köchelte. Und in der die Fremde die ganze Zeit über rührte, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass dies tatsächlich notwendig war. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange einen Topf Suppe gerührt zu haben.

Er versuchte erneut etwas zu sagen. Es war unhöflich von ihm, ihr seinen Namen nicht mitzuteilen, nachdem sie sich bereits vorgestellt hatte. Zumal das von ihrer Seite aus nicht notwendig gewesen wäre. Er würde sie niemals mit ihrem Namen ansprechen. Aber seine Stimme war noch nicht zurückgekehrt und er würde nicht mehr als ein Krächzen herausbringen. Und sie würde ihm dann nur erneut befehlen, er solle das sein lassen.

„Die Suppe ist fertig!“ Sie hatte eine angenehm weiche und dunkle Stimme, die, zumindest für eine Frau, sehr tief klang. Und sehr freundlich. Aber dann fiel ihm ein, dass sie nicht mehr freundlich zu ihm sein würde, wenn sie wüsste, was er getan hatte. Um weiter mit ihr reisen zu dürfen, würde er sie anlügen müssen. In seinem Bauch begann sich ein Gefühl auszubreiten, das weder etwas mit Hunger zu tun hatte, noch damit, wie die Fremde auf ihn wirkte.

Er versuchte aufzustehen, um näher an das Feuer heranzurücken. Auch wenn sie die Suppe gekocht hatte, war es immer noch die Aufgabe eines Viri, das Essen zu verteilen. Aber er kam nicht weit. Sie warf ihm einen raschen - und strengen – Blick zu, aber er hatte bereits selbst gemerkt, dass er nicht in der Lage war, sich aufzurichten. Seine Beine waren zu schwach, ihn zu tragen. Sobald sie sicher war, dass er sitzen blieb, wandte sie sich wieder dem Essen zu. Sie nahm zwei verbeulte Schüsseln zur Hand und füllte Suppe hinein. Eine davon brachte sie ihm. Nur mit Mühe schaffte er es sie entgegenzunehmen und hoffte dabei, sie würde das Zittern seiner Hände auf seinen schlechten Zustand schieben.

Die Suppe roch gut. Er musste sich zusammenreißen, um sich nicht an der Schüssel zu verbrennen. Der Hunger und der Geruch machten es ihm aber sehr schwer, zu warten. Erneut machte sich seine Sturheit bezahlt. Er brauchte das Essen, trotzdem konnte er es sich nicht leisten, sich den Mund zu verbrennen. Das wäre selbst für ihn dumm. Er pustete in seine Schüssel, um das Essen abzukühlen, war aber dann doch gezwungen, sie abzustellen, weil er sich ansonsten die Hände verbrannt hätte. Das Metall hatte die Hitze des Inhalts angenommen. Er konnte nur voller Verlangen darauf starren und musste warten. Er hasste es zu warten. Aber er befand sich nicht in einer Position, daran etwas zu ändern.

Die Fremde – er brachte es nicht fertig, von ihr als Famal zu denken – hatte ihre Schüssel ebenfalls vor sich auf den Boden gestellt und tunkte etwas von dem Fleisch hinein, das sie am gestrigen Abend über dem Feuer geröstet und rechtzeitig zur Seite gelegt hatte, bevor sie sich die ganze Nacht mit ihm beschäftigte. Er wusste nicht, wie das Tier im lebendigen Zustand aussehen würde, da er sich noch nie zuvor in der Wildnis aufgehalten hatte, aber jetzt machte es auf ihn einen sehr appetitlichen Eindruck. Und er würde unmöglich etwas davon herunterbekommen. Auch dann nicht, wenn er es, wie sie, in die Suppe tunkte. Aber das änderte nichts daran, dass er wirklich gerne etwas davon gehabt hätte.

Sie hatte seinen Blick bemerkt. „Keine Sorge, wo der herkam, gibt es noch mehr davon. Und morgen, spätestens übermorgen, wirst du auch in der Lage sein, etwas Fleisch zu essen. Aber heute gibt es nur Suppe für dich. Und viel Ruhe. Ich will nicht noch einmal sehen, wie du versuchst aufzustehen. Es sei denn, du musst in die Büsche gehen.“ Sie grinste wieder, genauso wie vorhin, als sie über unwillkommene Blicke gesprochen hatte. Ihr Grinsen gefiel ihm sogar noch besser als ihr Lächeln. Was ihm allerdings nicht gefiel, war ihre Fähigkeit, ihn zu durchschauen. Wie sollte er es unter diesen Umständen schaffen, sie zu belügen?

Er senkte den Blick und tat so, als wäre er mit seiner Suppe beschäftigt. Voller Ungeduld griff er erneut nach der Schüssel, nur um sofort wieder zurückzuzucken. Sie war immer noch zu heiß. Er starrte so intensiv auf sein Essen, als könnte er es mit seinem Blick abkühlen. Er nahm sich fest vor, auf keinen Fall erneut zu ihr hinüberzusehen und stellte trotzdem direkt fest, dass er seinen Kopf wieder gehoben hatte. Er hörte, wie sie leise in sich hineinlachte und er wusste, sie hatte ihn auch dieses Mal durchschaut. Und er wurde erneut rot.

Als er das nächste Mal nach der Schüssel griff, fühlte sie sich immer noch unangenehm warm an, aber er war sich sicher, sich nicht mehr zu verbrennen. Und seine Geduld war am Ende. Er hob die Schüssel hoch und führte sie an den Mund. Die Suppe schmeckte so köstlich, wie sie roch. Und sie füllte seinen Magen auf eine angenehme Weise. Selbst die Hitze empfand er nach der Kälte der Nacht, als sehr angenehm. Fast meinte er zu spüren, wie seine Kräfte wieder in ihn hineinströmten. Trotzdem versuchte er nicht, erneut aufzustehen, denn sie hatte es ihm verboten und diesmal war er gewillt, sich an ihren Befehl zu halten. Er beschäftigte sich lieber mit seinem Essen. Dies war seine erste warme Mahlzeit seit etlichen Tagen. Genau genommen, war dies seine erste Mahlzeit, seit er dem Fluss entronnen war. Die paar Beeren, die er den Dornensträuchern hatte abringen können, zählten nicht als Mahlzeit. Wahrscheinlich war er an vielen essbaren Pflanzen vorbeigekommen, die ihm als Stadtkind nicht aufgefallen waren.

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Famal konnte nicht anders, aber sie musste leise lachen, als sie beobachtete, wie er seine Suppe anstarrte. Ihr war nicht entgangen, dass er sie immer wieder anblickte. Und ihm war auch nicht entgangen, dass ihr Blick immer wieder zu ihm zurückkehrte. Vielleicht hatte es ja etwas mit der Art ihrer Begegnung zu tun. Oder damit, dass sie die einzigen Menschen in dieser Gegend zu sein schienen. Aber sie konnte sie sich noch nicht einmal selbst davon überzeugen, denn sie wusste genau, dass es bei ihr etwas anderes war.

Sie war natürlich auch früher schon Männern begegnet, die ihr gefallen hatten. Aber keiner von denen, hatte auf die gleiche Art auf sie reagiert, wie dieser Fremde. Sie war sich sicher, sein Interesse geweckt zu haben, aber auf eine angenehme und freundliche Weise. Trotzdem vermittelte er ihr den Eindruck, sich vor ihr zu fürchten. Das konnte sie überhaupt nicht verstehen. Wieso sollte ein so großer und kräftiger Kerl, trotz seines schlechten Zustandes, Angst vor ihr haben? Für sie ergab das keinen Sinn. Aber das wäre auch nicht das erste Mal, dass ihr auf ihrer Reise etwas seltsam oder auch unsinnig vorkam.

Die Suppe war immer noch zu heiß, um sie zu essen, aber sie hatte ja noch etwas von dem Fleisch und tunkte es nun ein. Es war danach zwar immer noch hart, aber sie hatte gute und kräftige Zähne und sie konnte sich Zeit lassen. Es war ja nicht so, als ob sie heute noch irgendwo hinwollte. Es sei denn, sie würde den Fremden zurücklassen. Aber das hatte sie auf keinen Fall vor. Es lag nicht in ihrer Natur, eine hilfsbedürftige Person in der Wildnis zu lassen, selbst wenn es sich dabei um eine ihr unbekannte handelte. Oder um einen großen, kräftigen und gefährlich wirkenden Fremden. Und erst recht nicht, wenn es um einen attraktiven Fremden mit derart blauen Augen ging.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er erneut voller Ungeduld nach seiner Schüssel griff. Er war bestimmt ziemlich hungrig, trotzdem hätte sie darauf gewettet, seine Ungeduld rühre auch daher, dass er schlecht warten konnte. Irgendwie hatte sie diesen Eindruck von ihm gewonnen. Die Suppe schien nun ausreichend abgekühlt zu sein, denn er hob die Schüssel an den Mund und schlürfte ihren Inhalt. Seinem Gesichtsausdruck nach genoss er sie, aber sie musste selbst zugeben, dass sie köstlich roch. Trotzdem würde sie selbst lieber noch etwas warten, bis sie sich weiter abgekühlt hatte. Sie benötigte die Suppe aber auch nicht so dringend wie er. Und auch wenn er nicht hatte länger warten können, aß er trotzdem auf eine manierliche Art und Weise. Erneut bewunderte sie seine Disziplin, die ihrer Meinung nach nicht seine einzige gute Eigenschaft war. Aus seinem Verhalten konnte sie eindeutig schließen, dass er auch etwas im Kopf hatte.

Er setzte seine Schüssel erst ab, als sie leer war. Und sie hatte noch nicht einmal mit ihrer angefangen. Sie stand auf, ging zu ihm hinüber und nahm ihm seine leere Schüssel ab. Einen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, er wolle sie ihr nicht überlassen, aber dann gab er nach. Sie ging zum Topf zurück, um sie erneut aufzufüllen und stellte sie dann vor ihm ab. Und wunderte sich darüber, warum er so unglücklich wirkte.

„Ich gehe davon aus, dass du selbst weißt, wie viel von der Suppe du, ohne Probleme, zu dir nehmen kannst. Du machst auf mich einen durchaus vernünftigen Eindruck. Meinetwegen kannst du den ganzen Rest der Suppe haben.“ Sie hatte weitergesprochen, während sie sich wieder niederließ, aus diesem Grund hatte sie ihn nicht die ganze Zeit im Auge behalten können. Als sie ihn wieder anblickte, sah er nicht mehr unglücklich aus. Jetzt wirkte er überrascht. Was an ihren Worten könnte denn nun eine Überraschung für ihn gewesen sein?

Sie wünschte sich, sie wüsste mehr über das Land hinter den Bergen. Sie war überzeugt davon, dass er von dort stammte, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wie er hierher gelangt war. Er befand sich zwar in einem schlechten Zustand, aber er sah nicht so aus, als hätte er das Gebirge zu Fuß umrundet. Und hätte sich eine größere Gruppe in ihrer Nähe befunden, dann wäre ihr das mit Sicherheit aufgefallen. Außerdem war er ja eindeutig aus Richtung der Berge gekommen, obwohl niemand freiwillig durch dieses Gebiet reisen würde. Allerdings war das nicht das einzige, über das sie im Zusammenhang mit ihm rätselte. Er benahm sich einfach nicht wie die Männer, die sie kannte. Aber konnte sie überhaupt behaupten Männer zu kennen? Oder war sie ihnen bisher immer nur begegnet?

Sie schlürfte ihre eigene Suppe. Sie benötigte etwas, mit dem sie sich beschäftigen konnte und die Suppe kam ihr da gerade recht. Sie wollte sich zwar nicht selbst loben, aber sie schmeckte genauso gut, wie sie roch. Vielleicht hätte sie ihm doch nicht den ganzen Rest versprechen sollen? Aber er benötigte sie viel dringender, als sie selbst. Erneut ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken zu dem Fremden zurückkehrten. Aber war das tatsächlich so verwunderlich, wenn ein attraktiver Mann an ihr Feuer gestolpert kam?

Das erinnerte sie wieder an das Problem mit seinen Füßen. Und dann dachte sie an die Schuhe. Aber bevor sie überhaupt einen Gedanken an die Sandalen verschwenden sollte, musste sie sich erst einmal seine Füße ansehen. Und nicht nur um festzustellen, ob ihre Ersatzsohlen passen würden.

„Ich würde mir gerne deine Füße ansehen.“ Sie hatte versucht freundlich zu klingen, aber er schrak trotzdem zusammen. Und versuchte, seine Füße vor ihr zu verstecken.

Sie unterdrückte ein Seufzen. „Du bist tagelang barfuß durch die Gegend gelaufen. Deine Füße müssen doch schmerzen. Es wäre nur vernünftig, mich einen Blick darauf werfen zu lassen.“ Sie sah ihn an. Und er blickte zu Boden, als ob er sich schämen würde. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, deshalb redete sie einfach weiter. „Außerdem will ich sehen, ob ich aus den Sohlen hier …“ sie hielt diese hoch, „… ein Paar Sandalen für dich herstellen kann. Ich meine, ich will sehen, ob sie groß genug dafür sind. Du kannst nämlich unmöglich barfuß weiterreisen. Und ich bin mir sicher, meine Ersatzstiefel werden dir nicht passen.“ War es notwendig, so viel zu reden? Und wieso wirkte er schon wieder so überrascht? Es konnte doch nicht sein, dass er über das Problem mit seinen Füßen noch nicht nachgedacht hatte. Das kam ihr ziemlich unwahrscheinlich vor.

Dann streckte er doch langsam seine Beine aus und sie war endlich in der Lage, einen Blick auf seine Fußsohlen zu werfen. Danach wunderte sie sich nicht mehr, wieso er an ihr Feuer getorkelt war. Stattdessen fragte sie sich, wie er es geschafft hatte, sich überhaupt noch auf seinen Füßen fortzubewegen. Obwohl er sie nun bereits eine ganze Nacht nicht mehr belastet hatte, sahen sie aus, wie rohes Fleisch. Und er hatte sich nicht anmerken lassen, wie stark sie schmerzen mussten.

Er gab einen unterdrückten Laut von sich. Als ob er etwas hätte sagen wollen, es sich aber anders überlegt hatte. Aber dann ging ihr auf, dass er nur auf ihr erschrockenes Einatmen reagiert hatte. Vielleicht war er sich ja wirklich nicht bewusst, wie schlimm es um seine Füße stand.

„Darauf wirst du auch morgen noch nicht wieder gehen können. Wir werden also noch eine Zeitlang hierbleiben. Das stellt aber kein Problem dar. Ich werde einfach noch ein paar Schlingen auslegen. Und ich bin mir sicher, in der Nähe Pflanzen gesehen zu haben, die ich für eine Heilsalbe brauchen kann. Ich bin gleich wieder da.“ ‚Ich rede wieder zu viel‘, dachte sie. Nur um dann doch noch etwas hinzuzufügen. „Geh nicht weg.“

Nachdem sie ihm den Rücken zugedreht hatte, hörte sie hinter sich erneut einen unterdrückten Laut. Als ob er hätte lachen wollen, sich aber nicht getraut hatte.

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Cytys blickte der Vassu nach, als sie sich vom Feuer entfernte. Er hoffte inständig, sie habe sein Lachen nicht gehört. Er hatte noch versucht, es zu unterdrücken, denn er wusste selbstverständlich, wie ungehörig das war. Und er wollte ihr gegenüber nicht ungehörig erscheinen.

Dann fiel ihm wieder ein, wie es sich angehört hatte, als sie nach dem Blick auf seine Füße die Luft abrupt einsog. Wahrscheinlich hätte er schon längst selbst nachsehen sollen, aber er hatte mit Absicht darauf verzichtet. In den Tagen, an denen er sich durch das Dickicht der Dornenbüsche schleppte, hatte er darauf verzichtet, weil er sich sicher gewesen war, er würde danach nicht mehr die Kraft aufbringen, um weiterzugehen. Das aber hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Nachdem er am gestrigen Abend hier angekommen war, hatte er auch nicht nachsehen wollen. Er hatte einfach gehofft, genug Zeit zu haben, um sich zu erholen, bevor sie ihm befahl, weiterzuziehen. Warum sollte er sich also Gedanken über seine Füße machen, wenn er sowieso keinen Einfluss darauf hatte, wie lange er hierbleiben konnte. Und hatte er nicht recht behalten? Nur nicht so, wie er sich das gedacht hatte.

Wieso fühlte er sich dann so unwohl? Eigentlich sollte er doch froh darüber sein, dass sie sich Sorgen um seine Füße machte. Es war ja nicht so, dass er sich nicht selbst Sorgen gemacht hätte. Seine Füße schmerzten schließlich stark genug und er hatte durchaus mitbekommen, dass er blutige Spuren hinterließ. Das hatte sie gestern Abend nur nicht mehr erkennen können. Jetzt aber gab sie ihm die Möglichkeit, sich länger zu erholen und seine Füße nicht unwiederbringlich zu schädigen. Sie wollte ihm sogar Sandalen machen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, an so etwas zu denken. Er hätte auch nie gedacht, dass sie diese Idee tatsächlich umsetzen konnte. Aber inzwischen war er sich sicher, sie unterschätzt zu haben. Sie war hervorragend darauf vorbereitet, durch die Wildnis zu reisen. Im Gegensatz zu ihm.

Allerdings hatte er ja auch nicht geplant gehabt, auf dieser Seite des Gebirges herumzulaufen. Freiwillig hätte er sich nicht durch die Dornenbüsche gekämpft, aber ihm war keine andere Wahl geblieben. Er war gezwungen gewesen mitten durch sie hindurchzugehen, weil er keine Stelle am Flussufer hatte entdecken können, die nicht mit ihnen bedeckt war. Ihre Dornen - so lang wie seine Finger und auch fast genauso dick - hatten seine Haut zerkratzt und den größten Teil seiner Kleidung zerfetzt. Zumindest den Rest, den der Fluss ihm gelassen hatte. Das war schon nicht viel gewesen. Er sah mit Bedauern auf den kümmerlichen Rest seines Rocks. Nicht, dass dies sein Lieblingskleidungsstück gewesen wäre, denn er hatte dessen Kürze immer gehasst. Selbst nach acht Jahren, hatte er sich nicht daran gewöhnen können. Aber nun war er nur noch zwei Handbreit lang und er schätzte sich glücklich, dass so viel von ihm übriggeblieben war.

Vernünftigerweise hätte er den Fetzen wegwerfen sollen. Aber im Gegensatz zu dem, was sie vorhin gesagt hatte, wusste er, dass er nicht vernünftig war. Deshalb klammerte er sich an den Fetzen, um sich daran zu erinnern, was angemessene Kleidung war. Würde die Fremde ihm das übelnehmen, nachdem sie ihm die Hose zur Verfügung gestellt hatte? Würde sie davon ausgehen, er wäre einfach nur undankbar? Obwohl er das gar nicht war. Er fühlte sich einfach nur nicht wohl in der Hose. Er hoffte, er könnte sich daran gewöhnen. Und vielleicht ergab sich für ihn später eine Gelegenheit, sich einen neuen Rock zu nähen. Selbst wenn es nur ein kurzer wäre.

Seine Gedanken gingen zu dem Moment zurück, an dem er in den Fluss gestürzt war. Obwohl das so nicht ganz stimmte, denn genau genommen hatten ihn die Bellae in den Fluss gestoßen. Die gleichen Bellae, die eigentlich den Befehl erhalten hatten, ihn nach Ssuyial zu bringen. Sie hatten ihm natürlich nicht mitgeteilt, was ihn dort erwartete, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas Angenehmes gewesen wäre, etwas, das ihm gefallen hätte. Es gab keinen Grund, dies anzunehmen. In dieser Hinsicht war er jetzt doch besser dran. Aber die Frage blieb, warum sie ihn hatten loswerden wollen, bevor sie ihn im Palast abliefern konnten. Auf jeden Fall hatte er nicht mit so etwas gerechnet. Nur aus einem Reflex heraus hatte er im Fallen nach der Bella gegriffen, die direkt neben ihm gestanden hatte. Und nur reines Glück hatte dazu geführt, dass ausgerechnet sie den Schlüssel für seine Ketten am Gürtel trug. Er konnte es auch kaum glauben, dass er mit der Leiche der Wache nicht direkt im Fluss gelandet war, sondern in dem einzigen größeren Baum, der aus der Wand der Schlucht herausragte. Das hatte ihm das Leben gerettet. In mehr als einer Hinsicht. Wäre er direkt im Fluss gelandet, hätte er sich mit größter Wahrscheinlichkeit das Genick gebrochen. In dem Fall hätte ihn auch seine Kraft nicht retten können. Und wäre er nicht in der Lage gekommen, sich seiner Ketten zu entledigen, hätte er ebenfalls nicht überlebt. Vielleicht wäre er dem Fluss noch entkommen, aber er wäre ganz bestimmt nicht in die Lage versetzt wurden, das Feuer zu erreichen. Und falls er doch bis hierhergekommen wäre, wie hätte die Fremde ihn aufgenommen? Mit Ketten an Händen und Füßen? Sie hätte doch direkt gewusst, dass sie ihm nicht trauen durfte. Wenn sie sich gegen ihn wenden würde, hätte er keine Chance. Er hatte ihr Schwert gesehen und sie machte durchaus den Eindruck, zu wissen, wie man damit umging.

Er blickte auf seine Handgelenke. Hatte sie trotzdem erkannt, woher die Verletzungen stammten? Und die an seinen Knöcheln? Wenn sie nur ein bisschen Erfahrung mit Gefangenen hatte, dann konnte ihr das nicht entgangen sein. Aber sie hatte sich nicht dazu geäußert.

Er war sich sicher, dass er in der Lage war, sie zu überwältigen, sobald er sich erholt hatte. Sie war zwar tatsächlich fast so groß wie er und wirkte auch sehr kräftig, aber an ihn kam sie trotzdem nicht heran. Auf der anderen Seite war sie bewaffnet und er musste davon ausgehen, dass sie ebenfalls gelernt hatte, ohne Waffen zu kämpfen. Er wusste, dass einige der Bellae diese Kunst beherrschten, denn er hatte sie dabei beobachten können, wie sie dies übten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu überlisten. Würde sie ihm glauben, wenn er ihr bis dahin vormachte, keine Gefahr für sie darzustellen?

Und er stellte fest, dass ihm seine Überlegungen nicht gefielen. Sie gefielen ihm noch weniger, als diese Hose tragen zu müssen. Er wollte eigentlich nicht über den Tod der Fremden nachdenken. Aber sollte er sie tatsächlich überwältigen, bliebe ihm nichts anderes übrig, als sie umzubringen. Und es wäre auch nicht das erste Mal, dass er einem Menschen das Leben nahm, allerdings waren seine anderen Opfer alle Virei gewesen. Er hatte nie Hand an eine Vassu gelegt. Hätte man ihn für den Tod einer Vassu verurteilt, wäre er jetzt nicht hier. Die ermordeten Virei hingegen hatten ihn nur in den Steinbruch gebracht. Hier in der Wildnis würde ihn aber niemand erwischen. Er würde kein Risiko eingehen, wenn er die Fremde tötete. Und er wäre endlich frei. Trotzdem wollte er nicht darüber nachdenken.

Und das musste er auch nicht, zumindest jetzt noch nicht. Denn im Moment würde ihm seine Freiheit überhaupt nichts nutzen. In seinem Zustand käme es einem Selbstmord gleich, die Fremde umzubringen. Nur sie war in der Lage, ihm zu helfen. Und sie war ja auch bereit dazu. Sie hatte ihm nichts als Freundlichkeit entgegengebracht, seitdem er gestern auf ihr Lager gestoßen war und hatte keinen Augenblick mit ihrer Hilfe gezögert. Aber vor allem hatte sie ihn nicht auf diese Art und Weise angesehen, wie Vassu das normalerweise taten.

Er stellte fest, dass er sie nicht töten wollte. Sie hatte seine Neugier geweckt und er würde sie gerne besser kennenlernen. Hatte er jemals eine dümmere Idee gehabt? Er glaubte es nicht. Er musste diesen Impuls mit aller Kraft abwürgen. In dieser Situation konnte er sich seine übliche Dummheit nicht erlauben. Jetzt galt es listig zu sein und ihr etwas vorzumachen. Er musste jetzt ein braver Viri sein, bis er sicher war, ohne sie überleben zu können. Erst dann konnte er zuschlagen. Warum dachte er überhaupt darüber nach? Er wollte das nicht. Warum musste er sie töten? Solange er ihr nichts erzählte, musste sie nie erfahren, was er getan hatte. Sie musste nie erfahren, was für ein Mensch er war. Er könnte sich erholen, sie würde ihn aus der Wildnis führen und dann könnte er seiner Wege gehen. Er wäre frei und das, ohne zur Gewalt zu greifen. Dies wäre zwar mal etwas Neues, aber doch nicht unmöglich. Er klammerte sich mit aller Kraft an diesen Gedanken.

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Famal hatte mehrere Schlingen ausgelegt und war sich deshalb sicher, dass ihr mindestens eine von denen weiteres Fleisch liefern würde. Sie hatte auch die Pflanzen gefunden, deren Knollen sie für eine heilende Salbe benutzen konnte. Sie waren ihr bereits aufgefallen, als sie einen Platz für ihr Lager suchte. Dies war etwas, was sie auf ihrer Reise gelernt hatte. Sie musste immer auch die Dinge in ihrer Umgebung in die Planung miteinbeziehen, auch wenn sie nicht direkt etwas damit anfangen konnte. Sie musste für Eventualitäten vorplanen und vorsorgen. Unfälle und Beinahe-Katastrophen waren ungeduldige und harsche Lehrmeister und ihr war nichts anderes übriggeblieben, als schnell zu lernen.

Auf dem Rückweg zum Feuer sah sie noch einmal nach ihrem Packpferd, nur um festzustellen, dass es ihm gutging. Sie konnte es durchaus noch dort belassen, wo es sich jetzt befand. Sie nutzte die Gelegenheit, noch einige Dinge aus den Taschen mitzunehmen, bevor sie zu ihrem Gast zurückkehrte. Diesem ging es offenbar besser, denn er hatte sich nicht wieder hingelegt. Allerdings könnte sie das seinem Gesichtsausdruck niemals entnehmen, denn er sah einfach nur unzufrieden aus. Dies war das einzige Wort, das ihr für seinen Gemütszustand passend erschien.

Sie hielt die Knollen hoch, damit er einen Blick darauf werfen konnte, bevor sie sie ins Feuer legte. „Die sind für deine Füße“, teilte sie ihm mit. Seinem Gesichtsausdruck entnahm sie, dass ihn dies nicht zufriedener machte. Sie beschloss, sich davon nicht irritieren zu lassen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, Tee zuzubereiten. Sie füllte Wasser aus dem Schlauch, den sie mitgebracht hatte, in eine zerbeulte Kanne. Sie sorgte immer dafür, ausreichend Wasservorräte auf ihrem Packpferd zu haben. Sie achtete auch immer darauf, zu wissen, wo sie Nachschub herbekommen konnte. Dieses Mal hatte sie nicht weit zu gehen, um die leeren Schläuche aufzufüllen. Schließlich warf sie noch einige Blätter in die Kanne. Der Fremde benötigte weitere Flüssigkeit, aber sie ging davon aus, dass er etwas anderes als Suppe oder Wasser vorziehen würde.

„Noch Suppe?“, fragte sie ihn aber trotzdem. Er sah sie einige Momente lang an und sie hatte den Eindruck, er wollte seinen Kopf schütteln, aber stattdessen hielt er ihr dann doch seine Schüssel entgegen. Offensichtlich hatte er noch Hunger, deshalb verstand sie nicht, was ihn an ihrer Frage so gestört hatte, dass er lieber auf weitere Nahrung verzichtet hätte. Warum wirkte er auf einmal so unzufrieden und verdrießlich? Sie reichte ihm die gefüllte Schüssel zurück. Vielleicht war er nicht gerne auf Hilfe angewiesen?

Während er sich über seine Suppe hermachte, beschäftigte sie sich mit den restlichen Zutaten für die Salbe. Sie hatte ein Tuch auf dem Boden ausgebreitet, auf dem sie sich alles bereitlegte. Sobald die Knollen lange genug im Feuer gelegen hatten, würde sie diese zerquetschen und alles zu einer Salbe vermengen. Danach konnte sie sich endlich um seine Füße kümmern. Vielleicht war es das, was ihn störte? Vielleicht dachte er, sie würde sich zu viel Zeit lassen? Und er war ja nicht in der Lage, sie zu fragen. Deswegen hatte sie ja den Tee aufgebrüht, aber all dies brauchte seine Zeit. Aber woher sollte er das wissen?

„Ich kann mit den Knollen nichts anfangen, solange sie noch roh sind. Deshalb dauert es leider noch etwas, bis die Salbe fertig ist. Erst dann kann ich mich um deine Füße kümmern. Der Tee in der Kanne hingegen soll deiner Stimme helfen. Zumindest hoffe ich das.“ Ihre Erklärung schien ihn nicht viel fröhlicher zu stimmen. Was ging nur in seinem Kopf vor? Beinahe hätte sie ihn gefragt. Aber sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Und sie wollte auch nicht unsensibel erscheinen.

Sich mit den verschiedenen Dingen am Feuer zu beschäftigen, gab ihr erneut eine gute Gelegenheit, ihn zu beobachten. Dabei konnte sie auch über ihn nachdenken. Sein Verhalten ergab einfach keinen Sinn für sie. Aber wahrscheinlich war das kein Wunder, entstammte er doch einer völlig anderen Kultur, als sie. Einer Kultur, von der sie so gut wie nichts wusste. Eines allerdings war ihr sehr schnell klar geworden. Er trug ein Geheimnis mit sich herum. Das hatte sie in dem Moment begriffen, als sie einen Blick auf seine Handgelenke werfen konnte. Und seine Fußknöchel. Sie wusste, welche Wunden Ketten hinterließen. Sie fragte sich, ob er ihr von sich aus etwas darüber erzählen würde, sobald er wieder sprechen konnte. Aber noch interessanter fand sie die Frage, wie er die Ketten losgeworden war. Dies konnte ihm erst vor ein paar Tagen gelungen sein. Zwischendurch tauchte immer wieder der Gedanke auf, er könnte gefährlich sein, aber sie hatte trotzdem keine Angst vor ihm. Sie wusste genau, dass sie sich erfolgreich verteidigen konnte.

Der Fremde saß ein paar Meter von ihr entfernt, schlürfte seine Suppe und wich ihrem Blick aus, als wenn er etwas zu verbergen hätte. Vor ihr. Und er sah immer noch unzufrieden aus.

Sie nahm einen Stock zur Hand und stocherte damit nach den Knollen im Feuer, um sie vorsichtig aus der Glut herauszuholen. Dann musste sie erneut warten, bis sie etwas abgekühlt waren. Sie stupste sie mit dem Stock an und versuchte herauszufinden, ob sie lange genug im Feuer gelegen hatten. Nach mehreren Versuchen kam sie zu der Erkenntnis, dass sie weich genug waren, um sie zu zerdrücken. Sie holte eine Schale heran, ließ die beiden Knollen hinein rollen und benutzte den schweren Mörser, um sie zu zerquetschen. Sie hielt sich nicht damit auf, die Schale zu entfernen. Sie hatte gelernt, dass es keinen Unterschied machte, außer für die Struktur der Salbe. Und diese war ihr völlig egal, denn sie hatte keinerlei Auswirkungen auf die Nützlichkeit. Nach und nach gab sie die anderen Zutaten hinzu. Sie wusste, wie sie den Mörser zu handhaben hatte, um alles zu einem glatten Brei zu vermengen. Dies war etwas, für das sie sich schon als junges Mädchen interessiert hatte, und nichts, was sie erst auf ihrer Reise lernen musste. Sie hatte ihr Wissen, im Gegenteil, an andere weitergeben können. Im Austausch für Informationen, die sie noch nicht besessen hatte. Sie hielt einen Moment in ihrer Arbeit inne, warf dem Fremden – dem für sie so attraktivem Fremden – einen kurzen Blick zu und benutzte das Tuch, um die Kanne aus dem Feuer zu holen. Der Tee hatte lange genug gekocht und musste jetzt erstmal wieder abkühlen. Aus Erfahrung wusste sie, dass dies schneller ging, wenn er sich bereits in den Trinkbechern befand. Zusammen mit reichlich Honig, der sich in der heißen Flüssigkeit rasch auflösen würde.

Wasserschlauch, Tuch, Salbe, Stoffstreifen. Derart beladen setzte sie sich schließlich neben den Fremden. „Ich werde mich nun um deine Füße kümmern. Bevor ich die Salbe auftragen kann, muss ich die Sohlen erst einmal säubern. Danach werde ich sie verbinden. Wenn ich damit fertig bin, wäre es sehr gut, wenn du sie so wenig wie möglich belasten würdest. Solltest du also pinkeln müssen, dann mach das jetzt. Dort drüben …“, sie zeigte auf einige Büsche ohne Dornen, „… wäre ein geeigneter Platz dafür.“ Sie zögerte einen kurzen Moment. „Wenn du Hilfe beim Aufstehen brauchst, stehe ich zur Verfügung. Ich würde dir auch mit der Hose helfen, wenn nötig.“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich von unzufrieden zu entsetzt. Sie wäre auch nicht begeistert, sollte er tatsächlich ihre Hilfe mit der Hose benötigen. Auf der anderen Seite, hatte sie kein Problem damit, ihm auf die Füße zu helfen. Falls das nötig sein sollte.

Der Fremde hatte die leere Suppenschüssel an die Seite gestellt und nun mühte er sich ab, alleine auf die Füße zu kommen. Dies wirkte ziemlich umständlich und er bewegte sich auch nicht besonders schnell, aber Famal beschloss, sitzen zu bleiben. Auch wenn er gerade nicht sprechen konnte, hätte er andere Möglichkeiten, um Hilfe zu bitten. Sollte er dies beabsichtigen. Danach sah es allerdings nicht aus. Er schaffte es schließlich auch ohne sie und bewegte sich langsam, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, auf die Büsche zu, die sie ihm eben gezeigt hatte. Deren Blattwerk war so dicht, dass sie ihn nicht mehr sehen konnte, sobald er erst einmal zwischen den Blättern verschwunden war, aber an den Bewegungen der Zweige konnte sie trotzdem erkennen, wo er sich befand.

Nach einiger Zeit kehrte er zurück. Irgendwie hatte er es tatsächlich geschafft, die Hose selbst zu verschnüren. Als sie das übernehmen musste, war ihm das sehr unangenehm gewesen. Das hatte er wohl nicht noch einmal durchmachen wollen. Er ließ sich wieder auf seinem Platz nieder, genauso langsam und genau so vorsichtig, wie er sich eben noch vorwärtsbewegt hatte. Bevor sie etwas zu ihm sagen konnte, streckte er ihr seine Füße hin. Mit den schmutzigen, zerschundenen und blutigen Fußsohlen.

Der Schmutz musste als erstes daran glauben. Sie feuchtete das Tuch an und begann vorsichtig Erde, Sand, Steinchen und Pflanzenreste zu entfernen, aber auch getrocknetes Blut. Sie musste sich zusammenreißen, als sie sah, was darunter zum Vorschein kam. Ihrer Überzeugung nach, hätte nicht mehr viel gefehlt und er hätte nie mehr richtig gehen können. Sie glaubte allerdings daran, dass sie ihm helfen konnte. Wenn er es zuließ, konnte sie dafür sorgen, dass alles verheilte. Sie tupfte seine Fußsohlen trocken und begann dann die Salbe aufzutragen. Anschließend umwickelte sie die Füße mit den Stoffstreifen. Diese sollten nicht nur dem Schutz seiner Füße dienen, sondern auch der Salbe Gelegenheit geben, ihre Wirkung zu entfalten.

Schließlich war sie fertig und begab sich zu ihrem Platz zurück. „Ich werde mir deine Füße morgen früh erneut ansehen“, teilte sie ihm mit und stellte die Schale mit der Salbe zur Seite. Sie schätzte, dass der Rest noch für mindesten zwei weitere Behandlungen reichen würde und das müsste ihrer Meinung nach ausreichen. Sie musste zwar auch seine restlichen Verletzungen im Auge behalten, aber keiner der Kratzer schien sich entzündet zu haben.

Sie bückte sich nach den Trinkbechern. „Hier“, sie reichte ihm einen. „Dies sollte gut für deine Stimme sein. Trink den Tee, solange er noch warm ist!“ Inzwischen war sie zu der Annahme gekommen, dass er nicht mit ihr sprechen wollte. Zumindest machte er diesen Eindruck auf sie. Es war auch nicht besonders hilfreich, dass sie sich gerade so angehört hatte, als ob sie ihm einen Befehl erteilen wollte. Das war aber nicht ihre Absicht gewesen. Aus diesem Grund staunte sie nicht schlecht, als er seinen Tee, ohne zu zögern, trank. Und in diesem Moment sah er absolut nicht unzufrieden aus.

„Ich gehe die leeren Wasserschläuche auffüllen. Du bist hier sicher, denn außer uns befindet sich in dieser Gegend niemand. Ich habe auch nicht weit zu gehen und kann im Notfall schnell wieder hier sein.“ In diesem Moment konnte sie sowieso nichts weiter für ihn tun. Wenn sie am Feuer sitzen bliebe, würde sie ihn nur wieder anstarren.

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Cytys sah der Vassu nun schon zum zweiten Mal hinterher. Und danach wieder auf den Becher in seinen Händen. Er hatte ihn fast reflexartig geleert, nachdem sie ihm das befohlen hatte. Dann fiel sein Blick auf seine verbundenen Füße und er wunderte sich erneut. Wieso kümmerte sie sich so intensiv um einen Fremden? Noch nie hatte eine Vassu ein derartiges Interesse an ihm gezeigt. Dies löste Ungewohntes in ihm aus. Er verspürte ungewöhnliche Gefühle dieser Vassu gegenüber. Gefühle, die er sich nicht leisten konnte, in Anbetracht der Dinge, über die er nachgedacht hatte. Er hatte seine Freiheit vor Augen, aber es war möglich, dass die Vassu ihm im Weg stand. Dabei würde sie sicherlich zu Schaden kommen. Und je mehr sie sich um ihn kümmerte, umso unglücklicher fühlte er sich, wenn er an seine Pläne dachte. Was für ein Schlamassel!

Und dann kam noch seine Reaktion auf ihren Befehl dazu. Er war sich sicher, dass sie ihm gar nichts hatte befehlen wollen, aber das änderte nichts. Von Kindesbeinen an hatte man ihm im wahrsten Sinne des Wortes eingebläut, dass die Vassu das Sagen hatten. In den letzten Jahren, hatte er geglaubt, diesen reflexartigen Gehorsam abgelegt zu haben, aber offensichtlich hatte er sich in dieser Hinsicht geirrt. War ihr seine Reaktion aufgefallen? Und wenn ja, was würde sie denken? Wenn sie sich geschickt anstellte, konnte sie jeglichen Versuch seinerseits, sie zu überlisten, zunichtemachen. Das gefiel ihm nicht. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Nachdem ihm diese Fluchtmöglichkeit in den Schoß gefallen war, wollte er sie auch nutzen. Sie jedoch könnte ihn daran hindern. Davon war er inzwischen fest überzeugt.

Er räusperte sich. Der Ton, den er hervorbrachte, klang schon fast wieder normal und erinnerte nicht mehr an dieses grässliche Krächzen, das er vorher von sich gegeben hatte. Als der widerlich süße Tee seine Kehle hinab rann, hatte es ihn geschüttelt, aber gleichzeitig hatte er auch gespürt, wie sich das dickflüssige Getränk über das raue Gefühl in seinem Hals legte. Das fühlte sich ähnlich gut an, wie die Salbe auf seinen schmerzenden Fußsohlen, die die Vassu aufgebracht hatte. In beiden Fällen meinte er praktisch zu spüren, wie sich sein Zustand sofort verbesserte. Allerdings glaubte er auch, dass keine Salbe und kein Trank derart schnell wirken konnten, deshalb musste er sich das eingebildet haben. Trotzdem genoss er dieses Gefühl. Besonders, nachdem er in den letzten Tagen deutlich gespürt hatte, wie es ihm von Tag zu Tag schlechter ging. Er hatte nicht darüber nachdenken wollen, aber im Nachhinein war er sich nur zu bewusst, dass er nicht mehr lange durchgehalten hätte. Wäre er nicht auf die Fremde getroffen, hätte er keine Chance gehabt, zu überleben. Die Dankbarkeit, die er ihr gegenüber verspürte, machte es ihm nicht einfacher, sich Gedanken darüber zu machen, wie er sie ausschalten konnte.

Er räusperte sich erneut. Ihr würde nicht entgehen, dass es ihm besser ging. Dann würde sie sicherlich von ihm erwarten, dass er mit ihr sprach. Wie viel musste er ihr also erzählen? Wie viel durfte er ihr erzählen? Es stand außer Frage, dass er ihr irgendetwas erzählen musste, aber vielleicht konnte er sie ablenken? Wenn er wieder sprechen konnte, dann konnte auch er Fragen stellen. Das würde ihr auf keinen Fall seltsam vorkommen. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass sie gerne wissen würde, was ihm passiert war. Aber sie würde sich sicherlich nicht darüber wundern, wenn er ebenfalls neugierig auf ihre Geschichte war. Außerdem entsprach das sogar der Wahrheit. In dieser Hinsicht musste er sich noch nicht einmal verstellen.

Aber dass ihm der Gedanke so unangenehm war, sie irrezuführen, verwunderte ihn doch. Unter den Virei war es üblich, den Vassu etwas vorzumachen. Natürlich immer nur bis zu einem gewissen Grad. Selbstverständlich war das auch den Vassu bekannt, aber niemand sagte etwas dazu, solange die Befehle befolgt und die Arbeit getan wurde. Es gab zwar auch Ausnahmen, aber im Großem und Ganzen funktionierte das bereits seit Generationen. Cytys war in diesem System großgeworden, er war in den Bräuchen der Virei erzogen worden und hatte gelernt, den Vassu zu gehorchen. Wie alle anderen hatte er versucht, seinen Platz zu finden. Aber in seinem Fall hatte das nicht funktioniert. Seine Familie hatte irgendwann aufgehört, ihn zu unterstützen. Und nachdem die Vassu ihn mehr oder weniger aufgegeben hatten – obwohl sie nie aufgehört hatten, ihn zu bestrafen – war er auch aus der Geborgenheit der Männergesellschaft ausgeschlossen worden. Er konnte die anderen Virei sogar verstehen, denn sie hatten aus reinem Selbstschutz gehandelt. Er wusste, dass ihnen nichts anderes übriggeblieben war, aber es hatte trotzdem geschmerzt. Es hatte ihn aber auch hart gemacht. Und dann hatte er schließlich doch etwas gefunden, in dem er gut war. Obwohl ihm jeder immer und immer wieder erklärt hatte, wie dumm er sei. Es war einfach Pech, dass dies etwas war, das gegen das Gesetz verstieß.

Während die Fremde sich auf dem Weg zurück befand, beobachtete er sie, wie sie sich, beladen mit den Wasserschläuchen, einen Pfad zwischen den Büschen hindurch suchte. Erneut staunte er über ihre Größe, aber auch darüber, wie graziös sie sich bewegte. Sie schritt mit der Sicherheit einer erfahrenen Bella vorwärts, in der Gewissheit ihres Könnens, ohne Furcht, aber nicht ohne Vorsicht. Ihre Kleidung war einfach und zweckmäßig, bestehend aus einer Hose und einem Hemd, mit nur wenig Verzierungen, sowie Stiefel und einem Gürtel. Ganz ähnlich den Sachen, die eine Vassu tragen würde, aber trotzdem anders. Und plötzlich hatte er eine Eingebung. Bei der Fremden musste es sich um eine Oixya handeln. Eine seltsame Erregung durchfloss ihn. Sollte sie tatsächlich aus dem Süden stammen, dann war sie nicht an die Regeln und Bräuche des Imperiums gebunden. Er hatte Geschichten über die südlichen Lande gehört, Geschichten, die er nicht hatte glauben können. In ihnen hieß es, dass Virei dort frei sein sollten. In den Männerquartieren wurden diese Geschichten nur im Flüsterton weitergegeben und nur, wenn man sich sicher sein konnte, dass wirklich keine Vassu in der Nähe war. Die Frauen mochten es absolut nicht, wenn über den Süden gesprochen wurde. Sie wollten nicht, dass die Virei etwas über die Oixya erfuhren. Sobald sie auch nur vermuteten, dass etwas durchgesickert war, bestraften sie die Männer empfindlich.

Bevor die Oixya ans Feuer und damit auch zu ihm zurückkehrte, verstaute sie einige der gefüllten Wasserschläuche bei ihren Packtaschen, die sie in der Nähe ihres Pferdes gelagert hatte. Als sie schließlich beim Feuer ankam, fing sie als erstes an, Ordnung zu schaffen und verstaute einige Dinge wieder in den Taschen. Sie ließ nur das am Feuer zurück, von dem sie offensichtlich ausging, es in nächster Zeit zu benötigen.

Sie sah auf, bemerkte, wie er sie beobachtete und lächelte ihn an. Sie musste eine Oixya sein. Keine Vassu hatte ihn je angelächelt.

„Ich musste einmal einen Lagerplatz überstürzt verlassen und habe dabei wichtige Dinge nicht mitnehmen können. Von denen konnte ich später nicht alles wiederfinden. Seitdem habe ich mir angewöhnt, alles wieder einzupacken, was ich nicht direkt brauche.“ Sie lächelte erneut. „Falls du dich gefragt hast, wieso ich aufräume.“

Diese Frage hatte er sich tatsächlich gestellt. Und wieder einmal hatte sie ihn durchschaut. Einerseits war er erfreut darüber, dass sie ihm derart viel Aufmerksamkeit schenkte. Andererseits hatte er keine guten Erfahrungen mit Vassu gemacht, die sich für ihn interessierten. Die letzten hatten versucht, ihn zu töten, indem sie ihn in eine tiefe Schlucht stießen.

„Oixya.“ Seine Stimme klang immer noch rau, aber er war wieder in der Lage verständliche Laute von sich zu geben. Sie hatte recht behalten mit ihrer Annahme, der Tee könnte hilfreich sein. Er hatte allerdings ebenfalls gehofft, dies würde der Wahrheit entsprechen. Nur deswegen hatte er das ekelhaft süße Getränk überhaupt geschluckt.

Sie sah ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, teils fragend, teils überlegend. Aber dann nickte sie ihm zu.

„Danke“, brachte er hervor und meinte es auch. Das Sprechen schmerzte zwar immer noch, aber es war auszuhalten. Er hatte schon Schlimmeres durchgemacht.

Diesmal lächelte sie nicht. Sie blickte ihn mit ernstem Gesicht an und musterte ihn eindringlich. „Was ich getan habe, sollte eine Selbstverständlichkeit sein für Reisende, die sich in einer derartigen Umgebung aufhalten. Ich nehme deinen Dank gerne entgegen.“

Jetzt war er sich sicher, dass sie eine Oixya war. Keine Vassu, die er kannte, war je auf die Idee gekommen, darauf zu reagieren, wenn er sich bedankt hatte. Ein Viri hatte sich zu bedanken und wehe ihm, er vergaß es.

„Hast du einen Namen, mit dem ich dich ansprechen kann oder ziehst du es vor, Fremder genannt zu werden?“ Jetzt umspielte wieder ein Lächeln ihre Lippen. Er spürte, wie er errötete, denn er fühlte sich ertappt. Er hätte seinen Namen von sich aus nennen sollen.

„Mein Name ist Cytys, Domina.“

Ihr Lächeln verschwand erneut. „Domina? Ist das eine übliche Anrede hinter den Bergen?“ Sie machte eine kurze Pause. „Du kommst doch von der anderen Seite der Berge, oder?“

Er konnte nur nicken. Und er hatte nicht den Eindruck, als hätte ihr die Anrede gefallen. „Mit Domina werden bei uns die Vassu üblicherweise angeredet. Ich wollte nur höflich sein.“ Wie hätte er sie denn sonst anreden sollen?

„Ich weiß nicht viel über dein Land“, gab sie ihm gegenüber zu. „Das Imperium der Vassu wird es genannt, oder?“

Wieder nickte er.

„Damit wärst du ein Vassu? Ist das die richtige Bezeichnung?“ Sie sah ihn fragend an.

Er schüttelte vehement den Kopf. Er ein Vassu! Was für eine Vorstellung. „Nein“, antwortete er ihr, „ich bin ein Viri.“

Sie wirkte verwirrt. „Aber du kommst doch aus Vassucit? Das hast du doch eben selbst gesagt.“

Er stellte fest, dass sie tatsächlich sehr wenig über sein Land wusste. Er musste sich überlegen, was er ihr erzählen sollte. Er durfte ihr nicht zu viel sagen, aber er konnte sie auch nicht anlügen. Es war ja durchaus möglich, dass sie auf weitere Personen trafen, solange er sich noch in ihrer Begleitung befand. Andere Menschen, die ihr ebenfalls etwas über Vassucit erzählen könnten.

„Vassu sind die Frauen, ein Viri ist ein Mann.“ Vielleicht reichte ihr diese Erklärung bereits.

Sie betrachtete ihn mit einem nachdenklichen Blick, unterließ es aber, nachzufragen. Stattdessen hob sie eine der Schuhsohlen hoch, die vor ihr lagen.

„Wenn mich nicht alles täuscht, dann müssten diese groß genug sein, um daraus ein Paar Sandalen für dich herzustellen. Diese werden zwar keinen Schönheitspreis gewinnen, aber ich bin davon überzeugt, dass sie ihren Zweck erfüllen können. Zumindest, bis wir etwas Besseres finden.“ Sie legte die Sohle wieder vor sich ab, direkt neben die zweite und eine Anzahl Lederriemen.

Ihre Idee hatte seine Neugier geweckt. Er war ziemlich geschickt mit seinen Händen und hatte oft etwas hergestellt, daher interessierte es ihn, wie sie weiter vorgehen wollte.

Offensichtlich hatte sie ihm sein Interesse angesehen, denn sie rückte auf einmal näher an ihn heran.

„Ich bin nicht wirklich geübt in solchen Dingen. Wenn ich mit so etwas mein Geld verdienen müsste, wäre ich wahrscheinlich inzwischen verhungert.“ Sie lachte leise. „Und wenn ich meine Kleidung selber nähen müsste, würde ich wohl nackt herumlaufen.“ Es schien ihr nichts auszumachen, zuzugeben, dass sie etwas nicht konnte. Ungewollt verglich er sie erneut mit den Vassu. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine davon einem Viri gegenüber zugeben würde, sie wüsste etwas nicht. Oder sie wäre nicht in der Lage, etwas selbst zu erledigen.

„Ich habe bisher noch keine Idee, wie ich die Riemen und die Sohlen miteinander verbinden kann. Fällt dir vielleicht etwas ein?“ Wieder sah sie ihn fragend an.

Er streckte seine Hand aus und sie legte eine der Sohlen hinein. Nach kurzer Überlegung reichte sie ihm auch einen der Lederriemen.

„Ich habe mir meine eigenen Stiefel einmal genauer angesehen und dabei festgestellt, dass mir das Werkzeug fehlt, um die Riemen an der Sohle festzunähen.“ Sie wirkte ratlos.

Die Sohle war relativ dick und fühlte sich stabil an. Der Riemen war aus festem Leder hergestellt worden, aber trotzdem geschmeidig. Beide Teile vermittelten ihm durchaus den Eindruck, ihren Zweck als provisorisches Schuhwerk erfüllen zu können. Falls man sie irgendwie zusammenfügen konnte.

„Im Notfall könnte man die Riemen einfach um die Sohle und deinen Fuß wickeln. Aber ich weiß nicht, wie lange so etwas halten kann. Es kommt mir nicht sonderlich stabil vor“, fuhr sie fort.

„Darf ich mal das Messer sehen?“, fragte er so höflich, wie er es mit seiner rauen Stimme zustande brachte und wartete ab. Er selbst hätte sich in dieser Situation kein Messer überlassen.

Aber sie schien kein Problem damit zu haben, denn sie reichte es ihm sofort herüber. Es handelte sich um ein solides Allzweckmesser. Und es hatte – und das war für ihn in diesem Moment wichtig – eine ebenso solide und stabile Spitze. Er war davon überzeugt, dass man damit Löcher in die Sohle bohren konnte.

„Hast du eine Idee?“, setzte sie nach.

Er nickte. Und räusperte sich dann nochmal, bevor er ihr antwortete. „Ich habe so etwas auch noch nie gemacht, aber ich glaube, wenn man Löcher oder besser gesagt Schlitze hier in den Rand bohrt, könnte man die Riemen dort hindurch ziehen.“ Er betrachtete noch einmal Sohle, Riemen und Messer und nickte erneut. „Ich würde es selber machen, denn ich bin ganz geschickt mit meinen Händen, aber …“. Er sah auf seine zerkratzten Finger hinunter.

Sie folgte seinem Blick. „Du hast recht. Heute würde dir das auf keinen Fall gelingen. Morgen wahrscheinlich auch noch nicht. Aber übermorgen sieht das bestimmt schon anders aus. Und wir werden auf keinen Fall früher von hier aufbrechen. Was hältst du davon, wenn wir die Fertigstellung dieser Sandalen um zwei Tage verschieben?“

Weil er so erstaunt darüber war, dass sie ihn nach seiner Meinung fragte, konnte er nur nicken. Und als sie die Hand ausstreckte, gab er ihr Sohle, Riemen und Messer zurück, ohne weiter darüber nachzudenken.

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Famal räumte die Ersatzsohlen und die Lederriemen erst einmal wieder weg und steckte das Messer in die Scheide an ihrem Gürtel zurück. Falls Cytys übermorgen in der Lage wäre, die Sandalen selber herzustellen, dann sollte ihr das nur recht sein. Sie hatte sich nie für diese Art von Arbeit begeistern können und sie war auch nicht sehr gut darin. Dies war seltsam, wenn sie bedachte, dass ihre Finger fürs Schreiben geschickt genug waren.

Als sie ans Feuer zurückkehrte, warf sie einen kurzen Blick in den Topf. Von der Suppe war nicht mehr viel übriggeblieben. Der Rest würde auf keinen Fall noch für zwei Personen reichen. Aber sie hatte durchaus berechtigte Hoffnung auf Fleisch fürs Abendessen, denn sie war auf ihrer Reise eine recht gute Fallenstellerin geworden. Allerdings war es jetzt noch zu früh, um nach den Schlingen zu sehen.

Es war aber nicht zu früh, um sich mit ihrem Gast zu unterhalten. Es war nicht zu früh, um herauszufinden, was Cytys zugestoßen war. Obwohl sie wahrscheinlich nur erfahren würde, was er ihr verraten wollte. Vielleicht konnte er ihr aber etwas über seine Heimat erzählen, wenn sie auch nicht glaubte, dass er das gerne tun würde. Sie musste ihm wohl erst einen Anstoß geben.

„Erzähl mir, was dir zugestoßen ist, Cytys!“ Sie ließ ihre Aufforderung wie einen Befehl klingen, weil sie sich gerade daran erinnert hatte, wie er, ohne zu zögern, seinen Tee getrunken hatte, als er dachte, sie hätte es ihm befohlen. Beinahe hätte sie gelacht. Befehle erteilen hatte sie auch erst auf ihrer Reise gelernt.

Aber sie merkte sofort, dass er sich dieses Mal nicht hatte überrumpeln lassen. Zwar öffnete er seinen Mund, schloss ihn aber fast unmittelbar darauf wieder. Offenbar wollte er erst darüber nachdenken, was er ihr erzählen sollte. Sie würde sich auf jeden Fall erst einmal in Ruhe anhören, was er zu sagen hatte und danach entscheiden, wie sie weiter vorgehen sollte.

„Ich bin in eine Schlucht gestürzt. Zum Glück bin ich in dem Fluss gelandet, der durch sie hindurchfließt. Dieser hat mich mit in die Ebene genommen. Ich weiß nicht, wie lange ich gegen den Fluss gekämpft habe, bis er mich endlich hat gehen lassen. Aber er hat mich mitten zwischen Dornenbüschen aus seinem Griff entlassen. Nachdem ich dem nassen Grab entkommen war, gaben sich die Dornen alle Mühe, mich ausbluten zu lassen. Und die Sonne hielt sich nicht damit zurück, mich auszudörren. An dem Punkt war ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich von Vorteil war, den Fluss verlassen zu haben. Ich habe erst gemerkt, dass ich mich doch richtig entschieden habe, als ich auf dein Lager gestoßen bin.“ Er hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet und wollte ihr nicht in die Augen sehen, während er seine Geschichte erzählte. Oder zumindest den Teil seiner Geschichte, den sie seiner Meinung nach erfahren sollte. Und er hatte eine interessante Art, seine Worte zu wählen, die nicht zu seinem Aussehen passte. Sein Äußeres vermittelte den Eindruck, er hätte nicht viel im Kopf. Aber sobald er anfing zu sprechen, musste jedem auffallen, dass er alles andere als dumm war.

„Wie konnte es denn passieren, dass du in die Schlucht gestürzt bist?“, fragte sie ihn mit sanfter Stimme. Sie würde gerne mehr erfahren.

Er hob seinen Kopf an und betrachtete sie mit nachdenklicher Miene, bevor er ihr antwortete. „Ich war im Gebirge in Richtung Ssuyial unterwegs. Einige der Pfade dort oben sind ziemlich schmal. Ich war nur einen Moment unaufmerksam und schon war es geschehen. Ich hatte Glück, in den Fluss zu stürzen. Anders kann ich es nicht ausdrücken.“ Diesmal hatte er sie die ganze Zeit über im Auge behalten, als wollte er direkt mitbekommen, wie sie auf seine Worte reagierte.

„Du hast wahrhaftig Glück gehabt. Das Leben hat dich offensichtlich gesegnet.“ Seine Geschichte passte zu seinen Verletzungen und er könnte durchaus zur Hauptstadt unterwegs gewesen sein. So viel wusste sie zumindest über seine Heimat, dass Ssuyial die größte und wichtigste ihrer Städte war und in der Nähe des Gebirges lag. Aber er hatte ihr nicht alles erzählt. Er hatte die Ketten mit keinem Wort erwähnt. Noch nicht. Sie konnte verstehen, dass er ihr nicht traute. Er wusste rein gar nichts von ihr. Er hielt sie für eine Oixya und sie hatte nicht vor, ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Sie hatte zwar keine Angst vor ihm, aber sie traute ihm auch nicht. Trotz seiner Worte wusste sie nichts über ihn. Aber ihretwegen sollte er seine Geheimnisse noch eine Weile für sich behalten, denn sie würde auch an ihren festhalten. In der Zwischenzeit würde sie die Anwesenheit dieses Mannes an ihrer Seite genießen.

Famal sah in Cytys Anwesenheit kein Problem. Zumindest keines, das sie nicht lösen konnte. Trotzdem zwang ihr Gast sie zu einer Entscheidung. Wenn sie ihn nicht in ein paar Tagen seinem Schicksal überlassen wollte, musste sie ihre Reise unterbrechen. Sie war in Richtung Norden, in Richtung des Sees, unterwegs gewesen und hatte sich auf der Rückreise befunden. Aber wenn er sie weiterhin begleitete, konnte sie nicht in dieser Richtung weiterreisen. Aus diesem Grund, blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder in den Süden zurückzukehren und zu den Städten, die sich dort befanden. Das hätte auch den Vorteil, sich in einfacher zu bewältigendem Gelände zu bewegen. Sie hatte feststellen müssen, dass die Ebene immer unwirtlicher wurde, je weiter man nach Norden kam. Cytys wäre dort, in seiner Verfassung, nur eine Belastung für sie.

Allerdings empfand sie eine Rückkehr in den Süden nicht als ein Problem. Schließlich hatte sie keinen Zeitplan einzuhalten und konnte ihre Reise später immer noch fortsetzen.

Mit Cytys oder ohne ihn.

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Im Laufe ihrer gemeinsamen Reise in Richtung Süden stellte sich bereits nach kurzer Zeit eine gewisse Routine ein. Sobald sie abends ihr Lager aufgeschlagen hatten, kümmerte sich Famal um das Packpferd, legte Schlingen aus und füllte die Wasserschläuche auf. Ihr Begleiter entfachte unterdessen das Feuer und bereitete aus ihren Vorräten etwas zu essen zu. Und kochte Tee.

Sie hatte kein Problem damit zuzugeben, dass er das Essen sehr viel schneller zubereiten konnte, als sie und was er kochte, schmeckte auch noch besser. Wenn man von ihrer Suppe absah. Er hatte auch nicht übertrieben, als er ihr erzählte, er hätte geschickte Hände. Die Sandalen hatte er schließlich selbst angefertigt, nachdem er noch einmal gründlich über ihre Idee nachgedacht hatte. Bisher hielten sie auch und erfüllten ihren Zweck, seine zerschundenen Füße zu schützen, hervorragend. Inzwischen hatte er auch damit begonnen, ihre Kleidung zu reparieren und nicht nur so provisorisch, wie sie es immer getan hatte. Wenn er etwas nähte, sah das nicht nur ordentlich aus, sie hatte auch den Eindruck, es würde länger halten. Und schließlich erwischte sie ihn eines Abends dabei, wie er das Hemd verzierte, das sie ihm überlassen hatte. Sie beobachtete, wie geschickt er auch bei dieser Tätigkeit vorging.

Sie musste zugeben, dass sie ihn nicht für den Typ Mensch gehalten hatte, der seine Kleidung verzieren würde, aber sie hatte ja bereits festgestellt, dass er sie überraschen konnte. Er machte den Eindruck einfach, unwissend und dumm zu sein und stellte sich dann doch immer wieder als etwas völlig anderes heraus. Sie musste ihm nur zuhören, wenn er redete oder zusehen, wenn er seine Hände so geschickt beim Kochen und Nähen einsetzte. Dies waren keine Tätigkeiten, die sie normalerweise mit Männern in Verbindung brachte und sie musste sich dann immer wieder daran erinnern, dass er einer anderen Kultur entstammte. Sie konnte daraus nur schließen, dass sich das Imperium in mehr als nur der Art, sich zu kleiden, von ihrer Heimat unterschied. Oder auch von den Oixya, die ja Nachbarn der Vassu waren. Und der Viri.

Sie hatte über die Sache mit den Vassu und den Viri nachgedacht. Und darüber, dass das Land „Imperium der Vassu“ genannt wurde. Sie hatte sich Gedanken gemacht, wieso er so schockiert darüber war, dass sie ihn einen Vassu genannt hatte. Aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen, wieso dieses Land nach den Frauen benannt worden war. Bei ihrem eigenen Volk, bei den Sarvar, bezeichnete der Name Männer und Frauen gleichermaßen. Zumindest in dieser Hinsicht wurde kein Unterschied zwischen ihnen gemacht. Bei den Oixya sah das auch nicht anders aus. Allerdings gab es im Bund sowieso so gut wie keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Aber im Imperium könnte das ganz anders aussehen. Seine Überraschung über manches, was sie getan oder gesagt hatte, deutete auf so etwas hin. Ihre Überlegungen gingen in eine Richtung, die ihr nicht zusagte und sie stoppte sich schließlich selbst. Sie benötigte erst mehr Informationen, bevor sie sich eine Meinung bilden konnte. Sie musste erst mehr über ihn erfahren, bevor sie sich eine Meinung bilden sollte.

Eines aber war unbestreitbar. Nachdem er seine Arbeit an dem Hemd beendet hatte, sah es sehr viel besser aus. Das hatte sie ihm auch gesagt und ihn damit in Verlegenheit gebracht. Er hatte sich tatsächlich bei ihr dafür entschuldigt, das Hemd verziert zu haben, ohne sie zuvor um Erlaubnis zu fragen. Entsetzt musste sie feststellen, dass nur ihre Zusicherung, es würde ihr tatsächlich gefallen, ihn davon abhielt, seine Arbeit wieder zunichte zu machen. Sie hatte ihm sogar sagen müssen, dass es ihr auch gefallen würde, wenn sie das Hemd selbst trüge.

Eigentlich sollten ihm sein Können und seine Geschicklichkeit Sicherheit geben. Aber ohne es zu wollen, hatte sie ihn mit ihrem Lob aus dem Gleichgewicht gebracht, obwohl sie nicht wusste, wodurch genau sie dies ausgelöst hatte. Sie sah deshalb auch in Zukunft keine Möglichkeit, solche Situationen zu vermeiden. Er war so groß und sah so stark aus, zumindest körperlich, auch wenn er sich noch nicht vollständig von seinen Verletzungen erholt hatte, aber trotzdem war er sehr empfindlich und sensibel. Er war tatsächlich noch sehr viel verletzlicher, als sie sich das hätte vorstellen können. Er weckte in ihr eine Art von Beschützerinstinkt, die sie einem Mann gegenüber noch nie empfunden hatte. Sie wollte ihm auf keinem Fall wehtun, auch wenn er ihr so einiges verheimlichte. Deshalb wünschte sie sich, er würde ihr genug vertrauen, um ihr den Rest seiner Geschichte zu erzählen und sei es nur, damit sie vermeiden konnte, ihn ein weiteres Mal in Verlegenheit zu bringen. Aber sie musste davon ausgehen, dass es in seiner Vergangenheit zu viel Schmerz gab, um so einfach darüber sprechen zu können. In dem Zusammenhang kam ihr die Sache mit den Ketten in den Sinn. Und damit die Frage, was er getan hatte. Aber sie musste sich auch fragen, ob er berechtigt in Ketten gelegt worden war.

Es gab allerdings eine Sache, die er ihr gegenüber ohne Probleme zugegeben hatte. Die Tatsache, dass er nicht wusste, wie man in der Wildnis überlebte, störte ihn offensichtlich nicht. Er hatte es zwar nicht direkt gesagt, aber er war offensichtlich ein Stadtkind und hatte nie Gelegenheit gehabt, etwas über das Leben außerhalb der Stadtmauern zu erfahren. Sie hatte selbst lernen müssen, in der Wildnis zurechtzukommen, aber das war ihr nicht so schwergefallen, da sie auch zuvor schon außerhalb von Städten unterwegs gewesen war. Nur eben nie alleine. Außerdem ging ihr Zuhause nicht wirklich als Stadt durch, zumindest nicht, wenn sie es mit denen der Oixya verglich. Dies sah wahrscheinlich im Imperium nicht anders aus, wenn sie sich die Dinge ins Gedächtnis rief, die er beiläufig von sich gegeben hatte.

Es war nun dreizehn Tage her, dass er an ihr Feuer gestolpert war und seit zehn Tagen reisten sie gemeinsam durch das Velt. In dieser Zeit waren sie sehr viel langsamer vorangekommen, als sie im Vorhinein vermutet hatte, denn auf ihrer einsamen Reise in den Norden war sie um einiges schneller gewesen. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass er sich erholte, aber er war immer noch schlecht zu Fuß unterwegs. Diese Einschränkung hatte sie nicht wirklich einschätzen können. Bei seiner Größe verbot sich auch der Gedanke, ihn auf das Pferd zu setzen, zumal sie auch nicht davon ausging, dass er reiten konnte. Sie selbst war auch deswegen zu Fuß, mit einem Packpferd, unterwegs, weil es Pferde in der passenden Größe für sie – oder ihn – selten gab. Und wenn doch, dann waren sie viel zu teuer, als dass sie es sich leisten könnte, eines oder auch zwei zu erwerben. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als jeden Tag eine Strecke zurückzulegen, die sie alleine ohne Probleme, in viel kürzerer Zeit, geschafft hätte. Aber sie war nun mal gezwungen, ihr Lager abends früher aufzuschlagen, um Rücksicht auf ihn zu nehmen. Es wurde allerdings besser, denn die zurückgelegte Distanz vergrößerte sich kontinuierlich und das Lager konnte jeden Abend später aufgeschlagen werden. Seine Füße sahen inzwischen schon wieder fast normal aus und die Kratzer waren alle verheilt und nur noch schwach zu erkennen. Zum Glück hatte sich keiner von denen entzündet. Aber ihr Weg bis zu den Städten war noch weit. Dadurch hatten sie aber auch noch viel Zeit, einander besser kennenzulernen. Er würde Gelegenheit bekommen, den Rest seiner Geschichte zu erzählen. Und sie hätte ebenfalls die Möglichkeit, ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Und vielleicht fänden sie auch die Zeit für etwas anderes. Etwas, an das sie auf ihren Reisen bisher nie gedacht hatte. Etwas, das sie erröten ließ und sie immer wieder dazu brachte, ihn heimlich zu beobachten.

Auch an diesem Abend blickte sie immer wieder zu ihm hinüber. Sie saßen noch am Feuer zusammen, waren aber bereits mit dem Essen fertig, das er zubereitet hatte. Inzwischen wunderte er sich nicht mehr darüber, dass es jeden Abend Fleisch gab. Die Reste des Abendessens dienten ihnen am nächsten Morgen als Frühstück. Diese Kost wurde durch Früchte und Knollen ergänzt, die sie während ihrer langsamen Reise sammelten. Es war Cytys Aufgabe, daraus ein schmackhaftes Essen zu kochen. Eine Aufgabe, die er jeden Tag ohne große Probleme bewältigte. Auf der anderen Seite war es Famals Aufgabe, für das Fleisch zu sorgen. Auch sie bewältigte das ohne Probleme. Aber über diese – für viele sicherlich ungewohnte – Aufgabenteilung nicht jedes Mal zu schmunzeln, fand sie sehr viel schwieriger.

„Wie geht es deinen Füßen heute?“, wollte sie von ihm wissen. Sie fragte ihn das jeden Abend, denn er hatte die Überprüfung seiner Wunden inzwischen selbst übernommen. Er war dazu durchaus fähig, aber das war nicht der Grund, wieso sie das nicht mehr selbst machte. Dass sie sich richtig entschieden hatte, erkannte sie daran, wie dankbar er war, etwas von seiner Würde zurückerhalten zu haben.

Er hatte seine Sandalen ausgezogen, sobald er saß und konnte ihr deshalb prompt antworten. „Sieht gut aus“, teilte er ihr mit. „Und deine?“ Sie war vor zwei Tagen in ein Loch getreten. Das hatte ihrer Würde nicht gutgetan.

„Ich hatte heute kaum noch Probleme damit. Hab echt Glück gehabt.“ Das war die reine Wahrheit.

Er nickte, nur um dann seinen Mund erneut zu öffnen, als ob er noch etwas sagen wollte. Aber er zögerte und schloss ihn wieder. Vielleicht wollte er sie etwas fragen, das über ihre übliche Abendunterhaltung hinausging.

Sie sah ihn erwartungsvoll an. Er holte tief Luft und versuchte es noch einmal.

„Wie lange darf ich dich noch begleiten? Wann muss ich alleine weiterreisen?“ Er stellte seine Fragen mit leiser, angespannter Stimme. Diese Worte auszusprechen, war ihm sichtlich nicht leichtgefallen.

‚Wie lange schleppt er das wohl schon mit sich herum‘, fragte sie sich in Gedanken. Kein Wunder, dass er den ganzen Tag so still gewesen war.

Beinahe hätte sie ihn schon gefragt, ob er tatsächlich der Meinung war, alleine zurechtzukommen, aber dann unterließ sie es, denn das wäre mehr als nur unhöflich gewesen. Außerdem kannte sie die Antwort bereits. Sie wusste nur nicht, wie er das selbst einschätzte. Aber ihr war klar, dass er verloren wäre, wenn sie ihn allein ließe und dann wäre sie umsonst umgekehrt. Auf einmal ging ihr auf, warum seine Fragen sie so ärgerten. Wie konnte er glauben, sie ließe ihn jetzt einfach im Stich? Hatte er etwa in der Vergangenheit solche Erfahrungen gemacht? Hatte er sich nie auf jemanden verlassen können?

„Ich habe nicht vor, dich alleine zu lassen. Auf jeden Fall nicht, bevor wir die erste Stadt erreicht haben.“

Er sah sie aus weit aufgerissenen Augen an. Das war wohl nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Nun machte er einen verlegenen Eindruck auf sie, als wenn er dachte, sie enttäuscht zu haben.

„Möchtest du nicht mehr mit mir reisen?“, stellte sie ihm eine Gegenfrage.

Er blickte zu Boden, weil er ihr offensichtlich nicht in die Augen sehen konnte. Wieder einmal fiel ihr auf, dass er trotz seiner Größe fürchterlich unsicher war. Sie könnte ihn jetzt auf keinen Fall alleine lassen.

„Du bist nicht sicher mit mir“, platzte er auf einmal heraus und bekam einen roten Kopf.

„Ich bin nicht dieser Meinung“, war ihre ruhige Antwort, denn das war sie tatsächlich nicht.

„Du kennst mich nicht“, gab er trotzig zurück.

Sie lachte leise. Sie hatte das nicht vorgehabt, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. Im gleichen Moment hoffte sie, dass er nun nicht glaubte, sie würde ihn auslachen. Auch wenn er das nicht zugeben würde, war er sehr empfindlich.

„Und du glaubst, du kennst mich?“ Er blieb still. „Du könntest mir etwas erzählen, was ich nicht weiß. Dann würde ich dich besser kennenlernen.“ War er bereits soweit?

Er blieb weiterhin still und wollte sie auch nicht ansehen. Er zeigte an diesem Abend ein ungewohnt störrisches Verhalten. Aber vielleicht war das auch nur seine Unsicherheit. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, was hinter seinem Verhalten steckte.

„Ich mag dich.“ Sie hatte nicht vorgehabt, dies ihm gegenüber zuzugeben, auch wenn es der Wahrheit entsprach. Sie mochte ihn tatsächlich und das ging über diese verdammte körperliche Anziehung hinaus, die ihr bereits die ganzen Tage zusetzte. Er war intelligent, sorgfältig, ein angenehmer Reisebegleiter und er ergänzte sie bei der Aufgabenverteilung.

Ihre Worte ließen ihn erneut erröten, aber leider brachten sie ihn nicht dazu, seinen Blick zu heben. Seine Reaktion bestand im Gegenteil daraus, seine Arme um sich selbst zu schlingen, als benötigte er Schutz vor ihr.

Sie musste energischer werden. „Du wirst mich nicht los! Es wäre besser, wenn du mir etwas erzählen würdest!“ Vielleicht konnte ihr Befehlston ihn aufrütteln? Sie hoffte es zumindest. Es wurde Zeit, dass er ihr davon erzählte, was ihm tatsächlich zugestoßen war. Ob sie ihn direkt nach den Ketten fragen sollte?

„Ich bin gefährlich. Du bist in meiner Nähe nicht sicher.“ Jetzt war sie davon überzeugt, dass er störrisch war und nicht unsicher. „Geh! Lass mich zurück!“

Sie schüttelte den Kopf. „Du machst dir Sorgen um mich. Dann erzähl mir etwas.“ Kein Ton von ihm. Langsam wurde sie wütend. „Hältst du mich für dumm? Und für blind vielleicht auch noch? Meinst du, ich hätte deine Handgelenke nicht gesehen? Oder deine Fußknöchel? Glaubst du, ich wüsste nicht, was das bedeutet? Sprich mit mir!“ In der ganzen Zeit, in der sie jetzt gemeinsam unterwegs waren, hatte sie nie laut werden müssen, aber nun hatte sie zum ersten Mal die Geduld mit ihm verloren. Sie wollte, dass er mit ihr sprach. Jetzt und hier.

Ihre Worte und ihre Lautstärke hatten ihn offensichtlich aufgerüttelt. Er blickte sie erneut an, aber nun erkannte sie Hoffnungslosigkeit in seinem Blick. Er wirkte nicht gefährlich auf sie, er wirkte verzweifelt. Aber weil er nicht mit ihr sprach, kannte sie den Grund dafür nicht.

„Sie hatten recht, mich in Ketten zu legen.“ Sie konnte seine Worte kaum verstehen.

„Wer hatte recht? Wer hat dich in Ketten gelegt?“ Er durfte jetzt nicht aufhören zu reden.

„Die Vassu. Sie hatten recht. Ich bin gefährlich. Sie konnten mich nicht frei herumlaufen lassen. Ich habe gegen das Gesetz verstoßen.“ Jedes Wort schien eine immense Anstrengung für ihn zu sein. „Geh einfach“, bat er sie. Und zeigte ihr damit das Ausmaß seiner Verzweiflung.

Sie würde niemals in Worte fassen können, wie sie sich bei seiner Bitte fühlte. Seine Verzweiflung ging ihr direkt ans Herz. Er saß dort wie ein Kind, das verlassen worden war. Nein, es war viel schlimmer. Er vermittelte ihr den Eindruck eines Kindes, das davon überzeugt war, es wäre richtig, dass man es verlassen hatte. Sie hatte keine Angst vor ihm.

„Ist das immer so gelaufen? Du hast Hilfe gebraucht und man hat dich im Stich gelassen? Glaubst du, das wäre richtig so? Sind das die Erfahrungen, die du gemacht hast?“ Wie sollte sie ihm verständlich machen, dass sie nicht vorhatte, ihn zu verlassen. Er hatte offensichtlich sein ganzes Leben lang immer nur die gegenteilige Erfahrung gemacht.

„Ich bin dumm. Ich verstehe nicht, was die Vassu von mir wollen. Ich mache viele Fehler und ich gefährde andere.“ Es war sein Versuch einer Erklärung, aber in ihren Augen hörte sich das einfach nur an, als würde er wiedergeben, was andere ihm immer wieder vorgeworfen hatten. Glaubte er tatsächlich, was er sagte? War er tatsächlich davon überzeugt, dumm zu sein?

„Wer hat dir gesagt, du wärst dumm?“

„Die Vassu haben das von Anfang an gesagt. ‚Cytys ist dumm. Er versteht nicht, was man ihm sagt. Er kann nichts richtig machen. Er ist zu nichts zu gebrauchen.‘ Die Vassu müssen es doch wissen. Oder? Und die Virei haben es auch gesagt. ‚Geh weg, wir wollen nichts mit dir zu tun haben. Du bringst uns nichts als Ärger.‘ “ Er klang erschöpft und hoffnungslos. Er klang, als wenn er der Meinung wäre, seine Worte entsprächen tatsächlich der Wahrheit.

„Ich verstehe das nicht“, gab sie ihm gegenüber zu. „Was meinst du mit von Anfang an? Und wer sind die Virei?“ Hatte das wieder etwas mit der Kultur seiner Heimat zu tun? Wenn sie doch nur mehr darüber wüsste, dann könnte sie ihn vielleicht verstehen.

„Virei. Männer.“ Er warf ihr diese kurze Erklärung praktisch vor die Füße. Vor ein paar Tagen hatte er ihr erklärt, dass die Vassu die Frauen wären. Wieso machte er einen derartigen Unterschied zwischen Männern und Frauen? Wenn er davon redete, klang es fast, als handele es sich um zwei unterschiedliche Völker. Zwei unterschiedliche Kulturen. Dazu kam, dass er von den Vassu immer so sprach, als wüssten sie alles. Aber vor allem war er offensichtlich davon überzeugt, sie könnten keine Fehler machen.

„Seit wann hat man dir erzählt, du wärst dumm?“, fragte sie noch einmal. Beinahe hätte sie gefragt, seit wann man ihm gesagt hatte, er wäre nichts wert. Sie hatte sich gerade noch zurückhalten können, auch wenn er ihr genau diesen Eindruck vermittelte.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass es mal anders gewesen wäre.“ Bei ihm klang diese schreckliche Feststellung nicht anders, als wenn er ihr mitgeteilt hätte, Wasser wäre nass. Es war eben immer schon so gewesen.

Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen. Und wusste doch, dass sie das nicht durfte, denn er hätte das nicht verstanden. Er war nicht in der Lage dazu, das zu verstehen. Hatte ihn nie jemand in den Arm genommen? Hatte er keine Mutter? Keinen Vater? Selbst wenn ihr Vater wütend auf sie war, hatte er sie doch in den Arm genommen.

„Wenn ich dich jetzt hierlasse, wirst du zugrunde gehen. Ich habe mich nicht die ganzen Tage abgemüht, um dich jetzt sterben zu lassen.“ Würde ihn das erreichen? „Und egal was die Vassu und die Virei zu dir gesagt haben, du bist nicht dumm. Ich weiß das und du solltest das eigentlich auch wissen.“ Wie konnte sie das jemandem klarmachen, dem sein Leben lang gesagt worden war, er wäre dumm? Auf was hatte sie sich eingelassen?

Sie seufzte. „Lassen wir das jetzt, ja? Denk bitte über das nach, was ich gesagt habe. Wir werden gemeinsam weiterreisen und du denkst über meine Worte nach. Und wenn du so weit bist, reden wir erneut.“ Er sah sie nur stumm an.

„Wenn du dumm bist, bin ich es auch.“ Darauf reagierte er endlich. Er schüttelte seinen Kopf. Natürlich glaubte er ihr nicht. Wie sollte er auch.

„Wirst du weiter mit mir reisen?“ Er hatte ihr noch keine Antwort gegeben.

Er sah sie lange stumm an. Und nickte dann endlich, als wenn er zu müde wäre, etwas anderes zu tun.



Wird fortgesetzt in „Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 2
 
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