Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 2

Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 2 – Fortsetzung von „Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 1

In den letzten Tagen hatte ihr Weg sie in Richtung Gebirge geführt und inzwischen waren sie in den Hügeln angekommen, die vor den Bergen lagen. Jetzt kamen sie zwar nicht mehr so schnell voran, wie zuvor, dafür waren aber die Temperaturen angenehmer. Und sie bewegten sich nun zwischen richtigen Bäumen hindurch, nicht mehr zwischen den Winzlingen, die auf der Ebene wuchsen. Hier könnte sie sich fast heimisch fühlen, wenn es nicht so hügelig wäre.

Cytys hatte nicht noch einmal davon angefangen, dass sie ihn sich selbst überlassen sollte. Aber er hatte ihr auch nichts Neues erzählt. Sie waren bei ihrer etablierten Routine geblieben und hatten nur über Belangloses geredet. Sie hatten darüber gesprochen, dass er sich inzwischen vollständig erholt hatte. Oder dass sie sich immer noch auf der schnellsten Route befanden, um die Städte der Oixya zu erreichen.

Aber der heutige Tag war anders, als die vorangegangenen. Die ganze Zeit über war ihr aufgefallen, dass er sie beobachtete. Ihm gefiel nicht, dass sie es mitbekommen hatte. Gesagt hatte er aber nichts. Inzwischen hatten sie ihr Lager unter einem Felsvorsprung aufgeschlagen und saßen sich beim Essen schweigend gegenüber. Er wirkte viel nachdenklicher als sonst. Er hatte zwar jeden Abend am Feuer gegrübelt, aber heute schien er mehr als üblich mit seinen Überlegungen beschäftigt zu sein. Famal beschloss abzuwarten, wohin das führen würde. Sie würde auf jeden Fall nicht als erste anfangen zu reden.

Sie verzehrte den Rest ihrer Mahlzeit aus Fleisch und gerösteten Knollen und leckte sich das Fett von den Fingern. Einen Augenblick lang dachte sie darüber nach, was ihr Vater dazu sagen würde. Seine Tochter saß alleine in der Wildnis, zusammen mit einem fremden Mann und aß mit den Fingern. Genau wie in den Geschichten aus seiner Jugend. Mit dem Unterschied, dass sie eine Frau war. „Das war wieder köstlich. Ich habe auf meiner Reise bisher nie so gut gegessen, vor allem nicht, wenn ich selbst kochen musste.“ Das war keine Schmeichelei, denn es entsprach voll und ganz der Wahrheit. „Wie gut, dass ich mich so viel bewegen muss oder ich würde fett werden.“ Sie lachte leise.

Zu ihrer großen Überraschung lachte er ebenfalls. Zwar nur kurz und er sah sie dabei nicht an, aber es war trotzdem etwas Neues. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Essen so schlecht sein soll, wie du mir immer erzählst. Deine Suppe hat mir geschmeckt.“ Er sah endlich auf. Er lachte zwar nicht mehr, aber er sah auch nicht so ernst aus, wie zuvor. Fast schien es ihr, als ob ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielte. Schade, dass sie sein Lachen nicht hatte sehen können, denn darauf wartete sie schon, seit sie ihn kennengelernt hatte.

„Die Suppe ist meine Spezialität. Außerdem warst du halb verhungert, dir hätte alles geschmeckt.“ Jetzt war es an ihr zu lächeln. Und er überraschte sie mit einem weiteren Lachen und diesmal versteckte er es nicht. In dem Moment stellte sie fest, dass sie sich am ersten Tag nicht geirrt hatte. Sein Lachen gefiel ihr. Und es war ansteckend. Sie konnte nichts dagegen tun. Und es fühlte sich völlig richtig an.

Cytys hörte genauso unerwartet mit dem Lachen wieder auf, wie er damit begonnen hatte. Er sah sie lange an, dachte aber offensichtlich gleichzeitig nach. Sie hoffte, es bedeutete, er werde ihr heute endlich mehr erzählen.

„Selbst ich habe inzwischen begriffen, dass du mich nicht loswerden willst.“ Versuchte er sich an Humor? „Ich schulde dir etwas. Ich schulde dir sogar sehr viel, denn ohne dich hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt.“

Was sollte sie dazu sagen? Er hatte ja recht, was seine Überlebenschancen anging.

„Aber du solltest mir nicht vertrauen. Ich habe schon einmal gesagt, dass die Vassu mir die Ketten zu Recht angelegt hatten.“ Im Gegensatz zu dem letzten Gespräch über dieses Thema wich er ihrem Blick nicht aus. Aber er wirkte sehr ernst, wenn auch nicht mehr so unsicher wie zuvor.

„Du hast mir aber nicht erzählt, wieso sie recht hatten. Was hast du gemacht?“, fragte sie ihn mit sanfter Stimme. Sie wollte, dass er weitersprach.

„Ich habe elf Virei getötet.“ Jetzt beobachtete er sie genau und bekam daher direkt mit, wie sich Bestürzung auf ihrem Gesicht breitmachte. Mit dieser Aussage hatte sie nicht gerechnet. Hatte er vielleicht doch von vornherein recht damit gehabt, er wäre eine Gefahr für sie? Aber dann dachte sie an den Vorfall, der sie auf ihre Reise geschickt hatte. Sie dachte daran, dass sie bisher nie mit jemandem darüber gesprochen hatte. Wer war sie, ihn zu verurteilen?

„Warum hast du sie getötet?“, wollte sie von ihm wissen. Sie war zwar nicht mehr ganz so ruhig, wie zuvor, aber sie wollte jetzt alles erfahren.

Er verzog sein Gesicht. Hatte er etwa damit gerechnet, sie würde aufspringen und wegrennen? „Weil ich es konnte“, war seine störrische und viel zu kurze Antwort.

„Du schuldest mir eine Erklärung“, versuchte sie ihn zum Weitersprechen zu animieren. „Was du gesagt hast, reicht mir nicht. Da steckt mehr dahinter. Ich will jetzt alles wissen. Ich will die Gründe erfahren.“

„Das verstehst du nicht“, hielt er ihr entgegen. „Du hast selbst gesagt, du weißt so gut wie nichts über das Imperium.“

„Dann sorg dafür, dass ich es verstehen kann.“ Sie würde nicht lockerlassen. An diesem Abend musste er ihr alles erzählen.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht wechselte von störrischer Entschlossenheit zu Hoffnungslosigkeit. Und dann von Hoffnungslosigkeit zu Schmerz. Aber diesen Schmerz fühlte sie auch, als sie sah, dass er sich genau wie an den vergangenen Tagen sperrte. Und sie wusste nicht mehr, was sie noch machen sollte Aber während sie noch grübelte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck auf einmal. Plötzlich wirkte er gelassen und entspannt.

„Beim ersten Mal war es ein Versehen.“ Er sprach mit leiser Stimme, klang aber nicht mehr zögerlich. „Aber damals habe ich das erste Mal erlebt, dass jemand Angst vor mir hatte. Ich konnte es in seinen Augen sehen, bevor er starb. Das löste ein ungewohntes Gefühl in mir aus. Mir war nicht gleich klar, dass ich die Macht fühlte, die ich in dem Moment über ihn hatte. Das Gefühl erschreckte mich allerdings. Meine Tat machte mir Angst.“

Er machte eine kurze Pause und sah sie an, als ob er wissen wollte, wie sie auf seine Worte reagierte. Sie hoffte, ihr Gesichtsausdruck würde ihn nicht vom Weiterreden abhalten.

„Ich bin einfach weggelaufen. Ich habe nicht nachgesehen, ob er tatsächlich tot war. Ich habe nicht darauf geachtet, ob mich jemand gesehen hatte. Ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Aber nachdem man ihn endlich gefunden hatte, wurde ich nicht verdächtigt. Das war zwei Tage später. Da fühlte ich erneut etwas Ungewohntes. Zum ersten Mal in meinem Leben war mir etwas gelungen. Die Menschen um mich herum rätselten, wer der geheimnisvolle Mörder sei, der unerkannt entkommen konnte.“

Wieder hörte er auf zu sprechen und blickte stattdessen zu ihr hinüber. Vielleicht wartete er auf eine Antwort von ihr. Sie hatte aber nicht vor, sich jetzt zu dem zu äußern, was er erzählt hatte. Sie wollte ihn jetzt nicht unterbrechen. Außerdem musste sie erst gründlich über das nachdenken, was sie gehört hatte. Vielleicht hätte sie schockiert sein sollen, aber das war sie nicht, allerdings konnte das durchaus noch kommen.

„Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Gefühl für mich war. Nachdem mir jahrelang erzählt worden war, ich würde nichts zustande bringen, hörte ich auf einmal, wie die anderen über diesen Unbekannten sprachen. Wie sie ihn bewunderten. Und kein Wort darüber, er wäre unfähig.“ Er holte tief Luft. „Trotzdem wollte ich das nicht wiederholen. Es war schrecklich, den anderen dort liegen zu sehen. Gleichzeitig war es aber auch aufregend. Ich habe mich schlecht gefühlt, aber auch gut. Ich war ziemlich verwirrt. Und ich hatte niemandem, mit dem ich darüber sprechen konnte.“

Sie konnte sich viel besser vorstellen, wie er sich gefühlt hatte, als er das glauben würde.

„Viele Monate ging mein Leben danach so weiter wie zuvor. Die Vassu nannten mich dumm und unfähig. Ich konnte ihnen nie etwas richtig machen. Und die Virei wollten immer weniger mit mir zu tun haben. Ich träumte von dem toten Viri und von dem guten Gefühl, das ich verspürt hatte. Ich versuchte den Schrecken zu vergessen. Und dann ergab sich eine neue Gelegenheit und ich habe den zweiten Mann getötet. Erneut wurde ich nicht verdächtigt. Der Schrecken war dieses Mal nicht mehr so groß und ich fühlte mich gut. Für eine geraume Zeit.“

Wieso war sie nicht entsetzt? Vielleicht weil sie wusste, wie er sich gefühlt hatte?

„Mich hat nie jemand verdächtigt. Das hat mich schließlich unvorsichtig werden lassen. Am Ende wurde ich auf frischer Tat ertappt. Wieder einmal hatte ich bewiesen, dass ich nichts zustande bringen kann. Aber da ich nur Virei getötet hatte, bin ich im Steinbruch gelandet. Dort habe ich die letzten acht Jahre verbracht.“

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Cytys hatte die halbe Nacht geredet und Famal alles erzählt. Wie er im Steinbruch die anderen Gefangenen terrorisiert hatte und das den Wachen völlig egal gewesen war. Wie eines Tages andere Bellae aus Ssuyial gekommen waren und ihn mitgenommen hatten, um ihn dann in die Schlucht zu stürzen. Wie er das hatte überleben können. Die ganze Zeit über hatte sie dort gesessen und ihn nur angesehen. Sie hatte ihn reden lassen, hatte ihn nicht unterbrochen und hatte auch nichts dazu gesagt. Er hatte Abscheu und Wut erwartet. Er hatte auch erwartet, sie würde ihm sagen, er solle sofort gehen. Er hatte sogar erwartet, sie würde ihr Schwert ziehen und ihn erschlagen. Aber nichts davon war geschehen. Als er fertig war, hatte sie nur gesagt, sie müsse nachdenken. Und war dann in der Dunkelheit verschwunden.

Und er war am Feuer sitzen geblieben und hatte gewartet. Er hatte darüber nachgedacht, was er machen würde, wenn er alleine weiterreisen müsste. Er war sich durchaus bewusst, wie schlecht seine Chancen in der Wildnis standen, wenn sie ihm nicht mehr helfen würde. Aber wenn sie das, verlangte würde er gehen. Ob sie ihm erlauben würde, etwas mitzunehmen?

Aber je länger sie wegblieb, desto mehr kreisten seine Gedanken um sie. Wo blieb sie? Sie war schon so lange weg, dass er Angst bekam. Angst um sie. Wenn ihr nun im Dunkeln etwas passiert wäre?

Er sprang auf. Er hatte viel zu lange am Feuer gesessen und nur an sich gedacht. Sie war immer so selbstsicher, deshalb war er nicht auf die Idee gekommen, ihr könnte etwas zugestoßen sein.

Er hatte auch nicht mitbekommen, dass die Dämmerung hereingebrochen war. Er war derart in Gedanken versunken, dass er tatsächlich nicht gemerkt hatte, wie es immer heller wurde. Ihm war völlig entgangen, dass die Nacht vorbei war. Und Famal war bisher nicht zurückgekehrt. Ihm brach der Schweiß aus. Am liebsten wäre er sofort losgerannt, konnte sich aber dann doch zusammenreißen. Es würde Famal nichts nützen, wenn er jetzt kopflos durch die Gegend irrte. Er musste nachdenken. Konnte er es sich erlauben, zu warten, bis es noch etwas heller geworden war? Bis er mehr erkennen konnte? Aber wonach sollte er suchen? Er war nicht gerade gut im Spurenlesen. Genau genommen, war er hier draußen in der Wildnis, zu nichts zu gebrauchen. Er war in Ssuyial aufgewachsen und das erste Mal aus der Stadt herausgekommen, als man ihn zum Steinbruch brachte.

Er sollte besser nach ihr rufen. Er holte tief Luft, brach den Versuch aber sofort wieder ab. Was sollte er denn rufen? Domina? Würde sie darauf reagieren? Er schüttelte den Kopf, weil er das nicht glaubte. Sie würde nur auf ihren Namen reagieren. Auf Famal. Aber das konnte er nicht. Er konnte sie nicht einfach bei ihrem Namen rufen. Das war unmöglich. Völlig unmöglich. Er konnte eine Frau nicht einfach bei ihrem Namen nennen. Das war nicht erlaubt. Dies hatten ihm die Vassu immer wieder eingebläut, solange er sich zurückerinnern konnte. Und doch musste er es tun. Es ging nicht anders. Wenn sie in Gefahr war, dann musste er ihr helfen. Sie hatte ihm auch geholfen, ohne Fragen zu stellen. Alleine deswegen war er ihr etwas schuldig. Aber das war nicht alles. Da war mehr. Allerdings war das jetzt auch nicht wichtig.

„Famal!“, rief er. „Famal! Wo bist du?“ Er konnte nichts erkennen. Sie befand sich nicht in der Nähe des Lagerplatzes. „Famal!“ Vielleicht sollte er ein Stück höher klettern, dann könnte er mehr erkennen. Sofern er dabei nicht abstürzte. Er hatte nicht viel Erfahrung im Klettern. Auch so eine Wildnissache.

Er holte noch einmal tief Luft. Es nutzte ihr nichts, wenn er in Panik verfiel. Er musste ruhig bleiben.

„Famal!“ Es war ihm jetzt egal, ob es richtig war, ihren Namen zu rufen. Darüber konnte sie entscheiden, wenn sie wieder da war. Wenn es ihr gut ging.

Er lauschte. Wenn sie gestürzt war und versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen, dann musste er in der Lage sein, sie zu hören. Hatte sie gerufen und er hatte das nicht mitbekommen, weil er zu laut gewesen war? Aber da war nichts. Nur der Wind in den Bäumen.

Und dann hörte er doch etwas und zwar hinter der Wegbiegung. Hinter den Felsen, die ihm die Sicht versperrten. Er wandte sich in diese Richtung und ging der Quelle des Geräusches entgegen. Für ihn hörte es sich so an, als ob jemand den Weg entlangkäme. Aber er konnte immer noch nichts erkennen. Und kam sich deswegen unbehaglich vor. Was sollte er machen, wenn sich dort ein Fremder näherte?

Dann kam Famal um die Biegung herum in Sicht und er atmete erleichtert auf. Sie wirkte unverletzt. Als sie ihn erblickte, blieb sie allerdings abrupt stehen und sah ihn verwirrt an.

Sein Herz schlug wie verrückt. „Domina, ich habe mir Sorgen gemacht. Die Nacht ist vorbei und du bist nicht zurückgekommen. Ich habe dich gerufen.“

Sie lächelte. Er konnte es nicht glauben, aber sie lächelte. „Ich habe dich gehört. Es tut mir leid, ich habe nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Ich musste über vieles nachdenken.“ Sie lächelte immer noch.

Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Wie konnte sie ihn anlächeln, nach allem, was er ihr in der letzten Nacht erzählt hatte.

Sie kam ganz nahe an ihn heran und sah ihm direkt ins Gesicht. Sie wirkte völlig ruhig und sie lächelte immer noch. „Lass uns zum Feuer zurückgehen. Ich glaube nicht, dass wir heute weiterreisen sollten. Ich habe nicht geschlafen und du ja wohl auch nicht. Außerdem würde ich ganz gerne etwas über das Leben im Imperium erfahren.“

Sie ging an ihm vorbei und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er wunderte sich, denn er verstand sie nicht. Wie konnte sie in seiner Nähe so ruhig bleiben?

Am Feuer angekommen, schnappte sie sich die Kanne und füllte sie mit Wasser aus einem der Schläuche. Dann gab sie Teeblätter hinzu und stellte die Kanne in die Feuerstelle. Anschließend ließ sie sich auf der Seite des Feuers nieder, auf der er zuvor gesessen hatte. Er blieb stehen, weil er unsicher war, was er nun tun sollte. Er war sich auch nicht sicher, ob er hören wollte, was sie ihm zu sagen hatte. Sie sah zu ihm hinüber und lächelte erneut.

„Setz dich zu mir. Hier sind wir beide geschützt. Und ich versichere dir, ich habe nicht vor, dich zu beißen.“ Sie lachte leise und legte dann einige der Knollen ins Feuer, die sie beide am vorherigen Tag gesammelt hatten. „Obwohl ich Hunger habe.“

An den vorangegangenen Tagen hatte er es vermieden, sich in ihre direkte Nähe zu setzen. Aber er konnte ihr die Erfüllung dieses Wunsches nicht abschlagen, deshalb begab er sich ebenfalls auf ihre Seite des Feuers. Sie hatte durchaus recht damit, dass man dort geschützter saß. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er ihr am vorherigen Abend diesen Platz nicht überlassen hatte.

Wieder einmal musste er feststellen, dass er wenig vor ihr verbergen konnte. „Ich war gestern Abend mit meinem Platz völlig zufrieden. Du musst dir deswegen keine Gedanken machen.“

Er war davon zwar nicht überzeugt, aber er setzte sich trotzdem. Sich so nahe bei ihr zu befinden, stellte sich als nicht so unbehaglich heraus, wie er befürchtet hatte.

„Ich habe lange über das nachgedacht, was du mir alles erzählt hast. Aber bevor wir darüber sprechen, möchte ich dir auch gerne etwas über mich erzählen. Etwas das ich noch nie jemandem erzählt habe. Eins meiner Geheimnisse.“ Sie holte tief Luft. „Oder ich erzähle dir besser noch direkt von zwei meiner Geheimnisse. Obwohl das zweite, genau genommen, kein Geheimnis ist. Eher etwas, über das ich nicht mit jedem spreche. Etwas, bei dem ich andere Personen etwas Falsches glauben lasse, indem ich ihnen nicht widerspreche.“

Sie machte eine Pause. Nun lächelte sie nicht mehr, sondern wirkte stattdessen ernst, aber auch etwas ängstlich. Was konnte sie denn für Geheimnisse haben?

„Du hältst mich für eine Oixya oder, Cytys?“ Sie sah ihn fragend an.

Er nickte. „Ja, natürlich. Ich bin mir nämlich sicher, dass du keine Vassu bist.“

„Du musst mir unbedingt erzählen, was es mit diesen Vassu auf sich hat, vor denen du einen solchen Respekt hast. Aber später. Leider muss ich dir sagen, dass du dich irrst. Ich bin keine Oixya.“ Sie machte eine Pause und wartete auf seine Reaktion.

Er war verwirrt. Er war sich immer noch sicher, dass sie nicht aus dem Imperium stammte. Dort gab es keinen Ort, an dem Frauen derart unwissend sein konnten, wie sie es war. Keine Vassu konnte derart unwissend in Bezug auf das Leben in Vassucit sein. Damit blieben nur die Oixya. Aber nun behauptete sie, sie gehöre nicht zu denen. Er wollte nicht sagen, sie lüge, aber ihre Aussage war einfach unglaubwürdig.

„Das kann ich nicht glauben“, war alles, was er dazu sagen wollte.

Wieder lachte sie leise. „Wie nett von dir, mich nicht als Lügnerin zu bezeichnen. Oder mir zu sagen, ich würde Unsinn reden.“ Ihr Gesicht wurde wieder ernst. „Und wie schade, dass unsere Völker so wenig übereinander wissen.“ Wieder eine Pause. „Ich bin eine Sarvar. Ich komme von nördlich des Sees. Aus Kisarvar.“

Er schüttelte den Kopf. Das wollte er nun erst recht nicht glauben. Er wusste wenig über das Land auf der anderen Seite des Sees, das Land, mit dem das Imperium angeblich im Krieg gelegen hatte, während er sich im Steinbruch befand. Aber selbst dorthin waren irgendwann Informationen gelangt. Zwar nur sporadisch und oftmals waren sie widersprüchlich, aber in einer Sache waren sich alle einig. Die sarvarischen Frauen trugen keine Waffen und sie kämpften nicht. Sie ließen ihre Männer kämpfen. Er hatte sich das nicht vorstellen können, aber jeder Viri, der etwas darüber wusste, hatte das bestätigt. Die Bellae hatten natürlich vor den Gefangenen nicht über die Sarvar gesprochen.

„Das kann nicht sein. Sarvarische Frauen kämpfen nicht.“

Sie seufzte. „Das stimmt. In der Regel kämpfen sarvarische Frauen nicht. In der Regel sind sarvarische Frauen aber auch nicht so groß wie ich. Schon sehr früh habe ich aus der Masse der Frauen in Kisarvar herausgeragt. Und du kannst vermutlich verstehen, wie das ist, wenn man so viel größer ist, als alle anderen.“

Er nickte. Dies war etwas, das er nur zu gut verstehen konnte.

„Wenn dann noch dazu kommt, dass man das einzige Kind ist, ohne Brüder, und einen Vater hat, der seiner Tochter nichts abschlagen kann – wie mein Vater – dann hat zumindest eine sarvarische Frau gelernt, was man mit Waffen tun kann. Mein Vater hat es mir beigebracht, wenn er sicher war, dass niemand es mitbekommen konnte. Schließlich musste er den Schein wahren. Aber er konnte nicht umhin festzustellen, dass ich mit dem Schwert geschickter war, als mit der Nähnadel. Trotzdem wusste ich nicht, was kämpfen wirklich hieß. Ich wusste zwar, wie man mit einem Schwert oder einem Dolch umging, aber ich hatte keine Ahnung davon, was ein Kampf tatsächlich bedeutet. Das konnte mein Vater mir nicht beibringen. Das haben mir andere beigebracht.“

Wieder machte sie eine Pause. Eine Pause, in der er darüber nachdenken konnte, was sie ihm gerade erzählt hatte. Er hatte mehr aus ihren Worten heraushören können, als sie laut gesagt hatte. Er hatte nicht nur verstanden, dass sie in aller Heimlichkeit etwas gelernt hatte, was andere Frauen in ihrem Land nicht lernen durften, sondern darüber hinaus auch etwas über die Stellung der Männer in Kisarvar erfahren. Männer, die Waffen tragen durften. Männer, die kämpften.

„Mein Vater hatte nicht oft Zeit, mir etwas beizubringen, vor allem nicht als ich älter wurde“, fuhr sie fort. „Aus diesem Grund habe ich mir im Wald, in der Nähe der Burg, einen Übungsplatz angelegt. Ich bin dorthin gegangen, um alleine zu lernen. Vor allem Bogenschießen. Ich war vorsichtig, denn was ich tat, gehörte sich nicht für eine Frau. Und erst recht nicht für die Tochter-Erbin eines Duco. Es hätte ziemlich viel Ärger gegeben, wenn mich jemand beobachtet hätte. Ärger für mich, aber mehr noch für meinen Vater.“

Sie hatte ihren Blick von ihm abgewandt und schaute stattdessen ins Feuer. Sie blieb einen langen Moment stumm, als ob sie Erinnerungen nachhing, bevor sie weitersprach.

„Aber ich war nicht vorsichtig genug. Eines Nachmittags, als ich mich auf dem Weg nach Hause befand, überraschten mich drei Männer. Ich bin davon überzeugt, sie hatten es nicht speziell auf mich abgesehen. Es war ganz bestimmt Zufall, dass sie mir begegneten, denn sie waren nur auf der Durchreise. Aber das änderte nichts daran, dass sie mich allein im Wald antrafen. Sie waren betrunken und sie hatten genaue Vorstellungen davon, wie diese Begegnung ausgehen sollte. Vorstellungen, die mir nicht zusagten. Sie waren auch bewaffnet, aber sie glaubten nicht, dass sie ihre Waffen benötigen würden. Nicht drei Männer gegen eine Frau mit einem – wenn auch langen – Dolch. Zwei von ihnen habe ich direkt getötet, als ich mich gegen ihren Angriff wehrte. Das war reine Selbstverteidigung. Aber dann war da noch der dritte. Er war noch betrunkener als seine beiden, inzwischen verstorbenen, Freunde und deswegen nicht so schnell, wie die anderen. Deshalb war er noch am Leben. Aber er war nicht zu betrunken, um nicht mitbekommen zu haben, was geschehen war. Er würde erzählen können, was ich getan hatte. Er würde erzählen können, dass ich zwei Männer getötet hatte. Da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen. Was mein Vater getan hatte, durfte nicht herauskommen. Ich habe den dritten Mann ebenfalls getötet, obwohl er mich nicht bedrohte. Ich habe ihn ermordet, damit er nicht reden kann.“

Sie sah ihn an. „Dies war der Grund, weswegen ich meine Reise angetreten habe. Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben, auch wenn mich niemand mit den Toten in Verbindung brachte. Auch mein Vater dachte nicht, ich könnte etwas mit dem Tod der drei zu tun haben. Alle gingen davon aus, sie hätten sich betrunken im Wald verirrt und wären wilden Tieren zum Opfer gefallen. Als man sie fand, war nicht mehr viel von ihnen übrig.“

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Nach der Durchquerung der Hügel stießen sie auf den gleichen Streifen südlichen Waldes, den Famal bereits auf ihrem Weg in den Norden passiert hatte. Schon damals war er ihr seltsam vorgekommen. Obwohl die Bäume genauso hoch wurden, wie die in ihrer Heimat und auch ähnlich dicke Stämme besaßen, wiesen sie ansonsten keinerlei Ähnlichkeiten mit diesen auf. Bei den meisten sah die Rinde aus, als hätte man viele Ringe übereinandergestapelt. Und nur in den Baumkronen wuchsen Blätter, die dafür aber riesig waren. Sie ließen kaum Sonnenlicht durch und deshalb war es unter den Bäumen ziemlich dunkel. Dort wuchs auch so gut wie nichts. Allerdings kamen sie wegen des fehlenden Unterholzes sehr gut voran.

Der Wald stellte sich als kein besonders guter Platz zum Jagen heraus. Zwar gab es hier auch Tiere, aber diese hielten sich hoch oben in den Bäumen auf. Sie kamen eigentlich nie auf den Boden herunter und deshalb verzichtete Famal darauf, Schlingen auszulegen. Ihre Mahlzeiten bestanden jetzt meist aus den Früchten, die von den Bäumen herabgefallen waren. Einmal stießen sie allerdings auf ein Tier, das offenbar erst kurz zuvor aus einem der hohen Bäume gestürzt war. Cytys war ebenso wenig wie sie selbst allzu wählerisch, was Nahrung anbetraf und so ergriffen sie die Gelegenheit, sich einen Vorrat an gut durchgebratenem Fleisch zuzulegen. Der jetzt aber zur Neige ging.

Nach ihrem nächtlichen Gespräch hatte sie Cytys ansehen können, dass er nicht verstand, wieso sie ihn weiterhin in ihrer Nähe duldete. Trotz ihres Geständnisses. Aber er hatte ihre Entscheidung akzeptiert, weil er nicht bereit war, Selbstmord zu begehen. Allerdings hatte er offensichtlich an ihrem Verstand gezweifelt.

Trotzdem erzählte er ihr jeden Abend etwas über Vassucit. Er sprach über die Vassu und die Virei und langsam verstand sie einige seiner Reaktionen. Im Gegenzug erzählte sie ihm, wie es in Kisarvar zuging. Was ihn jedes Mal dazu brachte, den Kopf zu schütteln. Aber sie konnte nicht leugnen, dass die Gespräche ihr gegenseitiges Verständnis förderten.

Cytys war ein angenehmer Reisegefährte, sofern er nicht gerade darüber nachgrübelte, ob sie ohne ihn nicht besser dran wäre. Aber in anderer Hinsicht machte sie überhaupt keine Fortschritte. Sie hatte ganz vorsichtig versucht, herauszufinden, ob er an ihr genauso interessiert war, wie sie an ihm, aber er hatte sich nie dazu geäußert. Trotzdem war sie sich inzwischen sicher, dass er sie anziehend fand. Dies änderte aber nichts daran, dass er sie nicht an sich heranließ, egal was sie unternahm. Er war höflich und er war hilfsbereit und in gewisser Weise reagierte er sogar auf sie. Er sandte sogar die richtigen Signale aus. Aber er weigerte sich, mit ihr das Lager zu teilen. Und er sagte nie etwas dazu. Deshalb kannte sie seine Gründe immer noch nicht.

„Haben wir noch Fleisch?“, fragte sie ihren Begleiter, als sie an diesem Abend endlich ihr Lager aufgeschlagen hatten und gemeinsam am Feuer saßen. Cytys war schließlich derjenige, der für das Essen zuständig war.

Er nickte. Aber dann blickte er auf und sie sah sein Grinsen. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich den Rest als Nahrung oder als Bedrohung betrachten soll. Ich neige dazu, es als Bedrohung anzusehen.“ Sie musste lachen.

„Also sind wir wieder bei Früchten angelangt. Wie gut, dass wir spätestens in zwei Tagen aus dem Wald heraus sein werden.“ Sie begann in dem Sack zu kramen, in dem sie die Früchte während der Durchquerung des Waldes gesammelt hatten.

„Zwei Tage noch? Das würde ich sehr begrüßen.“ Cytys nahm die Früchte entgegen, die Famal ihm reichte. Dabei berührten sich ihre Finger ganz kurz und er erstarrte. Dann zog er seine Hand zurück, als wenn nichts gewesen wäre. Aber er sah sie nicht an.

So ging das nun schon seit etlichen Tagen, aber Famal hatte nie etwas gesagt. Genau wie er, hatte sie jedes Mal so getan, als ob nichts geschehen wäre. Aber heute reichte es ihr. „Wie lange soll das noch so weitergehen, Cytys?“, fragte sie ihn deshalb. „Wie lange willst du noch so tun, als gäbe es nichts zwischen uns beiden?“ Sie spürte wie Wut in ihr hochstieg. Warum konnte er sich nicht endlich mal äußern. „Du willst es doch auch!“

Er blieb stumm und sah sie immer noch nicht an. Stattdessen starrte er auf die Früchte in seiner Hand, als wären sie das Wichtigste auf der Welt. Aber dann blickte er doch auf. Sein Gesicht war ernst. Keine Spur von dem Lachen, das sie so an ihm liebte.

„Ich kann nicht.“ Seine Stimme klang heiser.

„Du kannst nicht? Was hält dich ab?“ Hörte er den Unglauben in ihren Worten? Konnte er auch ihre Wut verstehen?

„Meine Erziehung.“

„Deine Erziehung?“ Diesmal konnte er ihren Unglauben nicht überhört haben.

„Deine auch“, antwortete er aber nur. Sein Gesicht blieb ernst.

„Ist das dein Ernst?“ Seine Worte hatten nichts dazu getan, ihre Wut abzumildern.

Ein schwaches Lächeln umspielte auf einmal seine Lippen. „Nein!“ Das Lächeln verschwand wieder. „Doch!“

Seine Verwirrung stoppte sie. Verhinderte die Antwort, die ihr bereits auf der Zunge gelegen hatte, denn er hatte mit seinem „doch“ recht. Ihre Erziehung sollte sie eigentlich davon abhalten. Aber ihr war das egal. Sie fühlte sich nicht mehr an das gebunden, was man ihr in früheren Jahren beigebracht hatte. Ihr Vater hatte ihr andere Möglichkeiten eröffnet, als er ihr das erste Mal eine Waffe in die Hand gedrückt hatte. Trotzdem verstand sie plötzlich seine Weigerung. Cytys hatte nie jemanden gehabt, der ihm so eine Möglichkeit gegeben hätte. Deshalb war er jetzt nicht in der Lage dazu, gegen seine Erziehung zu handeln. Die Zeit, die sie gemeinsam unterwegs waren, hatte einfach nicht ausgereicht, um ihn in dieser Hinsicht selbständiger werden zu lassen.

„Erzähl mir davon“, bat sie ihn. Sie wollte genau wissen, was dahintersteckte. Und sie wollte wissen, was sie dagegen machen konnte.

„Es ist ganz einfach“, fing er an. Und lächelte erneut. Diesmal aber entschuldigend. „Ein Viri, der noch nicht geheiratet wurde, darf nicht bei einer Vassu liegen.“

Was für eine seltsame Formulierung, dachte sie. Aber sie atmete erleichtert auf.

„Würdest du mich denn heiraten, Cytys?“ Gespannte Stille.

Er hatte immer noch dieses kaum sichtbare Lächeln auf seinen Lippen.

„Ein Viri hat in dieser Hinsicht nichts mitzureden.“

Verfluchte Vassu. Auf einmal ging ihr auf, dass sie immer nur auf die imperialen Frauen wütend war. Was stellten sie mit ihren Männern an? Dann fiel ihr aber ein, dass ihr Vater jedes Recht gehabt hätte, sie ohne ihre Einwilligung einem Ehemann zu geben. Ihre Wut verrauchte sofort. Sie wusste zwar, dass er so etwas nie machen würde, aber diese Gewissheit hatte sie vergessen lassen, dass er es vom Gesetz her durfte. In dieser Hinsicht gab es zwischen einem Sarvarer und einer Vassu keinen Unterschied.

Er lächelte immer noch, aber es wirkte seltsam auf sie. Cytys machte nämlich überhaupt nicht den Eindruck, als wäre ihm nach Lächeln zumute. Er sah eher danach aus, als versuche er, tapfer zu sein. Er sah so aus, als wenn er versuchen würde, sie glauben zu machen, die ganze Angelegenheit würde ihn nicht berühren. Aber sie war nicht der Meinung, dass dies der Wahrheit entsprach.

Dann sprach er doch weiter. „Aber ich habe darüber nachgedacht. Wärst du eine Vassu, dann hätte ich das natürlich nicht getan. Doch mir ist schon klar, dass du nicht wie eine denkst. Also habe ich mir Gedanken gemacht. Deshalb kann ich dir sagen, dass es mich freuen würde, von dir geheiratet zu werden.“

Seine Worte überraschten sie. Famal war nicht davon ausgegangen, dass er sich so eindeutig ausdrücken würde. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich derart ausdrücken wollte. Bisher war er ihr in dieser Sache immer ausgewichen. Aber er war noch nicht fertig. Er hatte noch mehr auf dem Herzen.

„Du scheinst damit weniger Probleme zu haben. Weniger Probleme damit, über deine Erziehung hinauszugehen. Aber ich habe festgestellt, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Vielleicht mag dir das nach allem, was ich dir über mein Leben erzählt habe, seltsam vorkommen, aber ich kann nicht aus meiner Haut heraus. Im Grunde meines Herzens bin ich ein Viri geblieben und werde das wohl auch immer sein. Du solltest wissen, dass ich dir unendlich dankbar für die Kleidung bin, die du mir zur Verfügung gestellt hast, aber ich möchte ehrlich zu dir sein. In der Hose fühle ich mich äußerst unwohl. Wenn ich die Möglichkeit bekomme, dann werde ich mir so schnell wie möglich einen neuen Rock nähen. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel?“ Er legte seinen Kopf schief und sah sie fragend an.

Sie schüttelte den Kopf. Sie fand es zwar mehr als nur seltsam, aber wer war sie denn, ihm Vorschriften machen zu wollen.

Er schien erleichtert zu sein und deshalb offensichtlich in der Lage weiterzusprechen. „Ich habe eben zu dir gesagt, es würde mich freuen, von dir geheiratet zu werden. Du musst mir glauben, dass dies nichts ist, über das ich dir gegenüber die Unwahrheit sagen würde. Aber genau, wie im Fall der Hose, würde ich mich mit allem unwohl fühlen, was meiner Erziehung widerspricht. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du mit einer Heirat nach den Bräuchen und Gesetzen der Vassu einverstanden wärst.“

Jetzt war sein Lächeln wieder verschwunden. Stattdessen zeigte er ihr diesen Gesichtsausdruck, den sie bei ihm immer mit Hoffnungslosigkeit in Verbindung brachte. Die wahrscheinlich seiner Erfahrung entsprang, keinerlei Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben. Aber sie resultierte auch daraus, dass sich nie jemand für seine Wünsche interessiert hatte.

Dann wurde ihr klar, dass ihr der Gedanke an die Bräuche des Imperiums, die Bräuche der Vassu, tatsächlich nicht zusagte. Diese Bräuche waren ihr im Gegenteil zuwider. Ihr war zwar nicht bekannt, wie eine Heirat im Imperium ablief, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihrem Geschmack entspräche. Auf der anderen Seite, würde ihr allerdings eine Heirat nach den Gesetzen ihres Heimatlandes auch nicht zusagen. In Kisarvar erhielte ihr Ehemann alle Rechte. Er würde zukünftig ihr Leben bestimmen, so wie es zuvor ihr Vater getan hatte. Allerdings hatte ihr Vater ihr wenige Vorschriften gemacht. Aber dann fiel ihr ein, dass Cytys ihr wohl auch keine Vorschriften machen würde. Stattdessen würde er von ihr erwarten, dass sie ihm sagte, was er zu tun habe. Und nach dem, was er ihr über das Imperium erzählt hatte, musste sie davon ausgehen, dass ein Viri bei seiner Heirat noch weniger zu sagen hatte, als eine sarvarische Frau bei ihrer. Wollte sie tatsächlich so einen Ehemann haben?

Sie sah ihn an. Sah sein Gesicht, das er so ausdruckslos wie möglich hielt. Und doch war ihr sofort klar, dass er darauf hoffte, sie würde der Heirat zustimmen. Jeder der ihn kannte, konnte das an seinem Gesicht ablesen. Jeder der sich für ihn interessierte, könnte das erkennen. Und mit einem Mal ging ihr auf, dass es ihr völlig egal war, wie ihre Heirat sich gestaltete. Sie wollte Cytys haben und wenn sie ihn nur als Ehemann haben konnte, dann war das eben so. Und wenn er sich nur wohlfühlen konnte, wenn sie ihre Heirat nach den Bräuchen seiner Heimat durchführten, dann sollte ihr das auch recht sein.

„Du hast recht“, teilte sie ihm mit. „Vassu-Bräuche sagen mir überhaupt nicht zu.“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nur geringfügig. Aber nun war es Traurigkeit, die sie in seinen Augen erkennen konnte und ihr ging auf, dass sie sich sehr missverständlich ausgedrückt hatte. Deshalb sprach sie schnell weiter. „Aber ich will genauso ehrlich zu dir sein, wie du es mir gegenüber warst. Solange wir überhaupt heiraten, ist mir völlig egal, nach welchen Bräuchen wir die Zeremonie durchführen.“

Sie liebte sein Lachen. Aber sie liebte auch den Ausdruck des Glücks auf seinem Gesicht.

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Sie hätten den Wald sehr viel schneller durchquert, wenn sie sich direkt nach Süden gewandt hätten. Famal hatte aber offensichtlich von vornherein geplant gehabt, sich stattdessen in Richtung Südosten zu halten. Dies führte dazu, dass sie sich länger im Wald aufhielten, als Cytys Meinung nach notwendig gewesen wäre. Allerdings hatten die Bäume sie vor der Sonne geschützt und er hatte feststellen müssen, dass dies hier im Süden nicht unwichtig war. Er hatte nicht gewusst, dass es heißer wurde, je weiter man in Richtung des Oixyyaa vorwärtskam. Aber woher hätte er das auch wissen sollen. Schließlich war er nie aus Ssuyial hinausgekommen, bevor man ihn in den Steinbruch brachte. Und das zählte natürlich nicht.

Famal hingegen war quer durch den Oixyyaa gereist. Vorher war sie aus dem Norden gekommen, um den See herumgereist und an der Ostgrenze des Imperiums entlang in den Süden gelangt. Später hatte sie sich westlich des Gebirges wieder in Richtung See bewegt. Aber dann hatte seine Ankunft ihre Pläne über den Haufen geworfen und sie hatte beschlossen, sich wieder nach Süden zu wenden. Dafür war er ihr sehr dankbar, denn damit hatte sie ihm ohne Zweifel das Leben gerettet. Er hatte aber keine Vorstellung gehabt, was sich aus dieser Begegnung entwickeln würde. Er hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass er einmal geheiratet werden könnte. Und auf keinen Fall wäre er auf die Idee gekommen, dass seine zukünftige Ehefrau sich nach seinen Wünschen richten wollte.

Am meisten hatten ihn aber seine Gefühle für Famal überrascht. Wie hatte sie nur so schnell einen Platz in seinem Herzen besetzen können? Dies war etwas, das ein Viri sich normalerweise nicht erlauben konnte. Hatte er zumindest geglaubt. Vielleicht gab es Domuvirei, in denen über so etwas gesprochen wurde. Dort wo er aufgewachsen war – und wo man ihn nicht mehr hatte haben wollen – war das nie zur Sprache gekommen. Deshalb hatte es ihn völlig überrascht. Vielleicht hätte er mit so etwas rechnen müssen, nachdem er verstanden hatte, dass Famal keine Vassu war. Aber dafür hatte ihm die Erfahrung gefehlt.

Ihm hatte auch die Erfahrung dafür gefehlt, aus welchem Grund Famal sich nicht direkt nach Süden gewandt hatte. Schließlich hatte sie ihm auf Nachfrage bestätigt, dass sie dort auf Siedlungen der Oixya treffen würden. Doch dann hatte sie ihm auch erklärt, dass es im Westen vom Oixyyaa hauptsächlich Bauerndörfer gab. An ihnen gäbe es zwar nichts auszusetzen, aber sie wären nicht das, was sie nach Famals Meinung suchten. Sie wollte in eine der größeren Städte, in denen es Geschäfte gab, Unterkünfte und auch die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Sie gab ihm gegenüber zu, dass sie auch in den Dörfern Arbeit gefunden hätten, aber die Bauern es sich nicht erlauben konnten, sie gut zu bezahlen. Zumindest nicht mit Geld. Deshalb hatte sie einen Umweg darin gesehen, sich zuerst zu den Dörfern zu begeben und später erst zu den Städten. Nachdem er lange über alles nachgedacht hatte, konnte er ihr nur zustimmen. Und sie hatte tatsächlich darauf gewartet, dass er seine Meinung äußerte. Langsam gewöhnte er sich daran, mitreden zu dürfen. Und es kam ihm auch nicht mehr allzu seltsam vor.

Und nun hatten sie endlich eine dieser Städte erreicht. Diese trug den Namen Ysvaanet. Famal konnte ihm nur sagen, dass sie nicht ganz so groß wie Doimaatu war, die Hauptstadt des Oixyyaa, aber von der Einwohnerzahl nahe an sie herankam. Famal hatte ihm aber auch erzählt, dass keine der Städte mit Ssuyial mithalten könnte. Dies wusste sie zwar nicht aus eigener Erfahrung, da sie das Imperium nie bereist hatte, aber die Oixya verhehlten nicht, dass die Hauptstadt von Vassucit die größte Stadt im ganzen Velt war. Damit war sie auch größer, als jede Stadt in Kisarvar. Dies glaubte er Famal unbesehen. So wie er ihr auch alles andere glaubte, da er absolutes Vertrauen in sie hatte.

Sie hatten erstmal für eine Zeitlang am Stadtrand haltgemacht, obwohl Cytys nicht sofort klar geworden war, dass sie sich bereits in der Stadt befanden. Sie waren zuvor zwischen Feldern, gelegentlichen Obsthainen und vereinzelten Bauernhäusern hindurch gewandert und dann wurden die Häuser immer mehr. Erst dann fiel ihm auf, dass sie den Ort schon betreten hatten, denn der Übergang zwischen dem Land und der Stadt war fließend. In dem Moment fiel ihm auch erst auf, dass es keine Stadtmauer gab. „Sind die anderen Städte auch so?“, fragte er Famal.

Sie runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

Er bewegte seinen Arm im Kreis. „Hier gibt es keine Mauer.“

„Besitzt Ssuyial eine Stadtmauer?“, stellte sie ihm eine Gegenfrage.

Er nickte. „Eine ziemlich hohe sogar. Rings um die Stadt. Mit vielen Toren.“ Das hatte er zumindest gehört, aber er hatte in seinem ganzen Leben nur ein einziges davon gesehen. Er hatte zuvor nie die Möglichkeit gehabt, sich die Mauer anzusehen. Er hätte auch nie die Erlaubnis dafür bekommen.

„Keine der Städte der Oixya, die ich auf meiner Reise besucht habe, hatte eine Mauer. Offensichtlich sind die Menschen hier der Meinung, sie würden so etwas nicht benötigen.“

„Und was machen wir nun?“ Ohne Famal wäre er verloren.

Sie sah sich um. „Ich war beim letzten Mal weiter im Süden unterwegs, deshalb kenne ich diese Stadt nicht. Ich schlage daher vor, uns erst einmal eine Unterkunft zu suchen. Sie darf aber nicht zu teuer sein. Hier am Stadtrand dürften wir daher am ehesten fündig werden.“ Sie blickte ihn an. „Aber nur, wenn wir weitergehen.“

Sie setzte sich wieder in Bewegung und er folgte ihr. In der Wildnis hatte er damit begonnen, neben ihr herzugehen, aber hier in der Stadt, wo sie auf andere Menschen treffen würden, konnte er das nicht mehr. Er blieb einen Schritt hinter ihr, obwohl sie ihn seltsam ansah. Aber sie sagte nichts. Vielleicht sah sie ihm seine Unsicherheit an. Sehr wahrscheinlich konnte er seine Gefühle nicht gut verbergen. Außerdem kannte sie ihn inzwischen sehr gut.

Sie wandte sich noch einmal zu ihm um und drückte ihm dann die Zügel des Packpferdes in die Hand. „So wird es niemandem seltsam vorkommen, dass wir nicht nebeneinander gehen.“ Erneut hatte sie ihn durchschaut. Aber anstatt mit ihm zu schimpfen, versuchte sie ihm Sicherheit zu geben. Dafür war er ihr schon wieder dankbar. Schweigend folgte er ihr mit dem Tier. Gerne würde er ihr helfen, aber er wusste nicht genau, wonach sie Ausschau hielt.

Sie streiften mehrere Stunden durch die Straßen, aber Famal fand offensichtlich nicht das, was sie suchte. Ein- oder zweimal blieb sie vor einem Gebäude stehen und sah sich eine Unterkunft genauer an, und einmal hielt sie sich sogar länger in einem Haus auf. Aber nichts schien ihr zuzusagen. Jedes Mal zogen sie weiter.

Plötzlich fiel sein Blick auf das Schaufenster eines Geschäftes. Etwas Grünes hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er blieb abrupt stehen und konnte sich nicht mehr weiterbewegen. Er war nur noch in der Lage, auf das Schaufenster zu starren. Famal hatte nicht direkt mitbekommen, dass er ihr nicht mehr folgte und war bereits etliche Meter weitergegangen, ehe ihr auffiel, dass er stehengeblieben war.

Dann aber drehte sie sich sofort zu ihm um. „Was ist los, Cytys? Was hast du entdeckt?“

Ihre Stimme riss ihn aus seiner Starre. Aber anstatt auf ihre Frage zu reagieren und ihr zu antworten, bewegte er sich auf das Geschäft zu und betrachtete aus der Nähe, was er erspäht hatte. Grün und glänzend lagen sie auf einem Stück ungebleichtem Stoff. Vinculae, Clava und Cultra. Sofort war er davon überzeugt, dass er schönere Stücke auch in Ssuyial nicht hätte finden können.

„Kann ich dir behilflich sein?“, ertönte die Stimme einer Frau aus dem Inneren des Geschäfts und dann trat sie vor die Tür. „Dies ist Hochzeitsschmuck aus …“ Sie hörte abrupt auf zu sprechen und musterte ihn. Da wurde ihm klar, dass sie genau wusste, was er war, obwohl er Hosen trug.

Sie lächelte ihn an. „Aber du weißt, was das ist, oder?“

„Ja, Domina“, bestätigte er ihre Vermutungen. Beide.

Er spürte, wie Famal neben ihn trat. „Was hast du gefunden, Cytys?“, wollte sie wissen.

Er sah sie an. Er wollte sie auf die Armbänder, auf den Schlüssel und das Messer aufmerksam machen, aber er bekam kein Wort heraus. Stattdessen wandte er sich erneut an die Frau neben der Tür. „Habt ihr auch Stoff?“

„Natürlich“, antwortete sie ihm, „im Laden. Willst du nicht hineingehen und dich umsehen?“

Als wenn er Famal vergessen hätte, folgte er ihrer Einladung und trat durch die Tür. Seine Begleiterin ließ er draußen zurück. Sie war völlig verwirrt neben dem Packpferd stehengeblieben.

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Famal blickte Cytys fassungslos hinterher, als er in dem Geschäft verschwand. Dann betrachtete sie die Dinge, die im Schaufenster lagen, aber das half ihr nicht. Sie erkannte nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte. Und er hatte ihre Frage nicht beantwortet. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, wieso er die Ladenbesitzerin nach Stoff gefragt hatte. Seine Handlungsweise verwirrte sie.

Deshalb wandte sie sich an die Frau. „Was für Stoff hast du in deinem Geschäft?“, fragte sie sie. Die Oixya – denn das war sie ohne Frage – sah sie an und dann lächelte sie, als wenn ihr gerade etwas aufgefallen wäre.

„Du weißt nicht viel über Virei, oder?“ Sie machte einen freundlichen Eindruck, zwar etwas mütterlich, aber nicht dominant.

Famal musterte sie genau, bevor sie nickte. „Woher weißt du, dass er ein Viri ist?“, wollte sie von ihr wissen.

„Der Zopf“, antwortete ihr die Fremde. „Oixya tragen zwar auch schon mal Zöpfe, aber selten welche, die so lang sind. Und die Virei haben ihre spezielle Technik. Wer damit vertraut ist, wird das immer erkennen.“ Famal erschrak und hatte auf einmal Angst um Cytys, aber die Frau musste ihr das sofort angesehen haben. „Komm bitte herein, dann kannst du selbst sehen, wonach er sucht. Hab keine Angst, ihm wird hier nichts geschehen.“ Sie bat sie mit einer Handbewegung durch die Tür zu treten.

Famal folgte der Einladung. Sie hätte den Laden aber auf jeden Fall betreten, denn sie wollte Cytys nicht alleine lassen. Sobald sie die Tür durchschritten hatte, stellte sie erstaunt fest, dass der dahinterliegende Raum viel größer war, als sie gedacht hatte. An den Wänden standen Tische, auf denen Schmuck, aber auch Haushaltsgegenstände lagen. Daneben befanden sich mit Kleidung gefüllte Truhen. Und in einigen lag auch Stoff. Cytys hatte einige Bahnen ungebleichten Stoffs auf einem Tisch, in der Mitte des Raumes, ausgebreitet. Er stand da und strich prüfend mit seinen Fingern darüber. Famal wusste nicht, was er dort machte. Plötzlich fiel ihr jedoch eine ihrer abendlichen Unterhaltungen am Feuer ein. Damals hatte er davon gesprochen, sich einen Rock zu nähen, wenn er die Gelegenheit dazu erhielte. Das hatte sie schon fast wieder vergessen. Er aber offensichtlich nicht.

„Ich bin Kylic“, hörte sie die Frau hinter sich sagen. Famal hatte ihre Anwesenheit für einen Moment völlig vergessen, weil ihre ganze Aufmerksamkeit auf Cytys gerichtet war. „Ich führe dieses Geschäft, zusammen mit meinem Ehemann Djemip. Wir fertigen Kleidung und Schmuck an. Für Oixya, aber auch für Besucher aus dem Imperium. Für jeden, dem unsere Sachen gefallen.“

Dann wandte sich Kylic an Cytys. „Mein Mann kann dir etwas aus diesem Stoff nähen, wenn das dein Wunsch ist.“ Sie sah ihn fragend an.

Cytys blickte auf. „Ich würde nur den Stoff und Nähzeug benötigen, falls …“ Er sprach nicht weiter und sah stattdessen zu Famal hinüber. Offensichtlich war ihm gerade eingefallen, dass er kein Geld hatte und sich nichts kaufen konnte. Nur sie konnte das.

„Mein Mann fertigt ganz wunderbare Sachen an“, fuhr die Ladenbesitzerin fort, als hätte er nicht mitten im Satz aufgehört zu sprechen.

Cytys stand vor dem Tisch, die Hände immer noch auf dem Stoff. Aber dann drehte er sich um, mit hängenden Schultern und den Blick zu Boden gerichtet. „Ich bitte um Entschuldigung, Domina, aber ich kann diesen Stoff nicht kaufen. Ich hätte nicht hereinkommen sollen.“ Er bewegte sich auf die Tür zu, um den Laden zu verlassen, bevor sie etwas dazu sagen konnte.

Aber Kylic kam ihm doch zuvor. „Mein Mann und ich würden uns freuen, euch auf einen Tee einzuladen. Das dürft ihr uns nicht abschlagen. Hinter dem Haus befindet sich ein Hof, dort könnt ihr das Pferd so lange unterbringen. Macht uns bitte diese Freude. Danach helfen wir euch beiden gerne dabei, in dieser Stadt das zu finden, was ihr sucht.“

Cytys war kurz vor der Tür stehengeblieben. Famal konnte ihm ansehen, wie unangenehm es ihm war, weiterhin in dem Geschäft zu verweilen. Er hatte seiner Meinung nach, Kylic unberechtigterweise Hoffnung auf einen Handel gemacht. Andererseits war es ihm unmöglich, diese Einladung nicht anzunehmen. Innerhalb kürzester Zeit war er in alte Verhaltensmuster zurückgefallen und das gefiel Famal überhaupt nicht.

Aber das war nicht die Schuld von Kylic. Und sie konnten durchaus Hilfe dabei gebrauchen, eine günstige Unterkunft zu finden. Ebenso wie eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. „Wir nehmen eure Einladung gerne an, Kylic“, willigte sie daher ein. Und sie hatte Cytys mit Absicht nicht um seine Meinung gefragt. Das hätte ihn zu diesem Zeitpunkt nur in Verlegenheit gebracht.

Auch die Ladenbesitzerin hatte bemerkt, wie es um Famals Begleiter stand. „Bring doch das Pferd nach hinten. Es gibt dort auch einen Eingang ins Haus, den du benutzen kannst. Er führt dich in die Küche. Mein Mann würde sich über etwas Hilfe freuen.“ Es war freundlich formuliert, aber Cytys fasste es sofort als Befehl auf. Famal ging auch davon aus, dass die Worte ein Befehl waren. Der Viri verbeugte sich kurz und verschwand dann nach draußen. Auf einmal befand sich Famal alleine mit Kylic in dem Raum.

„Er wird nie ganz ablegen können, dass er ein Viri ist. Egal, wie viel er lernt. Es wird immer wieder zu Situationen wie diesen kommen. Ich habe festgestellt, dass es für sie einfacher ist, wenn man es ihnen nicht vorwirft.“ Sie sah Famal fast entschuldigend an. Damit nahm sie ihr die Möglichkeit, sich über Cytys Behandlung zu beschweren.

Während sie noch überlegte, wie sie auf die Worte antworten sollte, erschien aus dem hinteren Teil des Geschäftes eine weitere Person. Es war ein Mann, der in die bei den Oixya üblichen Hosen gekleidet war. Dazu trug er ein Hemd mit außergewöhnlich langen Ärmeln.

„Liebling“, sprach Kylic ihn an, „wir haben Gäste zum Tee.“ Er richtete seinen Blick auf Famal und ihr ging plötzlich auf, dass sich die Ladenbesitzerin zwar Cytys und ihr vorgestellt hatte, sie dies aber nicht erwidert hatte. Auf die andere musste es gewirkt haben, als hätte sie keine Manieren.

„Ich grüße dich. Ich bin Famal und mein Begleiter Cytys führt gerade unser Packpferd auf euren Hof.“

„Ich grüße dich ebenfalls, Famal. Willkommen in unserem Haus auch in meinem Namen.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an, bevor er wieder zu seiner Frau sah.

„Ich habe Cytys gebeten, dir in der Küche zu helfen“, informierte Kylic ihren Ehemann. Er nickte nur, drehte sich um und verschwand wieder in den hinteren Räumen. Als er ihr den Rücken zudrehte, sah Famal, dass er die gleiche Art langen Zopf trug wie Cytys. So einen Zopf, wie er nach Kylics Worten typisch für die Virei wäre.

Sie schluckte. „Ist dein Ehemann ein Viri?“, fragte sie, obwohl ihre Neugier ihr unhöflich vorkam.

Kylic lächelte sie an. „Er lebte bereits seit geraumer Zeit im Oixyyaa, als ich ihn kennengelernt habe und hatte sich eigentlich große Mühe gegeben, alles abzulegen, was einen Viri ausmacht. Aber an besagtem Tag trug er ausnahmsweise einen Rock. Erst später habe ich verstanden, dass er nicht tatsächlich glücklich damit war, vorzugeben, er wäre ein Oixya. Er ist durchaus in der Lage, ein unabhängiges Leben zu führen, aber er freut sich, wenn ich den Viri in ihm nicht ablehne. Und es ist ein Teil von ihm, den ich zu lieben gelernt habe.“

Famal war erstaunt darüber, wie offen die andere Frau darüber sprach, einen Viri geheiratet zu haben. „Ich weiß kaum etwas über das Imperium oder das Leben der Virei. Cytys hat mir zwar ein bisschen darüber erzählt, aber es gibt vieles, was ich noch nicht erfahren habe. Deswegen verstehe ich auch vieles nicht, was ihn betrifft“, gab sie Kylic gegenüber zu. Die Frau machte es ihr einfach, über diese Dinge zu sprechen. Sie war selbstsicher, ohne dominant zu wirken. Sie war eine Person, der Famal durchaus vertrauen konnte und sie merkte, dass sie Bedarf an solch einer Person hatte. Obwohl sie bereits geraume Zeit mit Cytys unterwegs war und auch vorhatte, weiter mit ihm zusammenzubleiben, fühlte sie sich manchmal ziemlich einsam. Vor allem dann, wenn Cytys ihr wie jemand vorkam, der sich in einer anderen und für sie unverständlichen Sprache ausdrückte.

„Dann weißt du also nicht, was seine Aufmerksamkeit auf unser Geschäft gezogen hat, oder?“ Famal schüttelte den Kopf.

„Komm, sieh es dir an“, forderte Kylic sie auf und führte sie zum Schaufenster. Dort nahm sie etwas in die Hand, von dem Famal sich nicht sicher war, ob es Schmuck darstellen sollte. Zwei Armreifen und zwei Anhänger, in Form eines Schlüssels und eines Messers und alles in Grün gehalten. Diese hielt sie Famal entgegen. „Weißt du, was das ist?“

Wieder musste Famal den Kopf schütteln. Und Kylic seufzte. „Hast du mit ihm darüber gesprochen, ihn zu heiraten?“ Famal sah sie erstaunt an. „Es tut mir leid, wenn ich dir zu nahegetreten bin“, entschuldigte sich Kylic sofort bei ihr.

Famal riss sich zusammen. Die Frau machte nicht den Eindruck, als hätte sie ihr zu nahetreten wollen. Offensichtlich wollte sie ihr tatsächlich helfen und Famal hatte nur zu empfindlich reagiert. „Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin es nur nicht gewöhnt, so offen über diese Angelegenheit zu sprechen. Ich kann auch nicht aus meiner Haut heraus.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln.

„Und ich neige dazu, die Dinge zu direkt anzugehen. Mein Fehler.“ Kylic neigte ihren Kopf entschuldigend. Famal konnte ihr nicht böse sein.

„Du musst dich wirklich nicht entschuldigen. Dies war genau das, was ich jetzt gebraucht habe, denn ich hätte das Thema von mir aus niemals ansprechen können. Aber du hast klar erkannt, dass ich Hilfe brauche. Dafür danke ich dir. Und du hast recht, wir haben über Heirat gesprochen. Genauer gesagt, wir haben beschlossen zu heiraten.“ Auf einmal fiel es Famal nicht mehr schwer, mit Kylic über so etwas Privates zu sprechen.

Kylic legte ihr eine Hand auf den Unterarm. „Ich wünsche euch viel Glück für eure Zukunft, aber ich kann dir sagen, dass es manchmal ziemlich schwer ist, mit einem Viri verheiratet zu sein.“ Und dann zwinkerte sie ihr zu. „Vermutlich aber nicht schwerer, als mit uns verheiratet zu sein, oder?“

Und dann blickte sie wieder auf den Schmuck, den sie immer noch in ihren Händen hielt. „Habt ihr darüber gesprochen, wie ihr die Zeremonie gestalten wollt?“

„Cytys hat mich gebeten, ihn nach Vassu-Bräuchen zu heiraten und ich habe ihm gesagt, dass ich damit keine Probleme habe. Aber bisher hat er mir nichts weiter darüber erzählt, vor allem nicht, wie die Zeremonie aussieht. Er weicht mir aus. Obwohl ich weiß, dass er mit mir verheiratet sein möchte.“

„Ein Viri heiratet nicht, er wird geheiratet. Im Imperium haben die Virei kein Mitspracherecht dabei und es wird schwer für ihn sein, aktiv zu werden. Selbst wenn es nur darum geht, dir die Zeremonie zu erklären und obwohl er weiß, dass du seine Hilfe brauchst. Ich konnte problemlos erkennen, dass ihn das durcheinandergebracht hat. Es wird ihm guttun, wenn es jemanden anderen gibt, die dich über alles aufklären kann. Wenn er erst einmal länger aus dem Imperium weg ist, werden ihm solche Dinge leichter fallen. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach, wird er dieses Verhalten nie ganz ablegen. Djemip geht es auf jeden Fall so. Ich liebe ihn auch dafür.“ Sie hatte ihr Lächeln nicht verloren, aber sie blickte jetzt sehnsüchtig in die Richtung, in der ihr Ehemann verschwunden war.

Dann fuhr sie fort. „Wenn ihr nach Vassu-Bräuchen heiraten wollt, dann brauchst du auf jeden Fall dies hier.“ Sie hielt Famal den Schmuck hin.

Aber Famal konnte ihn nicht annehmen. „Ich weiß nicht, ob ich das bezahlen kann. Ich bin nicht reich und ich habe den Großteil meines Geldes für meine Reise in den Norden ausgegeben. Dann bin ich Cytys begegnet und wir haben uns wieder auf den Weg zurück zum Oixyyaa gemacht. Ich benötige den Rest meines Geldes für eine Unterkunft und dann muss ich Arbeit für uns beide suchen. Vorher kann ich mir so etwas nicht leisten. Außerdem sieht der Schmuck teuer aus, deshalb kann ich ihn mir vielleicht nie leisten.“ Es war ihr peinlich zuzugeben, dass sie fast kein Geld hatte.

„Ich danke dir für deine Ehrlichkeit, Famal. An was für eine Arbeit hattest du gedacht? Vielleicht kann ich euch bei eurer Suche behilflich sein?“ Kylic machte keinerlei Anstalten, den Schmuck wieder zurückzulegen.

„Ich habe keine besonderen Talente“, gab Famal zu, „aber ich kann schreiben und rechnen. Ich bin mir aber auch nicht zu schade, um in einem Stall zu arbeiten. Cytys ist allerdings sehr geschickt mit seinen Händen und ebenfalls ein guter Koch.“

„Kann er auch nähen? Ich hatte den Eindruck, er wollte sich aus dem Stoff selbst etwas nähen.“ Auf einmal machte Kylic einen sehr geschäftsmäßigen Eindruck.

Famal nickte. „Er hat immer davon gesprochen, sich einen Rock zu nähen. Er fühlt sich nicht wirklich wohl in seiner Hose. Und sie passt ihm auch nicht richtig, da es eine von meinen ist. Meiner Meinung nach kann er tatsächlich gut nähen und er hat sich auf der Reise um meine Kleidung gekümmert. Er hat auch das Hemd verziert, das er trägt. Ich bin allerdings nicht gut darin, seine Arbeit zu beurteilen, da ich selbst eine miserable Näherin bin.“

„Er hat die Stickerei auf seinem Hemd selbst gemacht? Sie ist mir direkt aufgefallen, als ich sie sah. Ich habe selten eine derart gut ausgeführte Arbeit gesehen. Er scheint tatsächlich geschickte Hände zu haben.“ Sie verstummte und schien zu überlegen. „Ich würde dir gerne einen Vorschlag machen, Famal. Vielleicht bin ich ja wieder zu schnell, zu direkt, aber ich habe eine Idee, wie ihr euch Geld verdienen könnt. Und wenn du und Cytys damit einverstanden seid, dann würdet ihr mir und meinem Ehemann einen großen Gefallen tun.“

Famal war neugierig geworden. Sie wunderte sich allerdings, wieso die vorher so forsche Kylic nicht weitersprach. „Ich würde deinen Vorschlag gerne hören.“

„Ich führe dieses Geschäft mit meinem Mann und im Normalfall kommen wir gut alleine zu recht. Aber nun hat man uns einen Auftrag in Aussicht gestellt, den wir in der Zeit, die man uns dafür gibt, schlecht bewältigen können. Auf der anderen Seite, ist es die Art von Auftrag, oder besser gesagt, die Art von Auftraggeber, die man schlecht ablehnen kann. Ein zweites Paar geschickte Hände wäre unsere Rettung. Warum arbeitet ihr beiden nicht eine Zeitlang für mich und meinen Mann. Cytys kann beim Nähen helfen und du kannst mir im Haus und bei den Lieferungen zur Hand gehen. Wir wären euch sehr dankbar. Und …“, sie hielt ihre Hand hoch und stoppte Famals Antwort, „… wir haben noch ein Zimmer hinter dem Hof, in dem ihr wohnen könntet. Was sagst du dazu?“

Famal war sprachlos. So ein Angebot hatte sie gewiss nicht erwartet. „Wenn du tatsächlich der Meinung bist, wir wären euch eine Hilfe, dann werde ich deinen Vorschlag gerne annehmen. Ich glaube auch nicht, dass Cytys etwas dagegen hätte. Ich bin mir sicher, er hätte große Freude daran, etwas zu nähen. Aber wenn es nicht zu unverschämt klingt, hätte ich auch eine Bitte. Du scheinst dich mit den Virei und dem Imperium auszukennen und ich benötige unbedingt mehr Informationen.“

Auf Kylics Gesicht erschien ein breites Grinsen, aber bevor sie über ein Nicken hinaus etwas dazu sagen konnte, erklang die Stimme ihres Mannes aus dem hinteren Teil des Hauses, der ihnen mitteilte, dass der Tee kalt würde.

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Cytys war nie zuvor in seinem Leben von jemandem dafür bezahlt worden, dass er seine Arbeit tat. Er wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass so etwas möglich war. Aber genau das passierte, als er begann, für Kylic und Djemip zu arbeiten. Die Arbeit – Kleidung nähen und verzieren – machte ihm Spaß, aber er fühlte sich äußerst unbehaglich, als Kylic ihm seinen ersten Lohn geben wollte. Sie hatte ihm schließlich mit dem Vorschlag aus der, für ihn unangenehmen, Situation geholfen, Famal könnte sich auch um sein Geld kümmern. Dies war ihm sehr recht. Aber als er mitbekam, dass er viel mehr Geld verdiente, als sie, fühlte er sich erneut nicht wohl. Famal beruhigte ihn mit der Aussage, sie würde das nicht stören. Sie versicherte ihm auch immer und immer wieder, dass er sich alles verdient hatte, was Kylic ihm bezahlte, weil seine Arbeit außerordentlich gut war. Die Ladenbesitzerin hatte ihn ebenfalls gelobt. Ihm gefiel allerdings am besten, dass Djemip sich von ihm einige seiner Techniken zeigen ließ. Zum ersten Mal in seinem Leben, wollte ein anderer Viri etwas von ihm lernen. Und der Ehemann der Ladenbesitzerin war tatsächlich immer noch ein Viri, auch wenn er schon lange im Oixyyaa lebte. Cytys hatte entdeckt, dass er sogar die Vinculae trug, versteckt unter den langen Ärmeln seines Hemdes. Er traute sich aber nicht, zu fragen, wieso er sie versteckte. Oder ob er sich in seinen Hosen wohlfühlte.

Im Hinterzimmer des Geschäftes zu sitzen und zu nähen, ließ ihn an sein Leben in Ssuyial denken. Er fühlte sich in diese Zeit zurückversetzt, obwohl man ihn dort nie für andere hatte nähen lassen. Seine Familie war der Meinung, er könne nichts richtig machen und deshalb hatte sich niemand für seine Arbeit interessiert. Famal war tatsächlich die erste, die seine Arbeit bewunderte. Und sie war auch diejenige, die ihn jetzt nicht nur für das lobte, was er mit seinen Händen herstellte. Sie bestärkte ihn auch darin, stolz auf seine Arbeit zu sein. Dies machte es ihm leichter, sie nach einem Teil des Geldes zu fragen. Sie wollte noch nicht einmal wissen, was er damit vorhatte. Das war eine große Erleichterung für ihn, weil er sich sicher war, dass sie seinen Wunsch als unnütz ansehen würde.

„Wie viel Stoff wirst du brauchen?“, wollte Djemip wissen. Seine Frage erinnerte Cytys daran, dass er sich darüber noch keine Gedanken gemacht hatte.

„Lass mich darüber nachdenken“, bat er den anderen Viri.

Dieser nickte. „Du musst deine Entscheidung nicht jetzt sofort treffen. Mach eine Pause, setzt dich hier vorne ein bisschen hin und lass dir alles in Ruhe durch den Kopf gehen. Du musst keine Angst haben, dass jetzt ein Kunde hereinkommt und den Stoff kauft. Es gibt hier in der Stadt nicht sehr viele Virei.“ Er lächelte ihn an, bevor er sich wieder umdrehte, um nach hinten zu verschwinden und weiter an der bestellten Kleidung zu arbeiten. Dank der Hilfe von Famal und Cytys waren er und seine Frau in der Lage, den großen Auftrag anzunehmen.

Cytys blieb alleine im vorderen Bereich des Geschäftes zurück. Langsam bewegte er sich durch den Raum und sah sich die ausgestellten Gegenstände an, bis er schließlich am Schaufenster ankam, während er versuchte, sich daran zu erinnern, was Famal ihm über ihre Familie erzählt hatte. Vor allem über den Stand ihres Vaters.

Aber mit einem Mal war das alles bedeutungslos, denn er musste entdeckten, dass die Vinculae nicht mehr im Schaufenster lagen. Clava und Cultra fehlten ebenfalls. Ausgerechnet die Dinge, die seine Aufmerksamkeit erregt hatten, als er die Straße entlangging. Offenbar hatte ein Kunde sie gekauft. Der Gedanke, jemand anderer hielte sie nun in Händen, schmerzte ihn. Das hätte er nicht für möglich gehalten. Warum hatte er Famal nicht früher darauf aufmerksam gemacht? Er hätte sie um Geld bitten sollen, um sie zu kaufen. Aber er hatte nicht daran gedacht. Er war nicht auf die Idee gekommen, weil ein Viri sich seine Vinculae nicht selbst kaufte. Ein Viri kaufte sich überhaupt nichts selbst. Nun waren sie verkauft worden und standen ihm nicht mehr zur Verfügung. In diesem Moment fühlte er sich unwahrscheinlich traurig und ziemlich niedergeschlagen.

Trotzdem versuchte er sich wieder auf das zu konzentrieren, was er eigentlich jetzt tun wollte. Er versuchte sich erneut in Erinnerung zu rufen, was Famal ihm über ihre Familie erzählt hatte. Sie hatte über die hohe gesellschaftliche Stellung ihres Vaters in Kisarvar gesprochen. Was für eine seltsame Vorstellung, den Status einer Familie an einem Mann festzumachen. Aber jetzt wusste er wieder, wie sie sich darüber ausgelassen hatte, welche Bedeutung ihre Familie im Reich hatte. Das brachte ihn direkt zu der Antwort auf Djemips Frage.

Es gab ihm auch die Möglichkeit, aus dem vorderen Bereich des Geschäfts zu verschwinden und die leere Stelle im Schaufenster hinter sich zu lassen. Aber die leere Stelle in seinem Herzen konnte er nicht hinter sich lassen und auch nicht die Tatsache, dass er sich nicht verzeihen konnte, die Sachen nicht selbst erworben zu haben. Jetzt war es zu spät.

Djemip sah auf, als er den hinteren Raum betrat. „Hast du jetzt eine Vorstellung davon, wie lang der Rock werden muss?“

Cytys nickte. „Ich werde mehr Stoff brauchen, als ich gedacht habe. Aber nur, falls ihr auch welchen in Grün habt.“

Djemip zog eine Augenbraue hoch. „Bist du dir in dieser Hinsicht sicher? Und was sagt Famal dazu?“

Cytys hatte sich wieder auf der Matte niedergelassen, auf der noch die Arbeit lag, die er begonnen hatte, bevor die Frage nach seiner Rocklänge aufgekommen war. „Sie hat mir zugesichert, sich nach meinen Wünschen zu richten.“

„Hast du ihr denn erklärt, was das bedeutet? Du weißt doch, dass sie keine Ahnung von euren Bräuchen hat, oder?“ Der andere Viri sah ihn an.

Er seufzte. „Das ist nichts, über das ich so einfach mit ihr sprechen kann. Auch wenn ich weiß, dass ich ihr erklären muss, wie die Zeremonie aussieht. Wenn ich das nicht schaffe, wie soll sie dann alles vorbereiten?“

„Warum musst du ihr überhaupt die Vorbereitungen überlassen? Mach es doch selbst, du weißt doch, was du alles benötigst.“ Djemip sah nicht von seiner Näherei auf. „Wir haben auf jeden Fall genug grünen Stoff, weil der nicht wirklich nachgefragt wird. Und als dein Freund würde ich deinen Rock sehr gerne nähen. Erlaubst du mir das?“

„Ich würde mich freuen, wenn du das für mich tun könntest.“ Das entsprach durchaus der Wahrheit. Auch wenn die anderen Virei ihn zum Schluss nicht mehr in ihrer Nähe hatten haben wollen, in der Zeit davor hatte er durchaus mitbekommen, wie sie sich gegenseitig unterstützten. Er hatte sie darum beneidet. „Aber selbst, wenn du das für mich tust, fehlt immer noch etwas. Die Vinculae lagen in eurem Schaufenster, aber nun sind sie weg. Sie waren es, die mich auf euer Geschäft aufmerksam gemacht haben, aber ich habe es versäumt, sie zu kaufen. Und nun hat sie jemand anderes erworben. Ich glaube nicht, dass ich in dieser Stadt noch welche finden kann.“

Djemips Kopf kam mit einer Plötzlichkeit hoch, die Cytys überraschte. „Hast du das eben festgestellt?“, fragte er ihn mit leiser Stimme. Cytys konnte nur nicken. „Sie haben dir wirklich gefallen, oder?“ Cytys nickte noch einmal.

Der andere Mann schob seine langen Ärmel hoch und blickte auf seine eigenen Vinculae. „Ist das nicht verrückt“, fuhr er mit sanfter Stimme fort. „Da haben wir die Gelegenheit erhalten, frei zu leben. So frei wie die anderen Männer hier im Oixyyaa leben können. Wir müssten uns nie mehr mit den Dingen abfinden, die die Vassu uns aufgezwungen haben. Und hier sitzen wir nun. Ich trage die Vinculae bereits und du wünschst dir welche. Findest du nicht auch, dass das verrückt ist?“ Er sah Cytys an.

Dieser schluckte. Djemip hatte nicht unrecht. Es war wirklich verrückt. Er könnte Famal auf die Art der Oixya heiraten. Kylic hatte ihm von ihren Bräuchen erzählt. Aber hier band man sich nicht für den Rest des Lebens. Bei den Oixya musste eine Ehe nicht für immer halten. Die Partner konnten sich auch wieder trennen. Deshalb mussten sie sich im Vorhinein darauf einigen, wie im Falle einer Trennung der gemeinsame Besitz aufgeteilt werden sollte. Und diese Vereinbarung schloss auch die gemeinsamen Kinder mit ein. So hatte er sich seine Ehe nicht vorgestellt, deshalb kam das für ihn nicht in Frage.

„Warum hast du dich für die Vinculae entschieden, Djemip?“, wollte er schließlich von dem älteren Mann wissen.

„Das ist eine gute Frage. Eine, die ich mir auch schon gestellt habe. Oft sogar. Es hat lange gedauert, bis ich die Antwort gefunden hatte.“ Er machte eine Pause. „Am Anfang ging ich davon aus, dass ich an etwas aus meinem alten Leben festhalten wollte. So wie ich mich immer in Röcken wohler gefühlt habe, als in Hosen. Seltsam, wie man in seiner Kindheit geprägt wird, oder?“ Er grinste Cytys an. „Es hat einige Jahre gedauert, bis ich begriffen habe, warum ich tatsächlich die Vinculae gewählt habe und die Zeremonie, zu der sie gehören. Bis ich verstanden habe, dass ich es tat, um herauszufinden, wie sehr Kylic mich wirklich liebt. Und nachdem mir das klar geworden war, kam ich mir auf einmal schäbig vor. Ich dachte, ich hätte nicht genügend Vertrauen in Kylic gehabt und habe mich dafür geschämt. Und ich konnte es ihr noch nicht einmal sagen. Nicht sofort.“ Er hörte auf zu sprechen, aber er sah Cytys immer noch an.

„Was hat sie gesagt, als sie es erfahren hat?“ Cytys musste es wissen. Er brauchte diese Informationen, um sich über seine eigenen Motive klarzuwerden.

„Sie hat nur gelacht. Und mir gesagt, ich wäre ein Dummkopf. Es wäre ihr völlig egal gewesen, auf welche Art und Weise wir heiraten. Sie hätte mir meinen Wunsch gerne erfüllt.“ Er machte erneut eine Pause. „Da kam ich mir erst recht wie ein Idiot vor.“ Er grinste wieder.

„Famal hat auch gesagt, ihr wäre es egal, mit welcher Zeremonie wir verheiratet werden“, erinnerte sich Cytys. „Allerdings habe ich ihr bisher nichts über die Bräuche der Vassu erzählt. Es wäre möglich, dass sie nichts mehr davon wissen will, wenn sie erst Bescheid weiß. Sie hat mir schließlich immer wieder gesagt, dass sie nicht viel davon hält, wie die Virei im Imperium behandelt werden.“

„Das spricht doch für sie, oder?“ Djemip schien seine Bedenken nicht zu teilen. „Glaubst du tatsächlich, dass sie von ihrem Wort zurücktreten könnte? Ich kann mir das bei ihr nicht vorstellen.“

„Du hast recht“, pflichtete Cytys ihm bei. „Sie würde ihr Versprechen nicht brechen. Aber das ist jetzt auch egal. Ohne die Vinculae wird es keine Heirat geben.“

Der andere lachte leise. „Ich entschuldige mich dafür, dich leiden gelassen zu haben, Cytys. Die Vinculae wurden nicht verkauft. Kylic hat sie aus dem Schaufenster genommen, damit niemand anderer sie erwirbt. Sie hat sie für dich und Famal zurückgelegt. Falls du endlich mal dazu kommst, ihr die Zeremonie zu erklären.“

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„Womit sind die beiden Männer beschäftigt?“, wollte Famal von Kylic wissen, während sie ihr dabei half, einige Bestellungen auszuliefern. Sie hatte den beiden Geschäftsbesitzern ihr Packpferd zur Verfügung gestellt und damit war es viel einfacher, die fertige Ware zu den Kunden zu transportieren.

„Woher soll ich wissen, was im Domuvirei vor sich geht, Famal. Selbst die meisten Vassu respektieren den Brauch, nicht uneingeladen das Männerquartier zu betreten. Daran halte ich mich auch.“ Sie grinste Famal an.

„Ist das dein Ernst? Ein Männerquartier in eurem Haus? Ist das nicht ziemlich einsam für Djemip, wenn er der einzige Mann im Haus ist?“ Famal sah ihre Freundin ungläubig an.

Diese musste lachen. „Wenn wir gerade mal keinen Besuch von anderen Virei haben, ist es einfach sein Arbeitszimmer. Und ehrlich gesagt, haben wir von denen nicht sehr oft Besuch. Also muss ich auch nicht sehr oft an diese Regel denken. Nichtsdestotrotz werde ich nicht in den Angelegenheiten der Männer herumschnüffeln. Wenn sie wollen, dass wir Bescheid wissen, werden sie es uns schon sagen. Allerdings …“, sie machte eine Pause und sah Famal mit einem Augenzwinkern an, „fehlt eine Menge Stoff. Aus dem ungebleichten könnte man einige Röcke und Tuniken nähen, selbst in der entsprechenden Größe für Cytys. Aber es fehlt auch grüner Stoff.“ Sie betrachtete Famal mit einem wissenden Blick.

Die Sarvarerin verstand diesen Blick allerdings nicht. „Offensichtlich hast du mir etwas voraus. Ich weiß, dass Cytys sich einen Rock aus dem ungebleichten Stoff nähen will.“ Sie stutzte für einen Moment. „Wieso eigentlich ungebleichter Stoff?“

Kylic zuckte mit den Schultern. „Das konnte mir Djemip auch nicht erklären. Es war eben immer schon so.“

„Aber was hat das mit diesem grünen Stoff auf sich? Du scheinst das für bedeutsam zu halten.“ Famal verstand es nicht, aber vielleicht konnte Kylic ihr in dieser Hinsicht weiterhelfen.

„Hat die Farbe Grün für euch Sarvar eine besondere Bedeutung?“, stellte Kylic ihr eine Gegenfrage.

Famal dachte nach. „Grün ist die Farbe des Lebens. Aber ansonsten würde ich nicht sagen, dass die Farbe besondere Bedeutung für uns hätte?“

„Ich bin neugierig, Famal? Wie wird in Kisarvar geheiratet?“

„Weichst du meiner Frage etwa aus?“, wollte Famal von der älteren Frau wissen.

Aber diese schüttelte den Kopf. „Ich werde deine Frage beantworten. Aber zuerst würde ich gerne etwas von dir wissen. Und vielleicht kommst du dann auch alleine darauf, was es mit dem Stoff auf sich hat.“ Sie lächelte erneut.

Warum nicht, dachte Famal. Es kann nicht schaden, ihre Fragen zu beantworten. „Der Mann spricht ein paar Worte und legt seiner Braut die Culae an. Und er erhält den Cultro, den er sich an den Gürtel hängt.“

„Culae und Cultro?“ Kylic runzelte die Stirn. „Was ist das genau?“

„Nach der Verlobung lässt der Mann für seine Frau ein Paar Armreifen anfertigen. Wenn er schlau ist oder seine Braut sehr liebt, dann richtet er sich dabei nach ihrem Geschmack. Die Frau wiederum lässt einen Cultro für den Bräutigam machen. Im Prinzip ist dies nichts weiter, als ein gewöhnlicher Dolch, allerdings hat jeder Cultro ein grünliches Heft, damit jeder direkt sehen kann, dass es sich bei ihm um einen Hochzeitsdolch handelt. Nur verheiratete Männer tragen ihn. Und nur verheiratete Frauen tragen Armreifen.“

„Ah“, gab Kylic von sich. „Ein grünliches Heft beim Hochzeitsdolch? Im Oixyyaa wird die Farbe Grün übrigens auch mit Vai in Verbindung gebracht. Jemals ein Heiligtum gesehen?“

Famal fühlte sich durch die Gedankensprünge der anderen etwas irritiert. „Ich habe mich nie getraut, eines zu betreten. Ich hatte immer das Gefühl, sie wären nur etwas für die Oixya. Aber ich erinnere mich, dass der Eingang in Grün gehalten war.“

„Im Oixyyaa steht im Zentrum jeder Stadt ein Heiligtum. Dieses ist Vai, dem Leben, gewidmet, daher das Grün am Eingang. Aber du hast dich geirrt, denn sie stehen jedem offen. Glauben wir nicht alle an das Leben?“

Famal nickte. „Das stimmt. Wir errichten in Kisarvar zwar keine Heiligtümer, aber an das Leben glauben wir auch. Bei uns nennen wir es Var.“ Sie sah Kylic an. „Wie sieht die Hochzeitszeremonie bei euch aus?“, wollte sie ihrerseits nun wissen.

„Menschen im Oixyyaa heiraten nicht, sie verbinden sich. Das wird Con genannt. Diesen Bund kann man auch wieder auflösen, aber das ist hier nicht unser Thema. Wenn sich hier zwei Personen verbinden wollen, dann kauft jeder von ihnen einen Culan und ein Curon. Der Culan ist übrigens ein Armreif und wird dem Partner gegeben. Und das Curon ist ein stilisiertes Messer, das man sich an den Gürtel hängt. Wenn man Wert darauf legt, kann man die Zeremonie in einem Heiligtum abhalten, aber das ist nicht erforderlich.“

‚Culae und Cultro, Culan und Curon?‘ Das klang Famals Meinung nach sehr ähnlich. Und in beiden Fällen handelte es sich um Armreifen und Messer. „Zwischen den beiden Zeremonien gibt es ja durchaus einige Ähnlichkeiten. Das wundert mich jetzt. Es gibt doch überhaupt keine Verbindungen zwischen Kisarvar und dem Oixyyaa, oder?“ Und dann fiel ihr plötzlich der grüne Schmuck aus dem Schaufenster ein. Ein Paar Armreifen und zwei Anhänger in Form eines Schlüssels und eines Messers. „Der Schmuck in eurem Schaufenster. Du hast gemeint, wir würden ihn brauchen. Ist das etwas, das bei einer Vassu-Zeremonie benötigt wird?“

„Gut beobachtet, Famal. Und du hast völlig recht“, bestätigte Kylic ihre Vermutung. „Das waren die Vinculae, der Clava und das Cultra. Ohne sie kannst du die Zeremonie nicht nach Cytys Wünschen durchführen. Außerdem ist Grün bei den Virei die Farbe der Hochzeit. Das einzige Mal im Leben eines Viri, dass er Rock und Tunika in einer anderen Farbe tragen darf.“

Famal blieb abrupt stehen. „In einer anderen Farbe tragen darf? Heißt das, dass sie ansonsten immer nur Kleidung aus diesem ungebleichten Stoff tragen dürfen? Schreiben die Vassu das ihren Männern tatsächlich so vor?“

Kylic war ebenfalls stehengeblieben. „Hat Cytys dir nicht erzählt, wie die Virei im Imperium behandelt werden?“

„Doch“, sagte Famal, „er hat mir einiges erzählt. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war das alles ziemlich allgemein. Über so spezielle Dinge haben wir nicht gesprochen.“

Die andere legte ihr eine Hand auf den Arm. „Ich will Cytys nicht vorgreifen, aber wie die Virei leben müssen, ist allgemein bekannt. Die Vassu schreiben ihnen so gut wie alles vor. Was sie tragen dürfen, dass sie ihre Haare nicht schneiden dürfen, wie lang ihre Röcke sein dürfen. Dass sie sich keinen Bart wachsen lassen dürfen. Was sie zu arbeiten haben, wo sie zu leben haben, wer sie heiraten wird. Es gibt eigentlich keinen Teil ihres Lebens, der nicht von den Vassu bestimmt wird. Und das von klein auf.“

Cytys hatte ihr das nie in so klaren Worten mitgeteilt. Sie hatte jetzt das Gefühl, ihm wäre das Thema unangenehm und er habe deswegen nicht über Details gesprochen. Es wäre aber auch möglich, dass sie ihm nur nicht richtig zugehört hatte. Diese Möglichkeit durfte sie nicht außer Acht lassen.

„Danke, Kylic. Du hast mir heute einiges erzählt, über das ich in Ruhe nachdenken muss. Aber jetzt sollten wir erst einmal deine Ware ausliefern, damit eure Kunden nicht ungehalten werden.“

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Mit dem, was Kylic ihr mitgeteilt hatte, konnte Famal Cytys endlich dazu bringen, ihr mehr zu erzählen. Sie fragte ihn auch nach einigen der Dinge, die sie erfahren hatte. Wie die Sache mit den Haaren.

Cytys musste darüber lachen. „Die Haare niemals zu schneiden, wäre äußerst unpraktisch. Was meinst du, wie lang meine Haare wären, wenn ich sie mir nie geschnitten hätte. Sie würden mich bei allem behindern. Wahr ist allerdings, dass die Haare eines Viri immer so lang sein sollten, dass er sie zu einem Zopf flechten kann. Sind sie kürzer, gehen alle davon aus, dass der betreffende Viri zur Strafe geschoren wurde.“ Er zog seinen langen Zopf über die Schulter nach vorne und betrachtete ihn nachdenklich. „Das hat man mit mir gemacht, nachdem ich auf frischer Tat ertappt wurde. Seitdem habe ich meine Haare tatsächlich nicht mehr geschnitten. Aber langsam wird der Zopf ziemlich lang.“

Sie sprachen auch über die Länge der Röcke. Darüber, dass man daran den Status einer Familie ablesen konnte und Famal erfuhr in dem Zusammenhang auch, dass die Hosenlänge einer Vassu gleichfalls den Status ihrer Familie widerspiegelte. Famal fragte Cytys allerdings nicht danach, wie lang sein neuer Rock werden würde. Noch trug er ihn nicht, aber Djemip hatte ihr verraten, dass er ihn bereits fertig gestellt hatte. Sie wunderte sich nur darüber, dass er immer noch die Hose trug.

Famal war froh darüber, dass Kylic und ihr Ehemann Djemip sie aufgenommen hatten. Sie war davon überzeugt, dass Cytys ihr ansonsten nicht so viel erzählt hätte. Sie hätte ihm auch nicht die richtigen Fragen stellen können. Aber die beiden Oixya verrieten ihnen auch Dinge über das Imperium, die selbst für Cytys neu waren. Als Famal darüber nachdachte, kam ihr das allerdings nicht mehr so seltsam vor. Er hatte schließlich acht Jahre an einem abgeschiedenen Ort gelebt.

Die vier hatten es sich auf dem Hof hinter dem Haus gemütlich gemacht und genossen ihr abendliches Mahl. Aber sie waren inzwischen bei einem Thema angelangt, dass nicht zu ihrem entspannten Beisammensein passte.

„Hätte meine Familie mich mit einer Leiche erwischt, wäre ich nie vor Gericht gestellt worden. Sie hätten mich direkt getötet und niemand hätte sich darum geschert.“

„Vor einigen Jahren entsprach das auch noch der Wahrheit. Aber heutzutage sieht das anders aus. Jetzt kann keine Familie den Tod eines Viri vertuschen. Alles wird offiziell untersucht.“ Cytys war über Kylics Worte ziemlich erstaunt.

„Das kann ich nicht glauben. Die Familien konnten immer selbst entscheiden, ob der Tod eines Viri untersucht werden sollte“, antwortete er ihr.

Kylic schüttelte den Kopf. „Die Imperatra hat vor einiger Zeit ein neues Gesetz erlassen. Jetzt muss jeder Fall öffentlich untersucht werden. Die Familien können das nicht mehr verhindern.“

„Warum sollte die Imperatra so etwas beschließen? Den Vassu war immer egal, was mit den Virei passiert. Warum sollte sich das geändert haben?“ Cytys konnte Kylics Worte offenbar nicht glauben. Vielleicht wollte er auch nicht glauben, dass sich in Vassucit etwas zum Besseren geändert hatte.

„Die Imperatra hat einen Sarvar in ihren Domuvirei geholt. Das hat die Veränderungen ausgelöst. Ich frage mich, ob sie tatsächlich geglaubt hat, seine Anwesenheit würde sich nicht auswirken?“ Djemip schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass sie das tatsächlich angenommen hat. Es muss ihr vorher bewusst gewesen sein.“

„Ein Sarvarer? Meinst du den Cuviri der Hereda?“ Cytys musste grinsen, als er die ungläubigen Mienen der beiden Oixya sah. „Mit einiger Verspätung haben uns auch im Steinbruch Nachrichten aus dem übrigen Imperium erreicht.“ Er hatte ihren Gastgebern gegenüber irgendwann zugegeben, dass er zu Arbeitsdienst in einem Steinbruch verurteilt worden war, aber er hatte ihnen nicht gesagt, aus welchem Grund. „Und diese Heirat liegt doch schon vier Jahre zurück, oder? Aber ich habe mir nicht vorstellen können, dass die Anwesenheit eines einzelnen Mannes zu solchen Veränderungen führen könnte.“

Einige Tage später erfuhren sie von einem weiteren neuen Gesetz im Imperium. Danach begann Cytys im Hinterhof mit einer Waffe zu üben. Famal hatte bereits während der Reise versucht, ihn dazu zu bringen, kämpfen zu lernen, aber mit wenig Erfolg. Zu tief hatte er das Verbot verinnerlicht, das Virei von Waffen fernhielt. Aber nachdem Djemip ihm vom Hasta erzählt hatte, von dem Stab, den die Imperatra in ihrem Gesetz als Meditationshilfe bezeichnete und er verstanden hatte, was man damit machen konnte, legte er alle Hemmungen ab. Jeder Viri durfte das Hasta, wie andere Alltagsgegenstände auch, zur Selbstverteidigung benutzen. Und offiziell wurde seine Handhabung als Meditation bezeichnet. Natürlich wusste jeder, dass dies seine wahre Bestimmung nur verschleiern sollte. Aber was im Gesetz stand, konnte keinem Viri im Imperium verboten werden.

Für Famal selbst war allerdings in diesen Tagen etwas anderes viel wichtiger. Cytys hatte sich endlich dazu durchgerungen, ihr die Heiratszeremonie zu erklären. Allerdings hatte das dazu geführt, dass sie sich beinahe geweigert hätte, seinem Wunsch zu folgen. Erst im letzten Moment erinnerte sie sich daran, was sie ihm versprochen hatte. Sie riss sich zusammen, denn sie hatte nicht vor, dieses Versprechen zu brechen. Sie würde die Zeremonie durchstehen, auch wenn sie sie als schlimm empfand. Entscheidend war letztendlich, wie es danach weiterging. Und endlich hatte sie die Einstellung der Vassu ihren Männern gegenüber verstanden. Dadurch wurde ihr nun einiges in Hinsicht auf Cytys Verhalten klar.

Zu ihrer großen Erleichterung hatte Cytys nichts dagegen, die Zeremonie im kleinen Kreis abzuhalten. Er und Famal kannten hier ja auch niemanden, außer ihren Freunden Kylic und Djemip. Diese hatten sich bereit erklärt, ihr Haus zur Verfügung zu stellen. Famal wusste nicht genau, was Djemip und Cytys alles vorbereiteten, aber ihr war klar, dass sie an Cytys Kleidung arbeiteten. Sie selbst hatte Djemip ebenfalls beauftragt, ihr eine neue Hose und ein neues Hemd anzufertigen. Und sie hatte Kylic endlich die Vinculae und die anderen Stücke abgekauft, die für die Zeremonie benötigt wurden. Schließlich war auch ein Tag bestimmt worden. Nach und nach machte sich bei Famal Aufregung bemerkbar. Diese war sogar noch stärker als an dem Tag, als sie sich entschlossen hatte, von zu Hause aufzubrechen.

„Denk an die Zeit nach der Zeremonie“, versuchte Kylic Famal abzulenken. Die beiden Frauen standen auf dem Hof hinter dem Haus, den sie zuvor mit Blumen und Stoffbahnen geschmückt hatten. Auf einem kleinen Tisch lagen, verborgen unter einem Tuch, die Dinge, die sie bald benötigen würde.

Trotz ihrer Bedenken in Hinsicht auf die eigentliche Zeremonie konnte Famal es kaum noch erwarten. Sie freute sich, dass es nun endlich soweit war und konnte sich nur noch mit Mühe beherrschen. Wie lange würden die Männer noch benötigen? Wann würde sie endlich ihren Bräutigam zu Gesicht bekommen?

„Warst du bei deiner Heirat auch so aufgeregt?“, fragte sie ihre Freundin. Reden würde ihr vielleicht das Warten verkürzen.

Kylic lachte leise. „Ich war so aufgeregt, dass ich mich nicht mehr an alles erinnern kann. Aber ich versichere dir, es war einer der schönsten Tage in meinem Leben.“

Aus Richtung Haus war das Geräusch einer sich öffnenden Tür zu hören. Endlich, dachte Famal und blickte noch einmal an sich herab. Djemip hatte ihr diese neue festliche Kleidung überreicht, aber selbst sie, mit ihrer mangelhaften Kenntnis, hatte sofort gesehen, dass nicht er sie genäht hatte. Problemlos hatte sie die Hand von Cytys erkannt. Er hatte die Sachen selbst gefertigt. Sie freute sich auf den Moment, an dem sie ihm dafür danken konnte. Schönere Sachen hatte sie auch zu Hause nie getragen.

Djemip trat schließlich als erster aus dem Haus. Auch er hatte sich für dieses Ereignis neue Kleidung angefertigt. Als Famal ihn erblickte, warf sie einen raschen Blick auf ihre Begleiterin. Kylic stand mit weit aufgerissenen Augen da und starrte ihren Ehemann an, der einen wadenlangen Rock und eine Tunika ohne Ärmel trug. Alles in einem hellen Blauton. Und dann lächelte sie. „Ich war immer der Meinung, er sähe im Rock besser aus, als in einer Hose. Vielleicht kommt das ja daher, dass ich ihn so kennengelernt habe. Und er hat sich für so eine schöne Farbe für den heutigen Tag entschieden.“

Famal hatte aber keine Zeit mehr, ihr zu antworten, denn hinter Djemip erschien Cytys. Er war zu groß, um sich hinter dem anderen Mann verstecken zu können, aber dazu hatte er auch keinen Grund. Er trug ebenfalls einen Rock, allerdings in Dunkelgrün, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Dazu hatte er eine ebenfalls grüne, ärmellose Tunika angelegt, die so geschnitten war, dass sie seinen muskulösen Oberkörper gebührend betonte. Über der Tunika lag ein breiter schwarzer Gürtel mit einer großen Schnalle, die ein Raubtierkopf zierte und Famal staunte darüber. Sie hatte Cytys nur ein einziges Mal den Anhänger mit dem Wappentier ihres Vaters gezeigt und er hatte es trotzdem perfekt auf der Schnalle wiedergegeben. Dabei hatte sie damals den Eindruck gehabt, es interessiere ihn überhaupt nicht. Sein langes dunkelblondes Haar hatte er zu einem dicken ordentlichen Zopf geflochten und sich auch auf die bei den Virei übliche Art geschminkt. Sie erkannte das, denn Djemip hatte ihr davon erzählt. Das Gesicht weiß, die Augen schwarz umrandet und die Lippen rot. Dadurch gewann sein normalerweise grobschlächtiges Gesicht immens und dazu wurde noch das Dunkelblau seiner Augen betont. Er war ihr noch nie schöner vorgekommen. Sie konnte es kaum erwarten, die Zeremonie hinter sich zu bringen. Und sie hoffte ihre Freunde würden nicht zu lange feiern wollen, denn Cytys konnte sie nun nicht mehr mit dem Hinweis darauf, sie wären nicht verheiratet, aus seinem Bett heraushalten. Endlich war sie am Ziel ihrer Träume.

Die beiden Männer traten näher und Famal konnte sehen, dass Cytys mindestens genauso aufgeregt war, wie sie selbst, obwohl er versuchte, das zu verbergen. Sie konnte es jedoch in seinen Augen erkennen. Sie lächelte ihm zu. Ihr war einfach danach und außerdem wusste sie, dass es ihn beruhigen würde. Er hatte diesem Tag genauso entgegengefiebert, wie sie selbst.

Endlich kam er bei ihr an. Sie wusste, dass es nun an der Zeit war, mit der eigentlichen Hochzeit zu beginnen. Mit einer Zeremonie, die sie eigentlich ablehnte, denn sie zeigte ihrer Meinung nach nur zu deutlich die Verachtung der Vassu für die Virei. Aber sie wusste, dass sie Cytys Sicherheit geben würde, auch wenn das für sie seltsam klang. Für ihn stellte die Zeremonie ein Stück Heimat dar. Sie hoffte, er könnte eines Tages darüber hinauswachsen, aber noch war er nicht soweit. Er hatte ja gerade erst damit begonnen. Und sie wollte mit der Heirat nicht so lange warten, bis er so weit war.

Kylic hatte schon das Tuch vom Tisch genommen und Cytys sah sie erwartungsvoll an. Famal merkte, dass sie jetzt nicht länger warten konnte.

Sie nahm die Vinculae zur Hand. Kylic hatte ihr gezeigt, wie sie sie handhaben musste. Sie legte sie Cytys um die Handgelenke, genau wie die Fesseln, die sie trotz ihrer Schönheit tatsächlich waren. Es war das letzte, was sie tun wollte, aber er zuckte noch nicht einmal zusammen.

„Hiermit binde und heirate ich dich.“ Die traditionellen Worte machten es nicht besser. Kylic reichte ihr den Clava und sie befestigte den stilisierten Schlüssel an ihrem Gürtel. Zumindest wurde er nicht dazu benötigt, die Handfesseln zu öffnen. Die zwei Armbänder konnten auch so voneinander getrennt werden. Und die Bänder selbst sollten nie mehr geöffnet werden.

„Ich verspreche, dich vor allem ungerechtfertigtem Harm und Schmerz zu schützen.“ ‚Du kannst dir sicher sein‘, versprach sie Cytys in Gedanken, ‚dass ich dich vor allem beschützen werde. Ich werde nicht erst überlegen, ob es gerechtfertigt ist.‘ Kylic hielt ihr bereits das Cultra entgegen und sie befestigte das stilisierte Messer ebenfalls an ihrem Gürtel.

Damit waren sie bereits am Ende der Zeremonie angekommen. Ab diesem Moment war Cytys ihr Ehemann, ihr Cuviri, wie das bei den Vassu hieß. Und wenn sie sich im Imperium befänden, würde er sie künftig Custa und nicht mehr Domina nennen. Sie hoffte allerdings, er werde sich bald trauen, sie auch in aller Öffentlichkeit, mit ihrem Namen anzusprechen.

„Ihr beiden werdet nicht darum herumkommen, etwas mit uns zu essen, bevor wir euch allein lassen. Wir wollen schließlich nicht, dass ihr mitten in der Nacht Hunger bekommt. Und ihr wollt das sicherlich auch nicht.“ Kylic lachte und ihr Ehemann fiel in ihr Lachen ein. Famal spürte wie sie rot wurde. Aber dann merkte sie, wie die Fröhlichkeit auch in ihr selbst hochstieg.

Sie sah Cytys an, der sich reichlich Mühe gab, nicht zu laut zu lachen. „Nein“, sie schüttelte ihren Kopf, „das wollen wir auf keinen Fall. Das wäre schrecklich, oder Cytys?“ Er nickte, aber seine Bemühungen, sein Lachen zu unterdrücken, hinderten ihn am Sprechen. Dafür leuchteten seine Augen umso intensiver, wenn er sie anblickte.

Famal war sich sicher, dass sie sich bis nach dem Essen beherrschen konnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit. Sie hoffte zumindest darauf.


Wird fortgesetzt in „Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 3
 
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