Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 3

Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 3 – Fortsetzung von „Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 2

„Ich bin davon überzeugt, dass Doimaatu durchaus mit Ssuyial mithalten kann“, bemerkte Cytys zu Famal, während er neben ihr durch die Straßen schritt. Sie waren vor ein paar Tagen in der Hauptstadt des Oixyyaa angekommen und nahmen sich nun die Zeit, die Stadt zu erkunden. Kylic hatte ihnen die Namen und die Adresse von Freunden gegeben und damit war ihnen die Suche nach einer Unterkunft erspart geblieben. Und auch die Suche nach Arbeit, nachdem Cytys gezeigt hatte, wie geschickt er mit den Händen war. Deswegen hatten sie Zeit, sich die Stadt in aller Ruhe anzusehen.

Sie waren durch etliche Orte der Oixya gekommen und hatten sich in der Zwischenzeit an die Blicke der Einheimischen gewöhnt. Famal war immer wieder versucht, sich einzureden, sie würden nur deshalb angestarrt, weil sie beide so groß waren. Aber jedes Mal wurde ihr wieder bewusst, dass sie sich etwas vormachte. Die Menschen sahen als erstes immer auf den langen dunkelblauen Rock ihres Ehemanns und die Vinculae, die er voller Stolz trug.

„Glaubst du tatsächlich, diese Stadt kann mit Ssuyial mithalten?“ Sie sah ihn von der Seite her an.

„Ich gebe ja zu, nicht gerade ein Experte für Ssuyial zu sein. In all den Jahren, in denen ich dort gelebt habe, konnte ich nur einen kleinen Teil der Stadt kennenlernen. Ich hatte nie Gelegenheit, alleine durch die Stadt zu streifen. Das Leben eines Viri besteht aus Arbeit und aus sonst nicht sehr viel. Zumindest nicht so, wie ich es kennengelernt habe.“ Famal war froh, dass er so ruhig darüber sprechen konnte.

„Ich fürchte, du wirst auch zukünftig nicht mehr von Ssuyial kennenlernen. Ich befürchte auch, Dysarvar wird dir nicht zusagen.“ Sie hatten beschlossen, in Famals Heimatland weiterzureisen. Sobald sie ihre Vorbereitungen für eine so weite Reise abgeschlossen hatten. Sie wollten die Route im Osten des Imperiums nehmen, weil Famal sie bereits von ihrer Reise in den Süden her kannte.

„Lass uns umkehren. Risav und Asava werden sich schon fragen, ob wir uns verlaufen haben.“ Die beiden waren die Freunde von Kylic, bei denen sie untergekommen waren und denen sie zurzeit zur Hand gingen. Die verbundenen Frauen erwarteten an diesem Nachmittag einen wichtigen Kunden und sie wollten Cytys gerne dabeihaben, weil er einen Großteil der anfallenden Arbeit erledigen würde. Famal hingegen war für diesen Auftrag unwichtig und niemandem würde es auffallen, wenn sie nicht anwesend war. Ihr war das durchaus recht.

Trotzdem hatte sie nichts dagegen, zurückzukehren. „Einverstanden.“ Sie blickte sich um und versuchte herauszufinden, wo sie sich befanden. In der Wildnis hatte sie damit so gut wie nie Probleme. Dort war sie sehr gut darin, ihre Position festzustellen. Seltsamerweise gelang ihr das in der Stadt nicht.

Cytys berührte sie sanft am Arm. „Ich weiß, wo wir sind. Ich weiß auch, wo wir lang müssen. Du musst dich nur meiner Führung anvertrauen.“ Er lachte leise. Vor ein paar Wochen hätte er sich noch nicht getraut, sie damit aufzuziehen, dass sie fähig war, sich in den Straßen einer Stadt zu verirren. Anfänglich war ihr das auch ziemlich peinlich gewesen. Aber diese Verlegenheit hatte sie in der Zwischenzeit abgelegt. Sie hatten beide dazu gelernt.

„Dann geh voran“, bestimmte sie. „Dann hätte ich wenigstens die Möglichkeit, mich hinter dir zu verstecken.“ Sie fiel in sein Lachen ein. Cytys folgte ihrer Aufforderung allerdings nicht. Stattdessen legte er einen Arm um sie und hielt sie nah bei sich. Dafür nahm er sein Hasta in die linke Hand. Dies würde ihn allerdings nicht vor Probleme stellen, denn er konnte, wenn notwendig, auch mit links kämpfen. Hier in der Stadt sollte das aber nicht nötig sein. Bisher hatten sie keine größeren Schwierigkeiten gehabt und waren mit Worten als Verteidigung ausgekommen.

Ein paar Mal waren sie von Leuten angesprochen wurden, die es nicht gut fanden, dass Cytys so öffentlich kundtat, er wäre ein Viri. Sie waren der Meinung, er müsse sich nun, nachdem er endlich frei war, von allem trennen, was ihn als Viri kennzeichnete. Vor allem natürlich von dem Rock, den Vinculae und seinem Zopf. Cytys hatte sich allerdings nie aus der Ruhe bringen lassen. Sobald er die anderen fragte, wie sie ihn denn davon überzeugen wollten, seine Meinung zu ändern, hörten sie auf zu reden. Er ragte nicht wirklich über ihnen auf, aber er war so groß und dabei auch noch breitschultrig, dass sie sich offensichtlich von ihm bedroht fühlten und ihm eine Antwort schuldig blieben. Diejenigen, die auch unter solchen Bedingungen weiterhin lautstark ihre Meinung kundtaten, verstummten, sobald Famal sich ebenfalls an der Diskussion beteiligte und aus diesem Grund näherkam.

Sie brauchten nicht lange, bis sie das Haus erreichten, in dem sich das Geschäft von Risav und Asava befand. Genau wie ihre Freunde in Ysvaanet stellten die beiden Kleidung, Schmuck und Haushaltsgegenstände her. Und auch sie konnten Hilfe gut gebrauchen, selbst wenn sie ihnen nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung stand. Sie waren froh, als Famal, aber vor allem Cytys, vor ihrer Tür standen.

„Wir sind doch nicht zu spät, oder?“ Famal hoffte es nicht, denn die beiden Frauen schienen alleine zu sein. Asava winkte beruhigend ab.

„Keine Angst, es ist noch Zeit.“ Famal atmete erleichtert auf. Einen Augenblick lang hatte sie befürchtet, die Kunden wären schon wieder gegangen.

„Aber sehr viel Zeit ist nicht mehr, denn ich sehe sie bereits die Straße herunterkommen. Zumindest glaube ich, dass es diese beiden sein müssen, allerdings bin ich ihnen noch nie persönlich begegnet.“ Risav konnte ihre Aufregung nicht verbergen.

Famal drehte sich um. Genau in diesem Moment betraten eine Frau und ein Junge das Geschäft. Beide waren gut gekleidet und beide waren auch bewaffnet. Und die Frau vermittelte den Eindruck, daran gewöhnt zu sein, von anderen Menschen erkannt zu werden.

„Secundi Dejivoar, willkommen in unserem Geschäft“, begrüßte Risav die Frau mit einer Verbeugung. Famal hatte sich nicht getäuscht. Diese Frau war wichtig. Im Oixyyaa gab es kaum eine wichtigere Person. Die Secundir stellten die Erben des Soloti, des Herrschers über die Oixya, dar. Genauer gesagt, handelte es sich bei ihnen um die potentiellen Erben. Famal hatte gehört, dass erst nach dem Tod eines Soloti festgelegt würde, welches seiner Kinder ihm nachfolgte. Diese Regelung kam ihr so seltsam vor, dass sie sich bisher nicht hatte entscheiden können, ob sie dem Gehörten glauben sollte.

Für eine Oixya war die Frau ziemlich groß, damit war sie allerdings immer noch fast einen Kopf kleiner als Famal. Und offenbar war sie nicht daran gewöhnt, zu anderen Frauen aufzusehen. Zumindest interpretierte Famal den kurzen Blick in ihre Richtung so. Dann aber wandte sich die Secundi der Geschäftsinhaberin zu.

„Ich grüße dich ebenfalls, Risav“, erwiderte sie die Begrüßung und deutete eine kleine Verbeugung an. „Dies ist mein Apprenti Rovan.“ Der Junge verbeugte sich ebenfalls. Er schien ungefähr zehn Jahre alt zu sein und war von schlanker Gestalt. Sein hellbraunes Haar reichte ihm nicht bis zur Schulter.

Risav nickte ihm zu und begann dann damit, die anderen Anwesenden vorzustellen. „Dies ist meine Conjuncti Asava, Secundi. Wir beide führen dieses Geschäft zusammen.“ Asava verbeugte sich ebenfalls vor Dejivoar und nickte dem Jungen zu. Dann zeigte Risav auf Cytys, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte und nun einige Schritte vortrat. „Dies ist Cytys. Er ist derjenige, der die Kleidung anfertigen wird, solltest du uns den Auftrag erteilen. Und seine Ehefrau Famal.“ Die beiden verbeugten sich ebenfalls vor der Frau und begrüßten den Jungen mit einem Nicken. Dieser war plötzlich einige Schritte zurückgewichen, als er Cytys ansichtig wurde. Er hatte wohl noch nie einen derart großen Mann gesehen.

„Ich grüße euch“, erwiderte die Secundi. Dann wandte sie sich erneut Risav zu. „Mir war nicht bekannt, dass ihr Angestellte eingestellt habt.“

Risav schüttelte den Kopf. „Die beiden sind uns von Freunden aus Ysvaanet empfohlen wurden. Diese führen dort ebenfalls ein Geschäft für Kleidung und Schmuck. Cytys hat für sie gearbeitet und sie waren sehr zufrieden mit dem, was er geschaffen hat. Er hat auch seine eigene Kleidung und die seiner Frau selbst genäht. Ich versichere dir, du wirst von seinen Fertigkeiten nicht enttäuscht sein. Und selbstverständlich hat er nichts dagegen, wenn du dir vorher seine Arbeit anschaust.“

Die Secundi blickte wieder Cytys an und musterte ihn von oben bis unten. Natürlich entgingen ihr weder sein Rock noch die Vinculae und deshalb ging ihr Blick sofort weiter zu Famal. Und diese wusste auch sofort, was der Frau gerade durch den Kopf ging.

„Cytys ist durchaus in der Lage, für sich selbst zu sprechen, Secundi. Ich bin nur seine Ehefrau, nicht seine Hüterin.“

Dejivoar lächelte sie entschuldigend an. „Sei gegrüßt, Famal“, richtete sie das Wort an die Sarvarerin, um dann wieder zu Cytys hinüberzublicken. „Ich grüße dich, Cytys. Ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt.“

Cytys schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass dies nicht deine Absicht war. Du bist aber offenbar anderes von Virei gewöhnt, daher kann ich deine Reaktion verstehen.“

„Die meisten Virei, die in den Oixyyaa flüchten konnten, zeigen ihre Herkunft nicht mehr so offen“, erklärte die Secundi.

„Ich werde jeden Tag darauf angesprochen, wieso ich immer noch Rock und Zopf trage. Vor allem stören sich die Menschen an meinen Vinculae. Deshalb kann ich gut verstehen, wenn Virei aufhören, wie Virei auszusehen. Ich bin mir aber auch sicher, dass die meisten sich in einer Hose unwohl fühlen.“

Die Secundi nickte. „Wir Oixya bilden uns viel darauf ein, dass hier jeder so leben kann, wie er will, aber leider entspricht das nicht ganz der Wahrheit. Viele Menschen im Oixyyaa wollen nicht an das Imperium erinnert werden, vielleicht weil sie Angst haben, irgendwann von den Vassu überfallen zu werden. Viele haben heutzutage vergessen, aus welchen Gründen wir keinen Krieg gegeneinander führen. Diejenigen allerdings, die einen Angriff auf den Nachbar befehlen könnten, gehören zum Glück nicht dazu.“

„Krieg ist etwas, mit dem ein Viri sich nicht auskennt. Und darüber bin ich, ehrlich gesagt, froh.“ Cytys lächelte die Oixya an, um ihr zu zeigen, dass seine Worte nicht gegen sie persönlich gerichtet waren. „Aber sprechen wir doch lieber über den Auftrag, den du Risav und Asava erteilen wirst. Aus diesem Grund bist du doch hierhergekommen, Secundi.“

Sie nickte erneut. „Du hast recht, Cytys. Aber damit ich entscheiden kann, ob ich hier Kleidung für mich und meinen Apprenti nähen lassen will, muss ich erst einmal wissen, was ich von dir erwarten darf.“

„Ich habe das genäht, was ich trage, aber ich würde es gerne vermeiden, mich hier auszuziehen. Meine Custa könnte mir das übelnehmen.“ Er zwinkerte Dejivoar zu.

Die Secundi konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Ein Viri, der Humor besitzt. Dies ist eindeutig ein Pluspunkt für dich. Und ich gebe dir recht. Auch ich möchte deine Custa nicht verärgern.“ Sie zwinkerte ihrerseits Famal zu.

Die Sarvarerin musste sich eingestehen, dass sie die Secundi sympathisch fand. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit den Söhnen des Rego so ungezwungen plaudern zu können. Dann fiel ihr plötzlich ein, dass dem Herrscher von Kisarvar nur noch ein Sohn geblieben war und ihr Lachen versiegte augenblicklich.

Cytys blickte sofort besorgt zu ihr hinüber, aber sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, ich wurde nur gerade an etwas erinnert. Aber das hat nichts mit der Angelegenheit hier zu tun.“

„Vielleicht sollten wir uns lieber alle hinsetzen“, unterbrach Asava die Unterhaltung. „Dort hinten befindet sich ein Bereich, wo euch niemand stören wird, während ich hier vorne die Stellung halte und mich um die Kunden kümmere.“

„Das ist eine hervorragende Idee“, stimmte ihr die Secundi zu. „Risav, zeigst du uns den Weg?“

Die Geschäftsbesitzerin ging voran, gefolgt von Dejivoar und Rovan, und ihnen schlossen sich Famal und Cytys an. Sie zeigte ihnen den gemütlichen Sitzbereich und bat sie, sich schon einmal niederzulassen. Sie würde Tee zubereiten.

Cytys hatte auf dem Weg nach hinten einige Kleidungsstücke an sich genommen, die er bereitgelegt hatte, bevor er mit Famal zu dem Gang durch die Stadt aufgebrochen war. Anhand dieser Teile wollte er der Kundin zeigen, wie seine Arbeit aussah. Er würde alles daransetzen, damit sie Risav und Asava den Auftrag erteilte. Deshalb gab er die Stücke an die Secundi weiter, sobald sie saßen.

„Hier sind einige Kleidungsstücke, die ich für meine Ehefrau angefertigt habe. Wenn du sie dir ansiehst, kannst du beurteilen, ob dir meine Arbeit zusagt.“

„Cytys ist immer viel zu bescheiden, wenn es um seine Fertigkeiten geht“, brachte sich Famal ein. „Ich auf der anderen Seite bin selbstverständlich voreingenommen.“

Die Secundi hatte bereits damit begonnen, sich die einzelnen Stücke anzusehen und blickte daher nicht auf, als sie auf Famals Worte antwortete. „Ich finde es gut, wenn Partner sich gegenseitig unterstützen.“ Dann sah sie zu Cytys hinüber. „Hast du auch die Verzierungen selber angebracht?“, wollte sie von ihm wissen.

Cytys nickte. „Ich habe alles selbst gemacht. Angefangen bei der Auswahl des Stoffes über den individuellen Schnitt bis zum Nähen und Verzieren.“

„Bei der Qualität deiner Arbeit wundere ich mich, wieso du kein eigenes Geschäft eröffnest.“ Die Secundi sah ihn fragend an.

„Wir wollen nicht in Doimaatu bleiben“, antwortete Cytys.

„Du könntest in jeder Stadt im Oixyyaa ein eigenes Geschäft aufmachen. Ohne Probleme.“

Cytys sagte nichts mehr dazu. Als er still blieb, blickte die Secundi noch einmal zu ihm hinüber, aber er äußerte sich trotzdem nicht mehr.

Deshalb sah Dejivoar nun zu Famal hinüber. „Ihr habt nicht vor im Oixyyaa zu bleiben, oder? Da ich mir nicht vorstellen kann, dass ihr ins Imperium wollt, wohin soll die Reise dann gehen?“

Famal blickte erst kurz zu Cytys hinüber, bevor sie antwortete. „Wir wollen zu meiner Familie, Secundi.“

Dejivoar blickte sowohl Famal, als auch Cytys lange an. „Diese Geschichte würde ich mir gerne anhören. Aber erst, wenn der Tee da ist.“ Sie zwinkerte der anderen Frau erneut zu. „Natürlich nur, wenn du davon erzählen möchtest, Famal.“

Die Sarvarerin blickte die Tochter des hiesigen Herrschers nachdenklich an und versuchte sie einzuschätzen. Würde dieser Auftrag von ihrem Verhalten abhängen? Auf der Burg ihres Vaters hatte sie solche Praktiken immer verabscheut. Aber auf ihrer Reise hatte sie lernen müssen, dass man nicht immer auf seinen Prinzipien bestehen konnte. Manchmal musste man in der Lage sein, über seinen Schatten zu springen.

„Ich werde darüber nachdenken, Secundi“, lautete ihre Antwort trotzdem.

Dejivoar lächelte ihr zu. „Deine Bereitschaft, meine Bitte zu erfüllen, wird keine Auswirkung auf meinen Auftrag haben, Famal, solltest du das befürchten, denn ich habe mich bereits entschieden. Ich hätte gerne, dass Cytys für mich und Rovan mehrere Sets Kleidung anfertigt. Was ich genau benötige, habe ich hier aufgelistet.“ Sie legte eine geschlossene Schreibtafel auf den Tisch. Die hölzernen, mit Wachs gefüllten, Rahmen hatte Famal hier im Bund zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Man benutzte sie hauptsächlich dafür, sich schnell etwas zu notieren, denn der Platz war begrenzt. Die Schriftzeichen wurden mit einem hölzernen Griffel in das Wachs gekratzt und konnten auch wieder entfernt werden, in dem man das leicht erwärmte Wachs glättete. Auf diese Weise konnte man die Tafeln immer wieder verwenden. Famal hatte sich sofort mehrere davon zugelegt und sie in den letzten Monaten vor allem dafür genutzt, Cytys bei der Verbesserung seiner Lese- und Schreibfertigkeiten zu unterstützen. Aus diesem Grund war er inzwischen in der Lage, Dejivoars Aufstellung selbst zu entziffern.

Famals Ehemann nahm die Tafel in die Hand, klappte sie auf und starrte auf die Schriftzeichen. Zwar vermied er es, vor Anstrengung die Stirn in Falten zu legen, aber sie konnte seine Konzentration in seinen Augen erkennen. Schließlich blickte er wieder auf. „Willst du die Materialien selbst aussuchen, Secundi?“, wollte er dann von der Kundin wissen.

Diese schüttelte aber ihren Kopf. „Ich habe notiert, für welchen Zweck ich die Kleidung benötige. Alles andere überlasse ich dir.“

Risav erschien mit dem Tee und die Unterhaltung stockte für einen Moment. Dann sah die Secundi die Geschäftsbesitzerin an und bat sie darum, sie mit Famal und Cytys alleine zu lassen. Sie teilte ihr aber auch direkt mit, dass sie ihnen den Auftrag erteilen würde. Risav sah von einem zum anderen, entschied aber dann, ihre Freunde würden keine Hilfe benötigen. Deshalb begab sie sich zu ihrer Frau in den vorderen Teil des Geschäftes.

Dejivoar nahm sich eine Tasse und schenkte sich selbst Tee ein, dann gab sie ihrem Apprenti den Auftrag, den anderen beiden am Tisch, und auch sich selbst, etwas einzugießen. „Du musst entschuldigen“, wandte sie sich an Famal, „aber ich bin einfach neugierig. Wenn du mir nichts erzählen möchtest, dann ist das in Ordnung. Allerdings würde ich eure Geschichte wirklich gerne erfahren.“ Sie nahm einen Schluck Tee. „Du könntest tatsächlich fast als Oixya durchgehen, Famal. Und es gibt durchaus eine ganze Reihe Frauen im Bund, die sich mit einem Viri verbunden haben. Wenn auch die meisten Virei es vermeiden, weiterhin im Rock herumzulaufen. Leider, kann ich dazu nur sagen.“ Ihr Gesicht wurde einen kurzen Augenblick sehr ernst.

Aber als sie weitersprach, lächelte sie bereits wieder. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du keine Vassu bist. Keine Vassu, und würde sie sich noch so sehr zu ihrem Cuviri hingezogen fühlen, ließe einem Viri die Freiheit, die du Cytys lässt. Dies würde ihr selbst dann nicht gelingen, wenn sie sich darum bemühen würde. Es wird ihnen einfach von klein auf anerzogen, sie können es nie ganz ablegen. Damit bleibt nur noch eine Möglichkeit. Wenn du weder Oixya noch Vassu bist, dann musst du eine Sarvar sein. Auch wenn du nicht im Geringsten den Frauen aus Kisarvar ähnelst. Was bist du also, Famal, der du auf dem Weg zu deiner Familie bist?“

Famal konnte nur den Kopf schütteln. Diese Frau war eine sehr gute Beobachterin und dazu auch noch intelligent. Dies machte sie gefährlich. Trotzdem hatte sie keine Angst vor ihr.

Sie lachte und legte gleichzeitig Cytys beruhigend eine Hand auf den Arm, denn er sah besorgt von ihr zu Dejivoar und zurück. „Keine Angst, Ehemann, von der Secundi geht keine Gefahr für uns aus. Sie ist einfach nur neugierig. Und jemand wie wir beide sind ein unwiderstehliches Studienobjekt für sie.“ Jetzt blickte sie wieder zu der Oixya hin. „Das ist doch richtig, oder?“

Dejivoar nickte. „Wirst du meine Frage beantworten, Famal?“

„Das werde ich, Secundi. Wenn das auch nicht so einfach ist. Ich glaube nicht, dass es bei mir zu Hause ein Wort für das gibt, was ich bin. Ich bin zu etwas geworden, das man sich dort nicht vorstellen könnte, daher wäre es wohl am einfachsten, du würdest mich eine Equiti nennen. Du hast völlig recht mit deiner Vermutung, ich würde aus Kisarvar stammen. Aber sieh mich an! Wie könnte jemand von meiner Größe, eine Frau meiner Größe, jemals in der Masse der Frauen in meinem Land verschwinden. Ich würde überall auffallen, selbst wenn ich mich an alle Regeln hielte. Aber mir war nicht mehr danach, mich an die Regeln zu halten. Zu Hause konnte ich mich irgendwann nicht mehr weiterentwickeln, obwohl mein Vater mich immer unterstützt hat. Allerdings nur heimlich. Das war dann nicht mehr genug. Deshalb habe ich diese Reise unternommen. Ich habe den See umrundet und bin hierher in den Süden gekommen, um kämpfen zu lernen. Hier hat sich niemand daran gestört, dass ich eine Frau bin, die zu den Waffen gegriffen hat. Erst als ich mich bereits auf dem Heimweg befand, habe ich festgestellt, dass mir immer noch etwas Wichtiges fehlt.“ Noch nie hatte sie einem Menschen so viel von ihrer Geschichte erzählt, von Cytys einmal abgesehen.

„Eine Equiti? Ich finde, der Begriff beschreibt dich sehr gut. Du solltest wissen, dass du nicht die erste Person aus deinem Volk bist, die mir begegnet. Ich habe sogar erst vor wenigen Monaten dein Land besucht und dabei eine Reihe interessanter Leute kennengelernt. Aber niemand war wie du. Zumindest kamen sie nicht ganz an dich heran. Obwohl ein Equito, der zu einem Viri wurde, auch sehr interessant ist.“

„Ihr seid Tovarjal begegnet, Secundi?“ Famal fand das aufregend.

„Ssutovar lautet sein Name nun, nachdem er der Cuviri der Hereda wurde. Und ja, ich bin ihm begegnet. Sogar mehr als einmal. Kennst du ihn persönlich? Ich hätte gerne gewusst, wie er war, bevor er nach Vassucit kam. Jetzt ist er zumindest an der Oberfläche ein Viri. Aber seine Anwesenheit hat bereits zu Veränderungen geführt. Dass sich im Domuvirei der Imperatra ein Sarvarer befindet, hat sich schon auf die Virei ausgewirkt. Ich frage mich, ob die Vassu das bedacht haben, als sie diese Verbindung in den Friedensvertrag hineinschrieben?“

Famal musste zugeben, dass sie ihn nicht persönlich kannte. „Mein Vater hat vor dem Krieg die Bekanntschaft des Rego und seiner Söhne gemacht. Allerdings ist dies für das Oberhaupt einer einflussreichen Familie nichts Ungewöhnliches, auch wenn mein Vater nicht zu den ganz großen Ducem gehört. Er wollte aber seine so aus der Menge herausragende Tochter am Hof nicht vorführen. Deshalb habe ich den Princepo erst an dem Tag das erste Mal gesehen, als er zum See aufbrach und da war er schon nicht mehr der Equito, der so ruhmreich aus dem Krieg zurückgekehrt war. Nach dem, was mein Vater mir erzählt hat, war er, wie seine Brüder, ein Paradebeispiel für einen sarvarischen Mann. Mutig. Geschickt im Umgang mit den Waffen. Höflich und zuvorkommend zu den Frauen. Gutaussehend, mit seinem kurzen dunklen Haar und seinem imposanten Bart. Die Person, die ich an dem Tag in Dysarvar sah, hatte keinerlei Ähnlichkeiten mit der Person aus den Erzählungen meines Vaters. Er hatte schon begonnen, sich in einen Viri zu verwandeln. Er trug sein Haar bereits länger und hatte keinen Bart mehr. Für die Menge, die die Straßen säumte, war er kein Sarvar mehr. Es muss ihm ziemlich schwergefallen sein, diesen Weg zu gehen.“

Dejivoar nickte. Sie war Famals Worten aufmerksam gefolgt. „Er hat mir erzählt, wie schrecklich dieser Tag für ihn war. Ich hatte Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, ohne dass eine Vassu dabei war. Stellt euch das vor! Nur drei Virei und eine Milli.“ Sie lachte. „Und das im Imperium. Dies war eine Situation, die ich mir vorher nicht hatte vorstellen können. Aber der Grund dahinter war überhaupt nicht zum Lachen, denn im Nachhinein stellte sich heraus, dass Feinde der Imperatra hinter dem Ganzen steckten. Deshalb konnte es passieren, dass diese der Aufsicht der Vassu entkommenen Virei mitten im Velt auf eine verletzte Oixya trafen und wir alle gemeinsam weiterreisten. Aber darüber möchte ich jetzt nicht reden. Belassen wir es dabei, dass es im Imperium nicht zu einem Umsturz gekommen ist, aus dem durchaus ein Krieg hätte entstehen können. Für mich persönlich ist an dieser Episode viel wichtiger, dass ich damals meinen Apprenti kennengelernt habe. Aber Ssutovar ist tatsächlich ein interessanter Mensch und als ich ihn zum zweiten Mal traf, diesmal in Ssuyial, konnte ich feststellen, dass er seine Rolle als Friedenspfand und Verbindungsglied zwischen Vassucit und Kisarvar sehr ernst nimmt. Dies gibt ihm die Kraft, ein Viri zu werden.“

Famal fand die Geschichte, die die Secundi erzählte, sehr interessant. Sie selbst machte ihre Erfahrungen mit einem Mann, der sich von einem Viri in jemanden verwandelte, der selbständig denken und handeln wollte. Auch wenn es manchmal noch bei dem Versuch blieb. Der ehemalige Princepo musste den Weg in die andere Richtung gehen. Für beide Männer war das ganz bestimmt nicht einfach.

Cytys hatte ebenfalls gut zugehört. Aber als er den jungen Rovan ins Auge fasste, stellten die anderen fest, dass er sich auf einen anderen Teil der Erzählung konzentriert hatte. „Du warst einmal ein Viri, junger Apprenti, oder?“, fragte er ihn geradeheraus.

Seine Frage erschreckte allerdings nicht nur den Jungen. Weder Famal noch Dejivoar hatten mit so etwas gerechnet. Rovan wurde bleich und sah sich hilfesuchend nach der Milli um. Er blieb stumm, weil er nicht auf die Frage antworten konnte oder wollte.

„Wie kommst du darauf?“, wollte Dejivoar wissen.

„Ich wollte deinen Apprenti nicht erschrecken“, begann Cytys, „aber du hast erzählt, du wärst im Imperium den Virei begegnet und für dich wäre das Wichtigste dabei gewesen, Rovan kennenzulernen. Daraus habe ich geschlossen, dass er einer der Virei war. Außerdem würde das auch seine Reaktion auf mich erklären.“ Er sah die Secundi fragend an.

Dejivoar staunte. Und dann nickte sie dem großen Mann zu. „Das ist alles völlig richtig. Rovan war einer der drei Virei. Ein achtjähriger Junge im Besitz des Palastes. Aus diesem Grund konnte die Hereda ihn mir auch schenken, als ich ihn als Belohnung für geleistete Dienste verlangte. Aber bevor jemand etwas Falsches vermutet, solltet ihr wissen, dass dies Ssutovars Idee war. Er war der Meinung, Rovan wäre jung genug, sich an das Leben im Bund zu gewöhnen. Und er hatte völlig recht damit. Rovan reagiert allerdings immer noch etwas empfindlich auf Virei.“

„Es tut mir leid“, ließ sich der Junge auf einmal vernehmen, „ich wollte niemanden beleidigen. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier einen Viri zu treffen. Ich war einfach nur überrascht.“

„Ich habe mich nicht beleidigt gefühlt“, nahm Cytys die Entschuldigung an und schenkte dem Jungen ein Lächeln. Dieser entspannte sich wieder. Offenbar hatte er doch keinen Fehler gemacht.

„Ich freue mich, eure Bekanntschaft gemacht zu haben“, fuhr die Secundi fort. „Und dies nicht nur wegen der Kleidung, die Rovan und ich bekommen werden. Leider habe ich jetzt keine Zeit mehr und deshalb möchte ich euch gerne in den Palast einladen, um mich länger mit euch zu unterhalten.“ Sie erhob sich. „Werdet ihr mir diesen Gefallen tun und mich besuchen?“

Famal war zu erstaunt, um zu sprechen und deshalb nickte sie nur. Aber sie sah aus den Augenwinkeln, dass Cytys ebenfalls seine Zustimmung gab.

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„Ich staune immer wieder über deinen Ehemann. Da haben sich die Vassu alle Mühe gegeben, ihm ein für alle Mal abzugewöhnen, eine Waffe in die Hand zu nehmen und dann erfährt er von etwas, das die Imperatra eine Meditationshilfe nennt. Und plötzlich würde sogar ich mich gegen ihn schwertun“, gab Dejivoar Famal gegenüber zu, während die beiden Cytys und einen der Millir, die die Gruppe begleiteten, beim Training mit dem Hasta beobachteten. „Sogar unsere Leute mussten zugeben, dass diese Stäbe tödlich sein können. Wir haben sie inzwischen ins Training unserer Millir aufgenommen.“

„Jeder sollte Cytys mit Vorsicht entgegentreten, solange er kein Schwert oder etwas Ähnliches in der Hand hält“, entgegnete die Sarvarerin ihr mit einem schiefen Grinsen und wusste doch genau, dass sie damit nicht ganz unrecht hatte. Gab man ihrem Mann ein Schwert in die Hand, war die Gefahr groß, dass er eher sich selbst verletzte, als den Gegner.

Die Secundi lachte. Sie hatte in den letzten Wochen reichlich Gelegenheit gehabt, festzustellen, dass Famals Aussage durchaus der Wahrheit entsprach. Trotzdem brachte diese Aussage sie zum Lachen. Sie hatte deswegen auch kein schlechtes Gewissen, denn Cytys lachte selbst über sein mangelndes Geschick. Der Oixya war nicht entgangen, dass der riesige Viri oft und gerne lachte, nicht selten über seine eigenen Unzulänglichkeiten. Und er behauptete immer wieder, viele davon zu besitzen. Auf jeden Fall mehr, als andere ihm zugestehen wollten. Hinter seinen Aussagen verbarg sich allerdings die Tatsache, dass er trotz seiner Größe erstaunlich unsicher war. Über sich selbst zu lachen, traute er sich auch nur bei den wenigen Personen, denen er erlaubt hatte, ihm näherzukommen und ihn kennenzulernen. Dejivoar durfte sich inzwischen zu diesem kleinen Kreis zugehörig fühlen. Aber ihr war nicht entgangen, dass er ein Geheimnis mit sich herumtrug. Sie vermutete, dass Famal es kannte, aber sie schwieg genauso beharrlich wie er. Allerdings hatte die Sarvarerin sich endlich überwinden können, ihre Geschichte zu erzählen. Dies war ihr nicht leichtgefallen und die Secundi war sich sicher, dass sie Teile für sich behalten hatte.

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Cytys beobachtete Famal, wie sie sich einen Weg zwischen den oixya Kriegern hindurch suchte, die rund um das Feuer verteilt saßen. Sie lächelte den Frauen und Männern dabei zu und diese erwiderten dieses Lächeln. Sie vermittelte den Eindruck, sich tatsächlich zwischen all den Menschen wohl zu fühlen, aber er kannte sie besser. Es gefiel ihr überhaupt nicht, mit so vielen Personen unterwegs zu sein. Sie war das nicht gewöhnt. Lieber wäre sie weiterhin allein mit ihm gereist, trotzdem hatten sie das Angebot der Secundi nicht ablehnen können. In einer großen Gruppe unterwegs zu sein, bot ihnen größere Sicherheit. Außerdem sparten sie Zeit, denn Dejivoar ermöglichte es ihnen, den See auf einem Schiff zu überqueren. Famal hatte in den letzten Wochen begonnen, sich um ihren Vater zu sorgen und deshalb war es für sie sehr wichtig, ihn so früh wie möglich zu erreichen. Zwar hatte sie ihm das nicht so explizit mitgeteilt, aber sie hatte ihre Besorgnis nicht vor ihm verbergen können. Er wusste allerdings, sie hätte dieses Angebot abgelehnt, hätte er sie darum gebeten.

Da sie aber weder dumm noch unaufmerksam war, hatte er sehr überzeugend dabei sein müssen, ihr zu versichern, die Entscheidung wäre richtig gewesen. Trotzdem war ihr nicht entgangen, dass es ihm Angst machte, einen Teil des Weges auf dem Gebiet des Imperiums zurückzulegen. Er freute sich auch nicht darauf, ein Schiff der Vassu zu betreten. Sie glaubte ihm aber, als er ihr erzählte, er ginge davon aus, die Secundi könne sie beschützen. Schließlich hatte sie ihnen das vor der Reise zugesichert. Und da war ihr schon klar, dass ein ehemaliger Viri im Imperium nicht gerne gesehen wurde. Aber in Wirklichkeit glaubte Cytys nicht, dass ihr das gelingen konnte. Zumindest nicht, wenn eine der Vassu ihn wiedererkennen sollte. Und diese Möglichkeit bestand durchaus, denn es gab nicht so viele Riesen unter den Virei. Wie wollte Dejivoar ihn also vor etwas schützen, von dem sie keine Ahnung hatte?

Endlich hatte Famal es geschafft, den Platz am Rand des Lagers zu erreichen, den sich Cytys mit ihr teilte. Selbstverständlich befanden sie sich noch innerhalb des Wachperimeters, aber ansonsten hatten sie die Möglichkeit, für sich zu bleiben. So konnten sie die ihnen so wichtige Zweisamkeit genießen und er freute sich jeden Abend, genau wie sie darauf, die Nacht in der Nähe des jeweils anderen zu verbringen.

Aber als sie ihn dann erreicht hatte, war ihr Lächeln verschwunden. „Dejivoar hat mir soeben bestätigt, dass wir morgen nach Nordwesten abbiegen. Und im Laufe des nächsten Tages, spätestens einen Tag danach, werden wir das Gebiet des Imperiums betreten.“ Sie konnte ihre Anspannung nicht vor ihm verbergen.

Er lächelte sie an und hoffte, sie konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wie sehr ihm der Gedanke an Vassucit zuwider war. Aber Famal hatte Angst zu spät heimzukehren und wenn sie das Angebot der Secundi abschlug, würde ihre Reise mehrere Monate länger dauern. Das wollte er ihr nicht antun, dafür bedeutete sie ihm zu viel. „Ich habe bereits die ungebleichten Röcke aus meinem Pack geholt. Morgen früh werde ich die farbige Kleidung unter allem anderen verstecken. Ich bin bereit für die Reise zum See.“ So bereit, wie er jemals sein konnte.

„Also hast du dich entschieden, weiterhin mit der Secundi zu reisen? Fühlst du dich tatsächlich sicher genug?“, wollte sie von ihm wissen, als sie sich neben ihm niederließ.

Er nickte, blieb aber lieber stumm, da er sich nicht sicher war, ob seine Stimme ihn nicht doch verraten würde. Er belog sie nicht gerne und er hoffte, sie würde das verstehen, wenn sie später davon erfuhr. Aber in diesem Moment war er sehr froh darüber, im Dunkeln nicht gut sichtbar zu sein. Er öffnete seine Arme und lud sie damit ein, noch näher zu kommen. Dies würde wahrscheinlich für längere Zeit die letzte Nacht sein, in der sie so unbeobachtet bleiben konnten, wie es in einer derart großen Gruppe eben möglich war. Sobald sie erstmal den Boden des Imperiums betreten hatten, würden alle enger zusammenrücken. Viel zu eng für seinen und Famals Geschmack.

Sie ließ sich gegen ihn sinken und er umarmte sie. Selbst im Dunkeln entging ihm nicht, wie sie sich entspannte und das erfüllte ihn immer noch mit Erstaunen. Er war es nicht gewohnt, dass Menschen sich in seiner Nähe wohlfühlten. Die Vassu hatten sich immer über ihn geärgert und im Steinbruch hatten die anderen Gefangenen ihn gefürchtet. Aber Famal war anders. Natürlich hatte sie sich zu Beginn ihrer gemeinsamen Reise nicht ganz so entspannt gefühlt, wie jetzt, aber das war nur zu verständlich. Er hatte allerdings schon sehr früh erkannt, dass sie mit ihm das Lager teilen wollte und es war ihm nicht leichtgefallen, sie zurückzuweisen. Irgendwann hatte er seinen ganzen Mut zusammengenommen und ihr erklärt, warum er ihr nicht nachgeben konnte. Er hatte ihr erklärt, dass es ihm als Viri nicht erlaubt war, bei einer Frau zu liegen, bevor er geheiratet wurde. Er hatte das solange hinausgezögert, weil er ihre Reaktion fürchtete. Aber sie hatte ihn erneut überrascht, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits begriffen, dass er nicht aufhören konnte, sich wie ein Viri zu fühlen. Nachdem sie die Heiratszeremonie durchgeführt hatten, holten sie alles Versäumte nach. In dieser Hinsicht konnte er sich nicht beschweren und er glaubte, dass sie das auch nicht konnte.

„Was ist Ehemann? Willst du die ganze Nacht nur hier herumsitzen oder bist du auch zu etwas Nützlichem zu gebrauchen.“ Sie liebte es, ihn zu necken.

Er musste lachen. Er wusste, dass sie sein Lachen liebte und er tat gerne Dinge, die ihr gefielen. Famal hatte aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Natürlich konnte sie nicht ungeschehen machen, was er getan hatte. Damit würde er immer leben müssen. Aber sie hatte dafür gesorgt, dass er so etwas nicht mehr machen würde. Nicht solange sie sich an seiner Seite befand.

Er ließ sich zu Boden sinken und zog sie auf sich herunter. Sie sträubte sich nicht und kam ihm dabei so nahe, dass sie ihn küssen konnte. Sehr lang und sehr ausdauernd. Und sehr enthusiastisch. Sie hatten Monate Zeit gehabt zum Üben, denn sie waren beide blutige Anfänger gewesen. Aber er war davon überzeugt, dass sich das inzwischen geändert hatte.

Famal kicherte. Vielleicht hatte sie gerade an das gleiche gedacht, wie er. Das geschah immer öfter, je länger sie sich kannten. Aber er hatte jetzt Besseres zu tun, als darüber nachzudenken. Die Nähe ihres Körpers führte zu gewissen Reaktionen seines eigenen und davon wollte er sich nicht ablenken lassen. Schließlich gab es nichts Schlimmeres, als eine unbefriedigte Ehefrau. Das wollte er auf keinen Fall riskieren. Bei diesem Gedanken musste er kichern.

„Hast du bereits darüber nachgedacht, was du tun willst, wenn du deinen Vater erreicht hast?“, wollte er geraume Zeit später von ihr wissen, als er erschöpft, aber glücklich und noch nicht schläfrig neben ihr lag und zu den Sternen aufschaute.

„Noch sind wir nicht da“, antwortete sie etwas ausweichend, „das dauert doch noch.“

„So lange auch nicht, Liebling. Die Gruppe wird in ungefähr zwei Wochen den See erreichen und die Überquerung selbst wird nur wenige Stunden dauern. Wie lange brauchen wir dann noch bis zu eurem Haus?“ Mit seinen Worten wollte er sie daran erinnern, dass ihr nicht mehr so viel Zeit blieb, sich einen Plan zu überlegen.

Er spürte, wie sie sich neben ihm bewegte. Vielleicht versuchte sie ja seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Aber er hatte sich mit Absicht so hingelegt, dass sein Kopf und sein Oberkörper im Schatten des Wagens lagen, neben dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem er dieses Gespräch jetzt mitten in der Nacht führte und nicht am Tag. Er wollte nicht, dass sie ihm dabei ins Gesicht sehen konnte.

„Ich weiß doch nicht, was mich erwartet. Im schlimmsten Fall ist mein Vater in der Zwischenzeit gestorben und sein Verwandter ist nun das Oberhaupt unserer Familie. Dann werden wir nicht in der Lage sein, überhaupt noch etwas zu bewirken. Im günstigsten Fall lebt mein Vater noch und die Familie erkennt dich ohne Probleme als meinen rechtmäßigen Ehemann an. In dem Fall müssen wir nichts machen. Aber solange ich nicht weiß, was davon zutrifft, kann ich keine Pläne schmieden.“

Sie hatte ihm einiges über die Situation ihres Vaters erzählt. Seine Probleme fingen damit an, dass sie das einzige Kind des Duco Ynesam von Sicyl war und dazu noch eine Tochter. Famal hatte ihn darüber aufgeklärt, dass Töchter in Kisarvar nicht erben konnten. Zumindest nicht alleine. Mit einem Ehemann könnte sie ihrem Vater als Tochter-Erbin nachfolgen. Allerdings nur mit einem Ehemann, dessen Rechtmäßigkeit ihre Familie anerkannte. Aber er war sich absolut nicht sicher, ob er dafür taugte. Er war wohl kaum das, was eine sarvarische Familie sich unter einem Ehemann vorstellte. Und dieser spezielle sarvarische Vater wünschte sich wahrscheinlich ebenfalls einen anderen Mann für seine einzige, offenbar überaus geliebte, Tochter.

„Es schadet nicht, wenn du dir jetzt schon Gedanken machst. Was willst du tun, wenn du auf eine Situation zwischen den beiden von dir aufgezeigten Möglichkeiten stößt? Du könntest auch darüber nachdenken, welche Personen du ansprechen kannst. Es wäre auch nicht schlecht, wenn du im Vorhinein schon weißt, welche Verstecke dir zur Verfügung stehen. Ich verstehe ja, dass du lange weggewesen bist und sich viel, vielleicht sogar alles, geändert haben könnte, aber worüber du jetzt bereits nachdenkst, damit musst du dich später nicht mehr beschäftigen. Das gibt dir mehr Zeit für anderes, wenn du erst dein Zuhause erreicht hast.“ Beinahe hätte er gelacht. Ein Viri, der einer Frau Ratschläge für die Zukunft gab. Das war ja fast so, als wollte ein Blinder einem Sehenden Farben erklären.

Famal schmiegte sich noch enger an ihn. „Du hast sicherlich recht. Ich sollte mir Gedanken machen, Möglichkeiten ausloten und für Eventualitäten planen. Aber nicht mehr heute Nacht. Dazu bin ich jetzt nicht mehr in der Lage. Und dir ist doch klar, dass du daran nicht unschuldig bist, oder?“ Sie lachte leise.

Er stimmte in ihr Lachen ein. Er konnte es ihr nicht wirklich übelnehmen, dass sie jetzt nicht in der richtigen Stimmung für Pläne war. Er war es ja auch nicht. Er legte den Arm um sie und schloss seine Augen. Es wurde Zeit für ihn und sie, noch etwas Schlaf zu bekommen.

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Famal blickte misstrauisch zu den Frauen hinüber, die ihnen aus Richtung des Sees entgegenkamen. Da sich die Secundi und ihre Begleiter auf dem Gebiet des Imperiums befanden, mussten das wohl Vassu sein. Sie warf einen raschen Blick zurück über ihre Schulter, zu ihrem Ehemann, der neben einem der Wagen stehengeblieben war. Es sah fast so aus, als versuche er unauffällig zu bleiben, aber Cytys wusste selbst, dass ihm das nicht gelingen würde. Er ragte aus jeder Menschenansammlung heraus. Genau wie sie selbst.

Sie hatte ihn gefragt, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn er seinen Rock gegen eine Hose tauschen würde. Sie wusste genau, dass er nicht gerne Hosen trug, aber es wäre nicht das erste Mal. Allerdings hatte ihm damals kein anderes Kleidungsstück zur Verfügung gestanden. Trotzdem war sie der Meinung, dass er das auch jetzt wieder tun könnte. Aber er hatte ihr widersprochen.

„Selbst, wenn ich Hosen trage und mich nicht schminke, würde mein Zopf mich verraten. Und selbst wenn ich bereit wäre, mich davon zu trennen – was ich nicht bin – würde mich wahrscheinlich mein Verhalten den Vassu gegenüber verraten. Und das kann ich nicht abstellen. Deshalb ist es meiner Meinung nach sicherer, wenn ich direkt zugebe, ein Viri zu sein und wenn ich mich an die Regeln für Virei halte. Rock, Tunika, Zopf und Schminke. Und natürlich die Vinculae, die bestätigen, dass eine Custa die Verantwortung für mich übernommen hat.“ Dies war seine Antwort auf ihren Vorschlag gewesen.

Er hatte sich seine Argumente genau überlegt, bevor er ihr seine Meinung kundtat. Und wie immer, wenn er ihr nicht zustimmte, konnte sie seine Argumentation gut nachvollziehen. Danach bestand sie nicht mehr darauf, dass er eine Hose tragen sollte. Trotzdem konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass er ihr etwas verheimlichte. Sie war sich allerdings nicht so sicher, dass sie ihn deswegen gefragt hätte. Es wunderte sie nur, denn es war nicht seine Art, Geheimnisse vor ihr zu haben. Und wenn sie doch mit ihrer Vermutung recht haben sollte, dann ging sie davon aus, dass er gewichtige Gründe hatte. Wahrscheinlich wollte er sie vor irgendetwas schützen. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wovor.

Inzwischen hatten die fremden Kriegerinnen die Oixya erreicht. Einige von ihnen traten direkt auf die Secundi zu, die sich einige Schritte vor ihren Begleitern platziert hatte, aber der Rest der Vassu verteilte sich, nicht gerade unauffällig, um die Gruppe herum. Als wenn es jemand von ihnen riskieren würde, sich davonzumachen. Hier in der Nähe des Sees war das Land, wie an vielen Stellen im Velt, flach und fast baumlos, auch wenn nicht weit entfernt einige Obstbaumhaine standen. Diese konnten aber auf keinen Fall als Versteck dienen. Die Kriegerinnen wollten wohl einfach mit einer Gruppe Fremder kein Risiko eingehen. Und ihnen gleichzeitig zeigen, dass dies ihr Land war.

Famal winkte Cytys zu sich heran und wartete, bis er sich neben ihr befand. Sie raunte ihm zu, ruhig zu bleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren, dann trat sie selbst näher an Dejivoar heran. Sie war neugierig auf die Vassu, trotz ihrer Vorbehalte ihnen gegenüber. Sie wollte auch herausfinden, in welcher Stimmung die Fremden sich befanden. Vor allem war es ihr wichtig, zu erfahren, ob ihr Ehemann sich in Gefahr befand.

Die Frauen, die Cytys Bellae genannt hatte, waren unschwer als Kriegerinnen zu erkennen. Ganz ähnlich den sarvarischen Equitem, trugen sie enganliegende, lange Hosen, sowie Stiefel und Hemden ohne Ärmel. Ihr Oberkörper, ebenso wie Bauch und Arme, wurde zusätzlich durch gehärtetes Leder geschützt. Und selbstverständlich waren alle bewaffnet. Die drei Frauen, die der Secundi gegenüberstanden, waren mit Schwertern ausgestattet, der Rest mit Äxten, Lanzen oder Bögen, soweit Famal das erkennen konnte. Alle trugen außerdem noch einen langen Dolch am Gürtel. Sie zeigten auch alle diesen selbstgefällig-selbstbewussten Gesichtsausdruck gut ausgebildeter Kämpfer. Den kannte sie von den Männern ihres Vaters nur zu gut.

Dejivoar zeigte gerade der Anführerin der Kriegerinnen ein mit mehreren Siegeln versehenes Pergament. Famal wusste nicht, was darauf stand, aber sie konnte sich gut vorstellen, dass es etwas über die Stellung der Secundi aussagte. Sie hoffte, es würde ausreichen, die Tochter des oixya Herrschers vor den Vassu zu schützen. Sie hatte im Oixyyaa öfter gehört, es hätte nie einen Krieg zwischen dem Imperium und dem Bund gegeben. Einige Menschen hatten ihr ebenfalls mitgeteilt, es würde auch niemals einen geben. Das konnte sie aber nicht vorbehaltlos glauben, weil ihr niemand einen Grund für diese Annahme hatte nennen können. Und sie erinnerte sich, dass Dejivoar ihr gegenüber erwähnt hatte, die beiden Nationen würden ihre jungen Krieger ins Velt schicken, um sie dort Erfahrungen im Kampf sammeln zu lassen. Dabei wäre es auch schon mal zu Toten gekommen. Die Secundi war allerdings keine junge Kriegerin mehr und nicht auf diese Reise gegangen, um Erfahrungen zu sammeln. Aus diesem Grund ging Famal davon aus, der Soloti habe ihr eine Legitimation mitgegeben. Sie hoffte, diese würde die ganze Gruppe schützen. Sie hoffte auch, die Bellae würden ihnen keine Schwierigkeiten bereiten.

Eine der Bellae studierte das Dokument genau und gab es danach an Dejivoar zurück. „Es ist mir eine Ehre, Secundi, dass du unser Schiff nutzen möchtest, um den See zu überqueren. Ich bin Johjai und für die Sicherheit der Anlegestelle zuständig. Wirst du mit der ganzen Gruppe weiterreisen?“, wollte die Vassu wissen. Es stimmte Famal nicht sehr glücklich, dass der Blick der Fremden auf ihr und Cytys hängenblieb. „Sind alle in deiner Gruppe Oixya?“ Die Frage kam der Sarvarerin dumm vor, denn jeder, der nicht blind war, konnte erkennen, dass Cytys ein Viri war. Sie wusste aber, dass das Imperium die Auswanderung von Virei nicht anerkannte. Wollte die Kriegerin Dejivoar eine Falle stellen?

Diese hatte aber schon ihr Leben lang mit Vassu zu tun gehabt und ließ sich nicht so leicht überrumpeln. Sie schüttelte den Kopf.

„Der Großteil meiner Begleiter stammt, genau wie ich, aus dem Oixyyaa, allerdings trifft das nicht auf alle zu.“ Sie zog ein weiteres Dokument aus ihrer Tasche. „Mein Apprenti wurde vor Jahren von der Hereda selbst meiner Obhut übergeben und ich habe die Erlaubnis, ihn zu einem Milli auszubilden.“ Während sie der Bella auch dieses Dokument überreichte, holte sie Rovan an ihre Seite. Der Junge hatte, nach Famals Meinung, keine Ähnlichkeit mehr mit einem Viri und sie wunderte sich, wieso Dejivoar die Aufmerksamkeit der Vassu auf ihn lenkte. Dies sorgte auch dafür, dass er ziemlich nervös neben seiner Ausbilderin stand. Wahrscheinlich fühlte er sich gerade in seiner Haut nicht sehr wohl. Die Oixya würden wenig dagegen unternehmen können, sollten die Vassu der Meinung sein, ihn ins Imperium zurückholen zu müssen.

Auch dieses Schriftstück studierte die Vassu sehr genau. Sie musterte Rovan eindringlich und gab das Dokument dann zurück. „Ich hatte schon von dieser Großzügigkeit der Hereda gehört, Secundi, und ich bin in dieser Hinsicht auch persönlich der Meinung, dass dein Apprenti kein Viri mehr ist. Wahrscheinlich stehe ich mit meiner Meinung im Imperium aber alleine da.“ Sie brachte sogar so etwas wie ein entschuldigendes Lächeln zustande.

Dejivoar steckte auch dieses Stück Pergament wieder ein. Dann blickte sie sich zu Famal um. „Succedi Famal ist die Tochter des Duco von Sicyl und damit eine Sarvar. Sie reist mit mir, um nach Hause zurückzukehren.“

Der Blick der Bella ging ebenfalls zu Famal hinüber. „Ich bitte um Verzeihung, aber du siehst nicht wie eine Sarvarerin aus, Succedi Famal. Soweit mir bekannt ist, tragen die Frauen in Kisarvar keine Waffen.“

Famal, die ähnlich gekleidet war, wie die Kriegerin, allerdings ohne Körperschutz, grinste die Fremde selbstbewusst an. „Aus diesem Grund habe ich meine Reise zum Oixyyaa unternommen. Ich wusste, ich könnte dort Ausbilderinnen finden, die sich nicht daran stören, dass ich eine Frau bin. Nachdem ich nun gelernt habe, was ich lernen wollte, kehre ich zu meiner Familie zurück.“

Die Bella legte ihren Kopf leicht schräg und betrachtete Famal nachdenklich. „Wieso hast du dir die Mühe gemacht, so weit in den Süden zu reisen, um zu lernen?“, wollte sie wissen.

„Das hat sich einfach so ergeben, Bella. Ich habe den See im Osten umrundet und bin dann einfach weiter nach Süden gereist. Die ersten Personen, auf die ich traf, waren dann Oixya und keine Vassu.“ Sie war der anderen doch keine Rechenschaft schuldig.

Sie bemerkte allerdings sofort, dass dies Johjai nicht wirklich interessierte. Dejivoar setzte zu einer weiteren Erklärung an, aber sie kam nicht weit. „Hier haben wir noch …“. Die Bella schritt einfach an ihr vorbei und blieb direkt vor Cytys stehen.

„Ich sehe, was ihr sonst noch habt. Einen Viri. Mit Vinculae.“ Niemand hätte ihren Tonfall jetzt noch freundlich nennen können. „Steht er unter deiner Aufsicht, Secundi?“ Sie hatte ihren Blick nicht von Cytys genommen, der aber völlig ruhig, mit gesenktem Blick, vor ihr stand. Da sie um mehr als einen Kopf kleiner als er war, konnte er ihr trotzdem ins Gesicht sehen, als sie nach oben blickte, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

Bevor die Oixya auf die Frage antworten konnte, war Famal bereits einen Schritt vorgetreten und blieb so nah neben der Vassu stehen, dass diese sich unwillkürlich etwas zur Seite bewegte. Mit genau der gleichen Freundlichkeit, mit der die Bella ihre Bemerkung gemacht hatte, antwortete sie darauf. „Dies ist mein Cuviri, Bella. Er steht unter meiner Aufsicht.“ Sie machte eine kurze Pause, blickte die andere Frau von oben herab an. „Gibt es ein Problem?“

Johjai wusste einen Augenblick lang nicht, was sie sagen sollte. Aber sie erholte sich schnell von ihrer Überraschung. „Dein Cuviri? Ich bin mir nicht sicher, ob ich tatsächlich glauben soll, dass du eine Sarvar bist? Du trägst Waffen und hast einem Viri die Vinculae angelegt. Ich finde das mehr als seltsam.“

Sie wartete aber nicht ab, ob Famal etwas dazu sagen wollte, sondern wandte sich erneut Cytys zu. „Komm her, Viri!“, befahl sie ihm.

Cytys rührte sich allerdings nicht, sondern blickte stattdessen zu seiner Ehefrau. „Du bleibst dort stehen!“ Famals Befehlston konnte es mit dem der Bella durchaus aufnehmen.

„Ja, Custa“, antwortete er ihr mit leiser Stimme und rührte sich nicht.

Johjai gefiel das überhaupt nicht. Sie richtete ihren Blick wieder auf Cytys, wohl in der Absicht etwas zu finden, an dem sie ansetzen konnte. Dann blieb ihr suchender Blick an seinem Rock hängen, der ihm bis zu den Knöcheln reichte.

„Wer hat ihm erlaubt, einen Rock dieser Länge zu tragen? Wollt ihr mir etwa weißmachen, dies hätte seine Richtigkeit?“ Sie musterte nicht nur seinen Rocksaum, sondern auch seine nackten Füße und Knöchel und Famal merkte sofort, dass Cytys sich deswegen äußerst unbehaglich fühlte. Das machte sie wütender, als die versteckte Beleidigung, die die Bella ihr gegenüber geäußert hatte. Die Frau musste genau wissen, dass es einem Viri nicht gefiel, wenn sie ihm derart auf die Beine starrte. Dass sie es dennoch tat, zeigte ihre Verachtung für ihn.

„Willst du mich eine Lügnerin nennen?“, fuhr Famal sie wütend an. „Mein Vater ist das Oberhaupt einer der wichtigsten Familien in Kisarvar. Er ist auf jeden Fall berechtigt, einen Rock in dieser Länge zu tragen.“ Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so wütend gewesen war. Aus den Augenwinkeln sah sie das besorgte Gesicht der Secundi, aber das interessierte sie jetzt nicht. Sie würde auf keinen Fall vor der Bella zurückstecken.

Zu ihrer großen Überraschung grinste die Vassu sie plötzlich an. „Ich bitte um Entschuldigung.“ Ihre Stimme klang auf einmal überhaupt nicht mehr unfreundlich. Stattdessen wirkte Johjai auf einmal sehr zuvorkommend.

„Was sollte das gerade?“ Famal hatte nicht vor, sich nur deswegen wieder zu beruhigen, weil die Bella auf einmal so freundlich tat.

Die Vassu ließ sich aber nicht mehr aus der Ruhe bringen. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wütende Menschen viel mehr von ihren Absichten verraten, als sie eigentlich wollen. Auf diese Weise bin ich schon öfter an Informationen gelangt. Aus diesem Grund habe ich das auch in deinem Fall versucht. Und du kannst nicht leugnen, wütend geworden zu sein. Natürlich könntest du mir etwas vorgemacht haben, aber davon gehe ich nicht aus. Meiner Meinung nach, hast du die Wahrheit gesagt. Du siehst also, es war ganz einfach.“ Sie grinste immer noch.

Die Worte der Vassu machten Famal im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Wenige Menschen hatten es jemals geschafft, sie wütend zu machen, denn sie war gut darin, ruhig zu bleiben. Aber noch nie hatte ihr gegenüber jemand zugegeben, dass alles nur gespielt war. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sollte sie die Worte der Frau einfach so vergessen? Vielleicht wäre dies das Vernünftigste, aber ihr war klar, dass sie die Art, wie sie Cytys behandelt hatte, auf keinen Fall vergessen konnte und auch nicht wollte. Dann fiel ihr jedoch ein, dass es weder ihm, noch sonst jemandem nutzte, wenn sie jetzt einen Privatkrieg mit der Kriegerin begann. Und sie durfte ihr auch nicht den Eindruck vermitteln, sie würde Cytys anders behandeln, als die Vassu einen Viri behandeln würde.

Diese Erkenntnis half ihr dabei, sich so weit zu beruhigen, dass sie in der Lage war, eine Antwort zu formulieren. „Dies ist eine interessante Vorgehensweise. Man beleidigt den Gegner solange persönlich, bis sie sich nicht mehr beherrschen kann. Und dabei hofft man darauf, dass sie nicht zur Waffe greift. Das muss ich mir merken.“ Vielleicht waren ihre Worte nicht sehr klug gewählt worden, aber sie hatte sie sich nicht verkneifen können. Sie hätte gerne gewusst, was Cytys von ihrem Verhalten hielt, aber natürlich konnte sie ihn jetzt nicht danach fragen. Zum Glück hatte er sich besser unter Kontrolle gehabt. Die ganze Zeit über hatte er nicht mit der Wimper gezuckt, obwohl die Nähe der Vassu ihm sehr unangenehm sein musste, nach dem zu urteilen, was er ihr erzählt hatte. Aber sie musste nicht mit ihm sprechen, um zu wissen, dass sie keine sehr gute Figur bei dem Versuch abgegeben hatte, ihn zu schützen.

Johjai lachte erneut, allerdings sehr leise. „Die Sache mit dem zur Waffe greifen, hätte tatsächlich ins Auge gehen können. Aber ich bin davon ausgegangen, dass meine Kriegerinnen auf jede Person ausreichend abschreckend wirken würden, die auf die Idee kommen könnte, mit mehr als nur Worten zu kämpfen. Du hast aber völlig recht damit, dass es keinen klugen Eindruck macht. Ich habe aber auch diesmal wohl Glück gehabt. Bitte glaube mir, dass es absolut nichts Persönliches war. Weder dir gegenüber noch deinem Cuviri.“

Sie drehte sich zu ihren Kriegerinnen um. „Ich gewähre dieser Gruppe Zugang zur Anlegestelle und zum Schiff.“

Dann wandte sie sich doch noch einmal an Famal. „Dein Cuviri muss für die Überfahrt bei den anderen Virei unter Deck bleiben. Dies stellt doch kein Problem dar, oder?“

Famal schüttelte nur den Kopf. Sie war viel zu verblüfft, über das widersprüchliche Verhalten der Bella, um auf andere Weise antworten zu können.

***************************************

Cytys hatte die nächtliche Überfahrt zwar als interessant empfunden, in erster Linie allerdings als erschreckend. Am vorherigen Abend hatte er seine Anspannung kaum unter Kontrolle bekommen, als er die Leiter zum Unterdeck hinabsteigen musste, denn er hatte keine Vorstellung davon gehabt, was ihn erwarten würde. Dies lag vor allem daran, dass er an den Domuvirei seiner Familie keine guten Erinnerungen hatte. Schließlich hatten ihn die anderen Virei am Ende völlig aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Virei hier auf dem Schiff kannte er nicht, aber sie kannten ihn ebenso wenig. Somit hatte keiner gewusst, was er von dem jeweils anderen halten sollte.

Seiner Erfahrung nach, gingen die Vassu immer davon aus, dass Virei sich untereinander vertrugen. Naja, die meisten Vassu zumindest. Die Wachen im Steinbruch bildeten in der Hinsicht eventuell eine Ausnahme. Aber in der Regel sahen Vassu kein Problem darin, fremde Virei zusammenzusperren. Was sollte da schon schief gehen? Und in der Regel hatten sie damit auch recht. Die Männer versuchten tatsächlich, sich gegenseitig zu unterstützen und sich dadurch das Leben leichter zu machen. Cytys hatte eben nur überwiegend schlechte Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht und war dementsprechend misstrauisch.

Die anderen Männer hatten ihn eingehend gemustert, aber sie hatten ihn akzeptiert. Sie mussten ihn ja auch nur für diese eine Nacht ertragen, außerdem waren sie auch daran gewöhnt, immer mal wieder fremde Virei aufzunehmen. Auch wenn nicht sehr viele Vassu den See überquerten und diese selten einen Viri dabeihatten, kam es doch schon mal vor. Außerdem handelte es sich bei ihnen um eine Arbeitsgruppe und nicht um den Domuvirei einer Familie, daher war es nicht ungewöhnlich, dass sich deren Zusammensetzung öfter mal änderte. Nach einiger Zeit hatte er dann auch verstanden, dass sie ihm deshalb zu Beginn mit Vorsicht entgegengetreten waren, weil seine Größe sie erschreckt hatte. Zuerst hatte er nämlich befürchtet, einer der Virei hier auf dem Schiff wäre zur gleichen Zeit wie er im Steinbruch gewesen und habe ihn erkannt. Das hatte ihm Angst gemacht. Schlimmer wäre nur noch, wenn eine der Vassu ihn wiedererkannt hätte. Diese Überlegungen hatten ausgereicht, ihm Magenschmerzen zu bereiten.

Aber all seine Ängste stellten sich als gegenstandslos heraus und darüber war er sehr erleichtert. Sobald die anderen Virei sich sicher waren, dass er sich für diese eine Nacht problemlos in ihre Gruppe einfügen würde, hatten sie begonnen, ihn mit Fragen zu überschütten. Ihnen war nicht entgangen, wer für ihn verantwortlich war und sie wollten wissen, wie das gekommen sei und wie sich eine sarvarische Uxora von einer imperialen unterschied. Er war sich nicht sicher, ob er all ihre Fragen hatte beantworten können, aber er hatte sich bemüht und im Gegenzug, hatten die anderen ihm etwas über die Vassu erzählt, die auf diesem Schiff stationiert waren. Die gewonnenen Erkenntnisse hatten beide Seiten überrascht. Leider war allen bewusst, dass die Nacht kurz sein würde, daher konnten sie sich nicht allzu lange unterhalten.

Am frühen Morgen stand er dann gemeinsam mit Famal, Dejivoar und den restlichen Oixya am nördlichen Ufer und musste dort erneut eine Prüfung über sich ergehen lassen, diesmal von Seiten der Sarvar. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Vassu sich bereits verabschiedet. Sie waren entweder auf ihr Schiff oder in das Lager auf dieser Seite des Sees zurückgekehrt. Kisarvar hatte ihnen erlaubt, für ihre Schiffsbesatzungen auf sarvarischem Gebiet einen Stützpunkt zu errichten. Im Gegenzug durften die Sarvar die Schiffe der Vassu ebenfalls nutzen, sollten sie sich jemals dazu entschließen können, von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Aber so gut wie niemand wollte vom Norden in den Süden reisen, es sei denn sie befand sich auf dem Heimweg.

Famal hatte kein Problem darin gesehen, den Vassu gegenüber zuzugeben, dass sie aus Kisarvar stammte. Sie hatte allerdings nicht geplant, das gleiche auch den Equitem mitzuteilen, die sie auf dieser Seite des Sees in Empfang genommen hatten. Sie hoffte, diese würden davon ausgehen, sie wäre ebenfalls eine Oixya. Für die Sarvarer, die bisher so gut wie niemanden aus dem Bund kennengelernt hatten, war der Unterschied zwischen ihr und den Millir nicht erkennbar. Darauf setzte sie.

„Secundi Dejivoar, es ist mir eine Ehre, dich in Kisarvar begrüßen zu dürfen.“ Der Kommandant der Equitem wusste, wie er sich wichtigen Personen gegenüber zu verhalten hatte, selbst wenn diese aus dem Süden stammten. „Wirst du mit deinen Leuten an den Hof des Rego weiterreisen?“ Er machte eine kurze Pause. „Verzeih, wenn ich dir allzu neugierig erscheine, aber unser Herrscher hat uns den Auftrag erteilt, alle Fremden zu befragen, die den See überqueren.“ Offenbar fühlte er sich unter dem Blick der Secundi unwohl. Vielleicht lag das daran, dass er es nicht gewohnt war, eine Frau als ihm übergeordnet anzusehen.

Die Oixya hatte aber offensichtlich nicht vor, ihn so leicht davonkommen zu lassen. Sie behielt ihn unerbittlich im Blick, allerdings war ihr Tonfall nicht unfreundlich. „Wie könnte ich etwas dagegen haben, wenn der Rego sein Land sicher wissen will, Equito. Mein Vater würde es von uns Millir auch nicht anders erwarten.“ Der Sarvarer zuckte zusammen, als ihm klar wurde, dass sie sich genauso als Soldat betrachtete, wie er sich selbst sah. Dies widersprach seiner Erziehung völlig.

„Das macht ihr Spaß“, flüsterte Cytys seiner Frau zu. „Sie genießt das.“

„Und ich genieße es, sie dabei zu beobachten“, gab Famal genauso leise zurück. Cytys konnte gerade noch vermeiden, laut zu lachen.

„Ich würde gerne so bald wie möglich aufbrechen“, fuhr Dejivoar fort und der Sarvarer wirkte nicht besonders glücklich. Aber er war nicht in einer Position, etwas gegen ihren Wunsch einzuwenden. Außerdem war er sich wohl bewusst, dass sie es auch als Befehl hätte formulieren können und er diesem hätte gehorchen müssen. Aber sie hatte ihm die Möglichkeit gegeben, vor seinen Männern das Gesicht zu wahren.

„Sehr geschickt“, flüsterte der Viri Famal erneut zu. Sie schnaubte leise. Sie wusste genau, wie sarvarische Männer über Frauen dachten. Vor allem über Frauen, die sich nicht an die Regeln der sarvarischen Gesellschaft hielten. Die Secundi musste sich nicht an diese Regeln halten und Famal hatte vor, es ihr in Zukunft gleichzutun.

Der Equito schluckte und warf noch einen Blick auf den Rest von Dejivoars Begleitern. Sein Blick glitt über Famal hinweg, ohne zu stocken, aber er blieb an Cytys hängen. Einen Moment lang musterte er den riesigen Viri, aber dann hatte er wohl entschieden, es wäre nicht an ihm, etwas zur Auswahl der Secundi zu sagen. Zumindest nicht im Hinblick auf ihre Begleiter.

„Ich wünsche dir eine gute Weiterreise.“ Jeder konnte ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel, sein Gegenüber wie einen der Söhne des Rego zu behandeln, aber ihm war nichts anderes übriggeblieben. Er wusste genau, dass er eine derart wichtige Persönlichkeit nicht durch ungebührliches Verhalten beleidigen durfte.

„Ich danke dir“, antwortete die Secundi höflich, bevor sie sich umdrehte und der Gruppe signalisierte, dass es weiterging. Sie schloss dabei selbstverständlich auch Famal und Cytys mit ein, obwohl sie wusste, dass die beiden nicht vorhatten, mit nach Dysarvar zu kommen. Aber das ging sonst niemanden etwas an. Sobald sich eine geeignete Gelegenheit auftat, würden sie ihrer eigenen Wege gehen. Und sie würden ihr Möglichstes tun, damit die Sarvarer nichts davon mitbekamen. So hatten sie es mit Dejivoar im Vorfeld abgesprochen.

Cytys fühlte die Augen der sarvarischen Equitem auf sich ruhen, als er gemeinsam mit den anderen an ihnen vorüberging. Er wunderte sich allerdings nicht darüber, war er doch der Größte der Gruppe und damit, aller Wahrscheinlichkeit nach, größer als die Einheimischen es gewohnt waren. Außerdem dürften auch nicht sehr viele Virei Kisarvar besuchen. Dejivoar hatte ihnen von ihrem ersten Besuch hier erzählt, als sie zusammen mit der Hereda und den Servirei an den Hof in Dysarvar gekommen war. Cytys konnte sich nicht im Mindesten vorstellen, wie Aississus Cuviri sich gefühlt haben musste, als Viri nach Hause zurückzukehren. Und das auch nur für einen Besuch.

„Die Straße nach Dysarvar durchquert einen Wald. Dort werden wir die anderen verlassen.“ Famals Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.

„Wie sollen wir uns in einem Wald verbergen?“, wollte er von ihr wissen.

Famal lachte leise. „Du kennst nur die südlichen Wälder.“ Mehr wollte sie offensichtlich nicht dazu sagen. „Lass uns zu Dejivoar aufschließen.“

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„Wie lange werden wir uns in diesem Wald noch aufhalten müssen?“, wollte Cytys von Famal wissen, während er sich durch das Unterholz kämpfte, das am Grund der tiefen und langgestreckten Senke wucherte, die quer zu ihrem Weg verlief.

„Wie? Gefällt es dir hier etwa nicht?“, zog seine Ehefrau ihn auf. Er konnte ihr nicht sofort antworten, denn er war erneut mit seinem Rock im Gestrüpp hängengeblieben und brauchte seine Kraft, um das widerspenstige Gehölz zu verfluchen. Und seine Geduld, um den Rock wieder freizubekommen, ohne ihn zu zerreißen.

Famal war stehengeblieben. „Vielleicht solltest du dir doch überlegen, zumindest hier im Wald, den Rock gegen eine Hose zu tauschen?“

Er funkelte sie an. Noch bevor sie sich von den anderen getrennt hatten, war zwischen ihnen eine hitzige Diskussion entbrannt – Dejivoar hatte es allerdings als Streit bezeichnet – ob er seine Kleidung wechseln sollte oder nicht. Famal hätte dies gerne gesehen, sie war der Meinung, er solle auf seinen Rock verzichten. Aber nachdem er sie gefragt hatte, ob sie den Rock anstelle ihrer Hose tragen wolle, begriff sie, dass ihn ihr Vorschlag sehr unglücklich gemacht hatte. Und da sie nicht vorhatte, einen Rock zu tragen, wollte sie ihm die Hose nicht aufzwingen. Aber sie hatte ihn trotzdem fragen müssen, ob er sich nicht wenigstens für die Durchquerung des Waldes umziehen wollte, aber das hatte er ebenfalls abgelehnt, denn er hielt es nicht für notwendig. Aber inzwischen hatte er zugeben müssen, dass sie recht gehabt hatte. Er hatte auch zugegeben, dass er sich nicht hatte vorstellen können, wie unwirtlich und undurchdringlich der sarvarische Wald tatsächlich war.

„Hast du vielleicht eine Stelle gesehen, an der das möglich wäre?“, wollte er von ihr wissen. Er schien immer noch wütend auf diesen Wald zu sein. „Ich werde mich auf keinen Fall mitten in einem dieser Dornbüsche umziehen!“

Sie fand diese Vorstellung ziemlich komisch, trotzdem versuchte sie, allerdings mit wenig Erfolg, ein Lachen zu unterdrücken. Er hingegen wirkte nicht so, als wenn er dies witzig fand.

„Ich werde Ausschau halten“, versprach sie ihm, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. „Und um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen, muss ich dir leider mitteilen, dass wir wohl noch mehrere Tage in diesem Wald verbringen werden. Hier können wir zumindest ziemlich sicher sein, vor den Augen neugieriger Beobachter verborgen zu bleiben. Leider können wir nicht die ganze Strecke bis Sicyl im Wald zurücklegen.“

Cytys runzelte die Stirn. „Ich kann ja durchaus nachvollziehen, wieso du deine Ankunft in Kisarvar nicht allen kundtun willst, aber ich bin froh, dass wir uns nicht die ganze Zeit in einem dieser verdammt dunklen und mit Dornbüschen vollgestopften Wälder aufhalten können.“ Die nächsten Worte äußerte er nur unwillig. „Sobald ich den Platz dafür habe, werde ich deinem Vorschlag folgen und mich umziehen. Und du hattest recht, in den Wäldern hier ist ein Rock äußerst unpraktisch.“ Sobald er den zufriedenen Ausdruck auf ihrem Gesicht erkannte, konnte er offensichtlich nicht anders und musste noch etwas hinzufügen. „Aber das gilt nur für diese Reise. Ansonsten werde ich nicht auf meinen Rock verzichten, egal was du mir erzählst, wie deine Familie darauf reagieren wird.“

Sie wusste, dass er ihr immer sofort ansehen konnte, wenn ihre Gedanken zu ihrem Vater und seiner Situation gingen. Inzwischen hatte sie auch erkannt, woran dies lag. Er hatte ihr anvertraut, dass dann sowohl Unzufriedenheit, als auch Angst auf ihrem Gesicht erschienen. Daher war sie sich sicher, dass er auch verstanden hatte, ihre Sorgen galten nicht den Problemen, die seine Kleidung vielleicht hervorrufen würde, sondern der Tatsache, dass sie nicht wusste, ob ihr Vater überhaupt noch am Leben war. Sie hoffte natürlich, dass er nicht gestorben war, aber seine Position als Duco ohne einen Erben konnte nicht sehr angenehm sein. Nicht mit einem Verwandten, der aktiv daran arbeitete, selbst Duco zu werden und vielleicht nicht bereit war, sich noch sonderlich lange zu gedulden.

Sie hatte sich schon wieder umgedreht, um nach vorne zu blicken, als sie hörte, wie Cytys seufzte. Wahrscheinlich, weil er nicht vorgehabt hatte, sie an die prekäre Situation ihres Vaters zu erinnern. Seine nächsten Worte zeigten ihr, dass sie sich nicht geirrt hatte. „Es tut mir leid, wenn ich uns aufhalte. Ich hätte vorher darüber nachdenken sollen.“ Dies war gewiss die reine Wahrheit.

Famal blieb stehen und drehte sich wieder zu ihm um, aber als sie ihm ins Gesicht blickte, kehrte sie die wenigen Schritte zu ihm zurück und blieb direkt vor ihm stehen. „Wir haben noch nicht sehr viel Zeit verloren, Liebling.“ Sie streckte sich und gab ihm einen Kuss, einen sehr langen Kuss, und er legte seine Arme um sie. Als sie dann wieder etwas von ihm abgerückt war, sah sie ihn lange an. „Ich liebe dich und du wirst nie eine Last für mich sein.“ Schließlich wand sie sich ganz aus seinen Armen heraus. „Und nun fände ich es gut, wenn du dich ein bisschen beeilen würdest. Da vorne ist nämlich genug Platz, damit du dich umziehen kannst.“ Sie grinste ihn an.

Er versuchte an ihr vorbeizusehen, um einen Blick auf die einige Meter entfernte kleine Lichtung zu werfen. Erneut runzelte er die Stirn. „Wieso gibt es dort weder Unterholz, noch Bäume?“ Wie sollte sie ihm die Natur sarvarischer Wälder erklären?

Aber offensichtlich hatte er nicht tatsächlich eine Antwort von ihr erwartet, denn er sprach schon weiter. „Wenn du dich dann dorthin begeben könntest, würde ich dir folgen. Du weißt, dass ich mit dem Pferd nicht an dir vorbeikomme.“

Sie schenkte ihm ein weiteres Lächeln, bevor sie sich weiterbewegte. Da die Lichtung winzig war, blieb sie ganz am Rand stehen, damit er genug Platz hatte. Schnell suchte er aus den Packtaschen seine Hose heraus, die er, wahrscheinlich unbewusst, ganz nach unten gestopft hatte. Aber er wusste natürlich, dass sie irgendwo in der Tasche sein musste. Bei ihr handelte es sich allerdings nicht mehr um die Hose, die sie ihm geliehen hatte, sondern um eine neue, die er sich selbst genäht hatte. Sie war sich nicht sicher, ob er jemals vorgehabt hatte, sie tatsächlich zu tragen. Aber vielleicht hatte er durchaus darüber nachgedacht, dass er auch einmal in eine Situation geraten könnte, in denen er eine benötigen würde. So schnell wie möglich holte er sie aus der Tasche heraus, zog sie an und den Rock aus, den er dann sorgfältig zusammenlegte. Dabei hörte sie ihn murmeln: „Später ist noch Zeit, ihn zu reparieren.“ Ganz vorsichtig verstaute er ihn in der Tasche. „Wir können weiter“, teilte er seiner Frau dann überflüssigerweise mit, als wenn sie ihn nicht die ganze Zeit über im Auge behalten hätte.


Wird fortgesetzt in „Die Geschichte von Cytys und Famal (Kinder des Velt) – Teil 4
 
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