anbas
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Die Kaffeefahrt
An einem Samstag im Frühling des Jahres 2015 gegen acht Uhr morgens stieg Jürgen Petersen an der Haltestelle Volksdorf in die U 1, um in die Hamburger Innenstadt zu fahren. Eigentlich war er ja kein Frühaufsteher, doch sein alter Studienfreund Sebastian Schreiber war in der Stadt und hatte nur an jenem Morgen Zeit für ein Treffen gehabt. Also hatten sie sich zu einem Frühstück in einem Café nahe dem Hauptbahnhof verabredet. Sebastian war auf einer internationalen Fachtagung gewesen und wollte nach dem Frühstück mit der Bahn zurück nach Heidelberg fahren.
Jürgen Petersen hatte sich für seine ungefähr dreißigminütige Fahrt mit der U-Bahn eine Tageszeitung gekauft. Doch er war zu müde, um sie wirklich genauer zu lesen. Stattdessen blätterte er sich durch die Seiten und überflog nur die Überschriften. Es waren die üblichen Katastrophen- und Negativmeldungen, an die er sich eigentlich nie gewöhnen wollte und die er nun doch eher ungerührt zur Kenntnis nahm. Nach einiger Zeit rollte er die Zeitung zusammen und steckte sie in seine Manteltasche. Vielleicht würde er sie auf der Rückfahrt lesen.
Da die U-Bahn zunächst oberirdisch fuhr, genoss er den Blick nach draußen und hing seinen Gedanken nach. Die noch tief stehende Sonne blendete ihn ein wenig, so dass er kurz darüber nachdachte, den Platz zu wechseln. Doch andererseits genoss er die Wärme in seinem Gesicht, so dass er letztendlich sitzen blieb.
Jürgen Petersen freute sich auf das Treffen mit Sebastian. Während ihres Physik-Studiums waren sie eng befreundet gewesen. Doch nach dem Abschluss hatten sie sich immer mehr aus den Augen verloren. Während er selber in Hamburg geblieben war, hatte Sebastian einen guten Job in Süddeutschland gefunden. Schon seit Jahren gab es nur noch sporadische Telefonate oder E-Mail-Grüße.
Kurz nach der Station "Wandsbek Gartenstadt" verlief die Strecke unterirdisch weiter. Sie waren gerade in den Tunnel gefahren, als die Bahn plötzlich anhielt. Gleich darauf teilte die Leitstelle der Hamburger Hochbahn mit, dass sich die Weiterfahrt aufgrund eines Weichenschadens ein wenig verzögern würde.
Jürgen Petersens Gedanken begannen zu arbeiten, soweit ihnen das um diese Uhrzeit möglich war. "Weichenschaden" hörte sich nicht unbedingt nach einer kurzfristigen Störung an. Die U-Bahn befand sich auf freier Strecke in einem Tunnel. Wie sollte sich die Weiterfahrt da nur "kurzfristig" verzögern? Fast reflexartig griff er in die Manteltasche und holte sein Smartphone heraus. Er musste Sebastian informieren, dass er sich verspäten würde. Also schickte er ihm eine kurze Nachricht und behielt das Gerät in der Hand, um die Antwort abzuwarten.
"Kein Problem! Bin auch noch nicht da. Trinke sonst schon mal 'nen Kaffee", antwortete Sebastian dann auch prompt.
Petersen steckte das Smartphone wieder ein. Er grinste ein wenig. Sebastian schien immer noch der große Kaffeetrinker zu sein. Schon während des Studiums hatte er ihn kannenweise in sich hineingeschüttet, und bei Unternehmungen schleppte er mindestens zwei bis drei Thermoskannen mit sich mit. Es musste aber immer richtiger gemahlener Bohnenkaffe sein. Irgendein Instantzeug kam für ihn nicht infrage. Im Gegenteil – bei einer Freizeit hatte man nur Instant-Kaffee dabei gehabt. Sebastian war fast durchgedreht und hatte sich sofort auf den Weg gemacht, um richtigen Kaffee zu besorgen. Trotzdem packte er sich für diese Fahrt mehrere Thermosflaschen heißes Wasser und ein Glas Instant-Kaffee ein. Diese Aktion hing ihm dann während des restlichen Studiums nach, so dass er immer wieder Lästereien und spöttische Bemerkungen über sich ergehen lassen musste.
Jürgen Petersen ließ nun seinen Blick durch den Wagen streifen. Aus den Augenwinkeln hatte er mitbekommen, dass an der letzten Station viele Leute ausgestiegen waren. Jetzt stellte er fest, dass sich außer ihm nur noch ein älteres Ehepaar im Abteil befand. Es saß wenige Plätze von ihm entfernt am Kopfende des Wagens.
Der Zugführer teilte erneut mit, dass sich die Weiterfahrt noch etwas länger verzögern würde.
Jürgen Petersen war ein stoischer Pragmatiker, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. Er hatte nach dem ersten kurzen Überraschungsmoment seine Lage analysiert, festgestellt, dass er nichts ändern konnte, hatte Sebastian informiert, und musste jetzt einfach nur abwarten, wie und wann es weiterging.
Auch das ältere Ehepaar schien die Angelegenheit eher gelassen anzugehen. Sie saßen schweigend nebeneinander und starten vor sich her. Nur ab und zu schauten sie sich kurz an, wechselten aber kein Wort miteinander.
Verstohlen beobachtet Jürgen Petersen die beiden. Sie mussten Ende sechzig, Anfang siebzig sein. Beide waren schlank und von mittlerer Größe. Er hatte kurzes, ordentlich gescheiteltes weißes Haar und trug einen grauen Anzug, ein hellblaues Hemd mit einer blass gelben Krawatte. Die graublonden Haare der Frau waren nach hinten gekämmten und zu einem Dutt zusammengesteckt. Unter ihrer dunkelblauen Jacke, die sie aufgeknöpft hatte, war eine rosafarbene Bluse zu sehen. Dazu trug sie einen beigen Rock.
Irgendetwas kam Jürgen Petersen an den beiden merkwürdig vor. Ihre Blicke waren seltsam leer und ausdruckslos. Auch irritierte ihn zunehmend, dass sie sich immer nur kurz ansahen, aber kein Wort miteinander wechselten. Andererseits musste er dann auch wieder schmunzeln, als er beobachtete, dass jeder der beiden eine Thermoskanne dabei hatte, aus der sie sich fast schon synchron heißes Wasser in ihre Becher gossen, in die sie zuvor gleich mehrere Teelöffel Instant-Kaffee getan hatten, und diese dann in einem Zug ausleerten. Es war fast schon ein Déjà-vu.
Wieder meldete sich die Leitstelle zu Wort, entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten und bat weiterhin um Geduld.
Jürgen Petersen schickte noch einmal eine Nachricht an Sebastian und bat ihn, mit dem Frühstück schon mal anzufangen.
"Nö, ich warte auf Dich und gönne mir noch ein paar Kaffee", lautete kurz darauf die Antwort. Petersen versucht sein amüsiertes Prusten hinter einem Hustenanfall zu verstecken. Nein, Sebastian hatte sich wirklich nicht verändert, was diesen Punkt betraf.
Ob er wohl mit den beiden Alten irgendwie verwandt war? Diese hatten aus ihren Taschen jeweils eine zweite Thermoskanne herausgezogen und sich einen Kaffee nach dem nächsten aufgegossen. Doch irgendetwas war anders als wie noch vor ein paar Minuten. Die Frequenz, in der sich die beiden ansahen, nahm zu. Sie schienen nun doch nervös zu werden, redeten aber weiterhin kein Wort miteinander.
Jürgen Petersen holte die Zeitung wieder hervor und blätterte sie erneut nur oberflächig durch. Doch diesmal fiel ihm ein Foto ins Auge, auf dem er Sebastian entdeckte. Es war ein Bericht über die Tagung auf der er gewesen war. Irgendein Treffen von Astro-Physikern aus aller Welt. Sebastian hatte es weit gebracht. Er war nach dem Studium in die Forschung gegangen, wo er sich einen Namen gemacht hatte.
Plötzlich stutzte Petersen. Im Hintergrund des Fotos entdeckte er jenes Ehepaar, das mit ihm im Abteil saß. Sie schienen auch auf dieser Tagung gewesen zu sein.
'Merkwürdiger Zufall', dachte er und schaute erneut zu den beiden Alten hinüber. Bei ihrem Anblick erstarrte er.
Die beiden hatten sich deutlich verändert. Da saßen zwei Wesen mit blass-grauer Haut und ohne erkennbare Gesichtszüge. Ihre Augen sahen aus, wie große schwarze Punkte. Sie hatten keine Nasen mehr und nur noch eine kleine Mundöffnung. Petersen konnte an ihren Händen lediglich drei knochige Finger erkennen. Auch ihre Körper hatten sich deutlich verändert. Sie waren schlanker geworden, so dass die Kleidung schlaff an ihnen herunter hing.
Wieder schauten sie sich schweigend an. Mit zitternden Händen gaben sie erneut Instant-Kaffee in ihre Becher und gossen ihn mit den letzten Tropfen Wasser aus ihren Kannen auf.
Jürgen Petersen wagte kaum zu atmen. Er konnte nicht anders, als die beiden unaufhörlich anzustarren. Auch sie blickten nun mit ihren ausdruckslosen Augen zu ihm hinüber. Dann begannen sie damit, sich die letzten Krümel des Instantpulvers in ihre Mundöffnungen zu füllen.
Petersen überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Doch bevor er noch irgendetwas unternehmen konnte, war es so, als würden sich die beiden Alten in Luft auflösen. Nur ihre Kleidung blieb dort liegen, wo sie gerade noch gesessen hatten.
Regungslos saß Jürgen Petersen auf seinem Platz. Er konnte nicht begreifen, was er da soeben gesehen hatte. Nach einer Weile stand er auf und ging zu den Plätzen der beiden hinüber, nahm sein Smartphone und machte ein Foto von der Kleidung, die dort lag. Gleichzeitig fragte er sich, was er da eigentlich tat. Diese Geschichte würde ihm sowieso niemand glauben, da half auch ein Foto von Klamotten, die auf zwei U-Bahn-Sitzen lagen, nicht weiter.
Kurze Zeit später fuhr die Bahn wieder an, und nach gut zwanzig Minuten betrat er das Café, in dem Sebastian auf ihn wartete.
"Na, da bist du ja endlich!", begrüßte dieser ihn freudestrahlend. "Schön, dass wir uns endlich mal wiedersehen!"
Jürgen Petersen nickte und lächelte gequält.
"Was ist denn mit dir los? Hast wohl wieder nicht ausgeschlafen, oder?" Sebastian lachte laut auf. "Trink erst mal 'nen Kaffee, damit die Lebensgeister in dir geweckt werden."
Jürgen Petersen bemühte sich, das eben Erlebte in den Hintergrund zu schieben und sich auf das Gespräch mit Sebastian zu konzentrieren. Doch immer wieder schweiften seine Gedanken ab.
"Also irgendwas ist doch los mit dir. Erzähl schon, was dir auf der Seele liegt", unterbrach dieser irgendwann seinen eigenen Redefluss.
In Erinnerung und Vertrauen auf die wirklich gute Freundschaft, die einst zwischen den beiden bestanden hatte, begann Jürgen Petersen langsam und stockend von dem zu berichten, was er soeben in der U-Bahn erlebt hatte. Er zeigte Sebastian das Bild aus der Zeitung und die Fotos, die er gemacht hatte. Dann schaute er ihn an.
"Und, hältst du mich jetzt für verrückt?"
"Nein", sagte dieser ernst, um nach einer kurzen Pause fortzufahren. "Aber kann es sein, dass du in der Bahn doch kurz mal eingeschlafen bist und das alles nur geträumt hast?"
"Also hör mal …!" antwortete Jürgen Petersen empört. "Und die Klamotten, die ich fotografiert habe?"
"Die könnten doch auch irgendwelche Leute dort liegengelassen haben."
"Ich schwöre dir Sebastian, dass ich das alles wirklich so …"
"Lass gut sein. Ich werde es nicht weitersagen", unterbrach ihn dieser, sichtlich darum bemüht, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Wollen wir jetzt endlich frühstücken? Ich kriege langsam Hunger. Vorher muss ich aber noch mal kurz verschwinden."
Sebastian stand auf und ging zu den Toiletten. Dabei murmelte er irgendetwas vor sich her.
"Was hast du gesagt?" rief ihm Jürgen Petersen hinterher.
"Ach nichts. Ist schon Okay", antwortete dieser und ging weiter.
Jürgen Petersen war sich aber sicher, dass Sebastian irgendetwas gesagt hatte, das wie "Verdammter Instant-Kaffee" geklungen hatte.
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Die Kaffeefahrt
An einem Samstag im Frühling des Jahres 2015 gegen acht Uhr morgens stieg Jürgen Petersen an der Haltestelle Volksdorf in die U 1, um in die Hamburger Innenstadt zu fahren. Eigentlich war er ja kein Frühaufsteher, doch sein alter Studienfreund Sebastian Schreiber war in der Stadt und hatte nur an jenem Morgen Zeit für ein Treffen gehabt. Also hatten sie sich zu einem Frühstück in einem Café nahe dem Hauptbahnhof verabredet. Sebastian war auf einer internationalen Fachtagung gewesen und wollte nach dem Frühstück mit der Bahn zurück nach Heidelberg fahren.
Jürgen Petersen hatte sich für seine ungefähr dreißigminütige Fahrt mit der U-Bahn eine Tageszeitung gekauft. Doch er war zu müde, um sie wirklich genauer zu lesen. Stattdessen blätterte er sich durch die Seiten und überflog nur die Überschriften. Es waren die üblichen Katastrophen- und Negativmeldungen, an die er sich eigentlich nie gewöhnen wollte und die er nun doch eher ungerührt zur Kenntnis nahm. Nach einiger Zeit rollte er die Zeitung zusammen und steckte sie in seine Manteltasche. Vielleicht würde er sie auf der Rückfahrt lesen.
Da die U-Bahn zunächst oberirdisch fuhr, genoss er den Blick nach draußen und hing seinen Gedanken nach. Die noch tief stehende Sonne blendete ihn ein wenig, so dass er kurz darüber nachdachte, den Platz zu wechseln. Doch andererseits genoss er die Wärme in seinem Gesicht, so dass er letztendlich sitzen blieb.
Jürgen Petersen freute sich auf das Treffen mit Sebastian. Während ihres Physik-Studiums waren sie eng befreundet gewesen. Doch nach dem Abschluss hatten sie sich immer mehr aus den Augen verloren. Während er selber in Hamburg geblieben war, hatte Sebastian einen guten Job in Süddeutschland gefunden. Schon seit Jahren gab es nur noch sporadische Telefonate oder E-Mail-Grüße.
Kurz nach der Station "Wandsbek Gartenstadt" verlief die Strecke unterirdisch weiter. Sie waren gerade in den Tunnel gefahren, als die Bahn plötzlich anhielt. Gleich darauf teilte die Leitstelle der Hamburger Hochbahn mit, dass sich die Weiterfahrt aufgrund eines Weichenschadens ein wenig verzögern würde.
Jürgen Petersens Gedanken begannen zu arbeiten, soweit ihnen das um diese Uhrzeit möglich war. "Weichenschaden" hörte sich nicht unbedingt nach einer kurzfristigen Störung an. Die U-Bahn befand sich auf freier Strecke in einem Tunnel. Wie sollte sich die Weiterfahrt da nur "kurzfristig" verzögern? Fast reflexartig griff er in die Manteltasche und holte sein Smartphone heraus. Er musste Sebastian informieren, dass er sich verspäten würde. Also schickte er ihm eine kurze Nachricht und behielt das Gerät in der Hand, um die Antwort abzuwarten.
"Kein Problem! Bin auch noch nicht da. Trinke sonst schon mal 'nen Kaffee", antwortete Sebastian dann auch prompt.
Petersen steckte das Smartphone wieder ein. Er grinste ein wenig. Sebastian schien immer noch der große Kaffeetrinker zu sein. Schon während des Studiums hatte er ihn kannenweise in sich hineingeschüttet, und bei Unternehmungen schleppte er mindestens zwei bis drei Thermoskannen mit sich mit. Es musste aber immer richtiger gemahlener Bohnenkaffe sein. Irgendein Instantzeug kam für ihn nicht infrage. Im Gegenteil – bei einer Freizeit hatte man nur Instant-Kaffee dabei gehabt. Sebastian war fast durchgedreht und hatte sich sofort auf den Weg gemacht, um richtigen Kaffee zu besorgen. Trotzdem packte er sich für diese Fahrt mehrere Thermosflaschen heißes Wasser und ein Glas Instant-Kaffee ein. Diese Aktion hing ihm dann während des restlichen Studiums nach, so dass er immer wieder Lästereien und spöttische Bemerkungen über sich ergehen lassen musste.
Jürgen Petersen ließ nun seinen Blick durch den Wagen streifen. Aus den Augenwinkeln hatte er mitbekommen, dass an der letzten Station viele Leute ausgestiegen waren. Jetzt stellte er fest, dass sich außer ihm nur noch ein älteres Ehepaar im Abteil befand. Es saß wenige Plätze von ihm entfernt am Kopfende des Wagens.
Der Zugführer teilte erneut mit, dass sich die Weiterfahrt noch etwas länger verzögern würde.
Jürgen Petersen war ein stoischer Pragmatiker, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. Er hatte nach dem ersten kurzen Überraschungsmoment seine Lage analysiert, festgestellt, dass er nichts ändern konnte, hatte Sebastian informiert, und musste jetzt einfach nur abwarten, wie und wann es weiterging.
Auch das ältere Ehepaar schien die Angelegenheit eher gelassen anzugehen. Sie saßen schweigend nebeneinander und starten vor sich her. Nur ab und zu schauten sie sich kurz an, wechselten aber kein Wort miteinander.
Verstohlen beobachtet Jürgen Petersen die beiden. Sie mussten Ende sechzig, Anfang siebzig sein. Beide waren schlank und von mittlerer Größe. Er hatte kurzes, ordentlich gescheiteltes weißes Haar und trug einen grauen Anzug, ein hellblaues Hemd mit einer blass gelben Krawatte. Die graublonden Haare der Frau waren nach hinten gekämmten und zu einem Dutt zusammengesteckt. Unter ihrer dunkelblauen Jacke, die sie aufgeknöpft hatte, war eine rosafarbene Bluse zu sehen. Dazu trug sie einen beigen Rock.
Irgendetwas kam Jürgen Petersen an den beiden merkwürdig vor. Ihre Blicke waren seltsam leer und ausdruckslos. Auch irritierte ihn zunehmend, dass sie sich immer nur kurz ansahen, aber kein Wort miteinander wechselten. Andererseits musste er dann auch wieder schmunzeln, als er beobachtete, dass jeder der beiden eine Thermoskanne dabei hatte, aus der sie sich fast schon synchron heißes Wasser in ihre Becher gossen, in die sie zuvor gleich mehrere Teelöffel Instant-Kaffee getan hatten, und diese dann in einem Zug ausleerten. Es war fast schon ein Déjà-vu.
Wieder meldete sich die Leitstelle zu Wort, entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten und bat weiterhin um Geduld.
Jürgen Petersen schickte noch einmal eine Nachricht an Sebastian und bat ihn, mit dem Frühstück schon mal anzufangen.
"Nö, ich warte auf Dich und gönne mir noch ein paar Kaffee", lautete kurz darauf die Antwort. Petersen versucht sein amüsiertes Prusten hinter einem Hustenanfall zu verstecken. Nein, Sebastian hatte sich wirklich nicht verändert, was diesen Punkt betraf.
Ob er wohl mit den beiden Alten irgendwie verwandt war? Diese hatten aus ihren Taschen jeweils eine zweite Thermoskanne herausgezogen und sich einen Kaffee nach dem nächsten aufgegossen. Doch irgendetwas war anders als wie noch vor ein paar Minuten. Die Frequenz, in der sich die beiden ansahen, nahm zu. Sie schienen nun doch nervös zu werden, redeten aber weiterhin kein Wort miteinander.
Jürgen Petersen holte die Zeitung wieder hervor und blätterte sie erneut nur oberflächig durch. Doch diesmal fiel ihm ein Foto ins Auge, auf dem er Sebastian entdeckte. Es war ein Bericht über die Tagung auf der er gewesen war. Irgendein Treffen von Astro-Physikern aus aller Welt. Sebastian hatte es weit gebracht. Er war nach dem Studium in die Forschung gegangen, wo er sich einen Namen gemacht hatte.
Plötzlich stutzte Petersen. Im Hintergrund des Fotos entdeckte er jenes Ehepaar, das mit ihm im Abteil saß. Sie schienen auch auf dieser Tagung gewesen zu sein.
'Merkwürdiger Zufall', dachte er und schaute erneut zu den beiden Alten hinüber. Bei ihrem Anblick erstarrte er.
Die beiden hatten sich deutlich verändert. Da saßen zwei Wesen mit blass-grauer Haut und ohne erkennbare Gesichtszüge. Ihre Augen sahen aus, wie große schwarze Punkte. Sie hatten keine Nasen mehr und nur noch eine kleine Mundöffnung. Petersen konnte an ihren Händen lediglich drei knochige Finger erkennen. Auch ihre Körper hatten sich deutlich verändert. Sie waren schlanker geworden, so dass die Kleidung schlaff an ihnen herunter hing.
Wieder schauten sie sich schweigend an. Mit zitternden Händen gaben sie erneut Instant-Kaffee in ihre Becher und gossen ihn mit den letzten Tropfen Wasser aus ihren Kannen auf.
Jürgen Petersen wagte kaum zu atmen. Er konnte nicht anders, als die beiden unaufhörlich anzustarren. Auch sie blickten nun mit ihren ausdruckslosen Augen zu ihm hinüber. Dann begannen sie damit, sich die letzten Krümel des Instantpulvers in ihre Mundöffnungen zu füllen.
Petersen überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Doch bevor er noch irgendetwas unternehmen konnte, war es so, als würden sich die beiden Alten in Luft auflösen. Nur ihre Kleidung blieb dort liegen, wo sie gerade noch gesessen hatten.
Regungslos saß Jürgen Petersen auf seinem Platz. Er konnte nicht begreifen, was er da soeben gesehen hatte. Nach einer Weile stand er auf und ging zu den Plätzen der beiden hinüber, nahm sein Smartphone und machte ein Foto von der Kleidung, die dort lag. Gleichzeitig fragte er sich, was er da eigentlich tat. Diese Geschichte würde ihm sowieso niemand glauben, da half auch ein Foto von Klamotten, die auf zwei U-Bahn-Sitzen lagen, nicht weiter.
Kurze Zeit später fuhr die Bahn wieder an, und nach gut zwanzig Minuten betrat er das Café, in dem Sebastian auf ihn wartete.
"Na, da bist du ja endlich!", begrüßte dieser ihn freudestrahlend. "Schön, dass wir uns endlich mal wiedersehen!"
Jürgen Petersen nickte und lächelte gequält.
"Was ist denn mit dir los? Hast wohl wieder nicht ausgeschlafen, oder?" Sebastian lachte laut auf. "Trink erst mal 'nen Kaffee, damit die Lebensgeister in dir geweckt werden."
Jürgen Petersen bemühte sich, das eben Erlebte in den Hintergrund zu schieben und sich auf das Gespräch mit Sebastian zu konzentrieren. Doch immer wieder schweiften seine Gedanken ab.
"Also irgendwas ist doch los mit dir. Erzähl schon, was dir auf der Seele liegt", unterbrach dieser irgendwann seinen eigenen Redefluss.
In Erinnerung und Vertrauen auf die wirklich gute Freundschaft, die einst zwischen den beiden bestanden hatte, begann Jürgen Petersen langsam und stockend von dem zu berichten, was er soeben in der U-Bahn erlebt hatte. Er zeigte Sebastian das Bild aus der Zeitung und die Fotos, die er gemacht hatte. Dann schaute er ihn an.
"Und, hältst du mich jetzt für verrückt?"
"Nein", sagte dieser ernst, um nach einer kurzen Pause fortzufahren. "Aber kann es sein, dass du in der Bahn doch kurz mal eingeschlafen bist und das alles nur geträumt hast?"
"Also hör mal …!" antwortete Jürgen Petersen empört. "Und die Klamotten, die ich fotografiert habe?"
"Die könnten doch auch irgendwelche Leute dort liegengelassen haben."
"Ich schwöre dir Sebastian, dass ich das alles wirklich so …"
"Lass gut sein. Ich werde es nicht weitersagen", unterbrach ihn dieser, sichtlich darum bemüht, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Wollen wir jetzt endlich frühstücken? Ich kriege langsam Hunger. Vorher muss ich aber noch mal kurz verschwinden."
Sebastian stand auf und ging zu den Toiletten. Dabei murmelte er irgendetwas vor sich her.
"Was hast du gesagt?" rief ihm Jürgen Petersen hinterher.
"Ach nichts. Ist schon Okay", antwortete dieser und ging weiter.
Jürgen Petersen war sich aber sicher, dass Sebastian irgendetwas gesagt hatte, das wie "Verdammter Instant-Kaffee" geklungen hatte.
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