Die Nacht eines Dichters
Die Nacht eines Dichters, wie sie Zirkon aus der Legendenschatulle des edlen Dichterunwesens hervorgeholt hat. Ich bin da nüchterner, ich schlafe nachts. Ich weiß nicht, welchen Dichter du kennst, der nachts Sonette zusammenbastelt, vielleicht sogar meinst du, o holder Poet, dich selbst. Mit diesem verlogenen Sonett strickst du an der Legende, dass der Lyriker ein erhabenes Wesen sei, dem nichts gleicht auf der Welt, und der deshalb des Lorbeer der Mitwelt angeblich zu Recht beanspruchen darf. Nein, Schreiben, wenn es Substanz haben soll, ist Arbeit und nicht etwa göttliche Eingebung. Die Idee dazu kann dem Autor auf dem Klo kommen, egal, wo und wann. Entscheidend ist, was er dann produziert. Und damit bin ich bei deinem Sonett.
Wie gesagt, ein verlogenes Gedicht, fern jeder Realität.
Man kann nur das schreiben, was man fühlt, was man weiß, was man denkt. Und wie man fühlt, was man denkt und was man weiß, geht in das Gedicht ein. Da wäre erst mal das Bild des "tränend tropfenden Sommerregens" - bei Nacht! Es ist so verlogen und kitschig, wie es nur irgend geht, ganz abgesehen von dem abgedroschenen Bild des Regens als Tränen an den Fensterscheiben. Als Sommerregen wird ein Regen bezeichnet, der warm ist, weil die Sonne trotz des Regens scheint, und das geschieht nicht bei Nacht, sondern logischerweise bei Tage.
Das nächste Bild: Die Gedanken "zeilen sich wortergeben".
Was willst du denn damit ausdrücken? Dass "der Dichter"
schreibt, damit sich am Ende ein Reimwort ergibt? Natürlich muss er ein Reimwort finden, das ist klar, aber er muss nicht "wortergeben", sondern aus dem Gedanken heraus schreiben, sonst entsteht so ein Geklitter, wie du es geschrieben hast. Jo, es reimt sich, dein Sonett. Aber wenn die Gedanken des Autors unklar sind, wird er auch ein unklares Gedicht schreiben.
Nun aber zum Handwerklichen:
Zunächst fällt auf, dass du die Anforderung an das Sonett These - Antithese - Synthese nicht einhältst. Kurz gesagt, es ist ein Gedicht, in den förmlichen Mantel eines Sonetts gepresst. Du erfüllst mit diesem Sonett auch nicht die Regel, dass 1. und 2. Quartett dieselben Endreime haben müssen. Das zumindest darf man in aller Bescheidenheit erwarten.
Wie sieht es nun mit der Synthese aus? Da fällt erst einmal die "Krypta seines Wesen" (das sich noch dazu "enthoben" hat) ins tränende Auge. Nicht genug, dass der Genitiv unvollständig ist, nein, da wird mit Krypta zumindest ein falsches Bild benutzt. Entweder ist Krypta ein Grabraum in den Katakomben, ein unterirdischer Raum im Ostchor in romanischen Kirchen oder physiologisch ein krankhafter Zustand in der Darmschleimhaut. Nun darf man raten, was dieser Dichter im Wesen hat. Ich habe nichts gegen Metaphern, aber es müssen die richtigen sein, denn in der Krypta befinden sich nur Tote, also abgestorbene Gedanken, die folglich nicht mehr existieren. Nun könnte ich böse sagen, das merkt man dem Gedicht an. Ich spar mir diesen Kalauer.
Wie ist denn zu verstehen, dass der Dichter "enttarnt" zu "blinden Sternen" aufschaut? Merkt er also selber, dass er das blanke Nichts geschrieben hat, oder sind die Sterne blind, weil sie ihm zu Ehren nicht doppelt so hell leuchten, wie diesem missglückten Sonett nach Maßgabe des Dichters zustehen müsste?
blackout
Die Synthese soll Zusammenfassung, Einblick und Ausblick sein.