Die Sonne in meinen Händen

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SThiel

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„Wow, hat der aber große Füße“. Das waren die Worte des Arztes, der Milan mit einem Kaiserschnitt entbunden hatte. Ein grünes Tuch versperrte mir den Blick und wegen der Peridualanästhesie spürte ich nur einen Ruck im Körper. Konnte mein Entengang, den ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte, Einfluss auf die Größe seiner Füße haben? Aber diesen Gedanken schob ich gleich zur Seite, als mir die Krankenschwester Milan auf meine Brust legte. Was für ein durchgeknallter Arzt, Milan war das süßeste und wohlproportionierte Baby aller Zeiten. Die objektive Meinung einer Mama, die im Leben noch nie so kleine Füße gesehen hatte.
Es war schon weit nach Mitternacht als ich erschöpft in meinem Zimmer einschlief. Anders als erwartet war die Nacht traumlos und ruhig. Am nächsten Morgen brachte mir die Krankenschwester Milan. Er schlief und wirkte so zufrieden. Es war ein Wunder, dass dieser kleine Wurm gestern noch in meinem Bauch war und nun in meinem Arm lag. In mir breitete sich eine große Ehrfurcht vor Mutter Natur aus. Es überwältigte mich und lies mich für einen Moment den Atem anhalten. „Krass“, entsprang aus meinem Mund und ich verharrte einige Minuten und starrte Milan dabei unentwegt an. Langsam schweifte mein Blick von Milan zu meinem Bauch. Mein Shirt spannte dort, wo Milan gestern noch drin war. Wie war das möglich? Habe ich Zwillinge und die Ärzte haben das andere Kind nicht entdeckt? Ich zwang mich zur Ruhe. „Jetzt überleg mal ganz rational“, ermahnte ich mich selber. „Der Bauch ist sooo groß! Von wegen rational, das ist nicht normal!“ Meine Gedanken galoppierten und ließen sich nicht mehr stoppen. Jedes Szenario, das sie mir aufzeigten. war schlimmer als das vorherige. Mein Herz schlug schneller und ich spürte, dass mein Mund trocken wurde. Ohne weiter nachzudenken klingelte ich nach der Krankenschwester. Einen kurzen Moment später öffnete sich die Tür und eine schlanke Brünette mit schulterlangem Haar lächelte mich an. Ihr auberginefarbener Kittel lag nicht eng an, doch er ließ darunter auf einen gut durchtrainierten Körper schließen. Die schmerzhafte Sehnsucht nach meinem früheren Körper versuchte sich einzuschleichen. Ich schob sie beiseite und noch bevor mein Gegenüber sich vorstellen konnte, platzte ich mit meiner unglaublichen Entdeckung heraus. Dabei blickte ich abwechselnd von Milan zu meinem übergroßen Bauch. „Warum steht sie noch da und holt nicht den Arzt?“ schoss es durch meinen Kopf. Wenn die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre, hätte ich das leichte Zucken um ihren Mund als Schmunzeln deuten können. Was für eine absurde Interpretation. Sie hatte als professionelle Fachkraft mit Sicherheit den Ernst der Lage sofort erkannt und war jetzt nur in einer Art Schockstarre. Was dann folgte, reihte sich in meine persönliche Top 10 der peinlichsten Momente ein. Sie versuchte nach Leibeskräften ihr Schmunzeln nicht zu einem Grinsen oder gar Lachen mutieren zu lassen. Doch es gelang ihr nicht. Schnell hatte sie ihre Fassung wieder und erklärte mir einfühlsam, dass alles in Ordnung sei und der Körper für die Rückbildung Zeit benötige. Da saß ich nun und fühlte mich wie das größte Dummerchen auf dieser Welt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl noch öfters haben werde.
Sören kam wie verabredet nach dem Frühstück. Wir sprachen nicht viel, sondern genossen diesen Moment und beteuerten immer wieder, welch ein großes Glück wir in unseren Händen halten. Bevor ich in Gedanken versinken konnte, kam die Hebamme und zeigte mir geduldig, wie ich Milan zum Trinken an die Brust legen musste. Was sich so einfach anhört, entpuppte sich zu einem Schauspiel, bei dem der Hauptakteur seinen Einsatz vergaß. Milan war wenig bis gar nicht daran interessiert. Verzweifelt schaute ich die Hebamme an und spürte die tiefe Traurigkeit des Versagens in mir. Meine Angst, die mich schon während der Schwangerschaft heimsuchte und mich zweifeln ließ, dass ich jemals eine gute Mutter sein werde und der Verantwortung gerecht werden könnte, umhüllte mich wie ein bleiender Mantel. „So, jetzt ist aber mal gut! Das wird schon alles, du musst nur positiv denken! Es war eben nur ein holpriger Start und ab jetzt geht es bergauf!“ Ob ich mich mit diesen Gedanken wirklich beruhigen konnte, bezweifele ich mal sehr stark, doch sie gaben mir wieder Kraft und Mut. Sören legte seinen Arm um mich und ohne dass wir es aussprachen war uns klar, dass wir es gemeinsam schaffen werden. Die Tage im Krankenhaus vergingen. Sören kam wie jeden Morgen in mein Zimmer und fand mich tränenüberschrömt vor. Ich schluchzte und meine aufgequollenen Augen sahen ihn hilfesuchend an. Er stürzte zu mir und fragte was los sei. Statt einer Antwort erhielt er eine Mischung aus Grunzen und unmenschlichen Lauten. „Ist was mit Milan?“ Sören wurde panisch und sah besorgt in das Bettchen, in dem Milan seelenruhig schlief. Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Dann stieß ich gequält „Hommmomen“ aus und Sören schaute mich entgeistert an. „Was soll das heißen?“ Er nahm mich fest in den Arm bis ich wieder in der Lage war zu reden. „Es sind die Hormone, das meinte zu mindestens die Krankenschwester“, stammelte ich und spürte, wie sich die nächste Heulattacke hochrollte. Sichtlich erleichtert streichelte Sören meinen Kopf und so beruhigte ich mich zusehend. „Verdammt, was ist nur aus mir geworden? Wo ist nur die Powerfrau, der nichts zu viel ist? Sobald ich hier raus bin, werde ich mein Leben wieder in die Hand nehmen und mich nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Hormonen die Laune vermiesen. Soweit kommt es noch!“ Und mit diesem Auftrieb verbrachte ich die letzten 2 Tage im Krankenhaus und wir fuhren von dort aus direkt nach Hamburg, unserem neuen Zuhause, in das wir 2 Wochen vor der Entbindung gezogen sind.
Sören holte uns am Freitag ab und wir kümmerten uns das Wochenende gemeinsam um Milan. Alles war fremd, die Wohnung, die Umgebung und vor allem, dass wir Milan jetzt bei uns hatten. Mein Körper schmerzte und sehnte sich nach Ruhe und Schlaf. Als sich Sören am Montagmorgen verabschiedete und Richtung Heidelberg aufbrach, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich schaute Milan beim Schlafen zu und horchte in mich hinein und suchte das Gefühl der Liebe. Diese tiefe Liebe, die ich bei Sören, meiner Familie und meiner besten Freundin fühlte. Ich nahm ein Gefühl wahr, aber es war nicht so stark und überwältigend, wie ich mir Mutterliebe vorstellte. „Liebe ich Milan genug“, schoss es durch meinen Kopf. Alles war so unbekannt und mich umgab ein Dunst von Unsicherheit und Überforderung. „Wunderbar!“ polterte es aus meinem Mund. „Wir machen uns jetzt einen tollen Tag“, sagte ich freudestrahlend zu Milan – und auch zu mir. Milan war jetzt wach und ich drückte ihn fest an mich während eine Träne hat sich ihren Weg entlang meiner Wange gesucht hatte. Einen Moment lang wollte ich es genießen, Milan und ich eng miteinander verbunden. Doch Milan fand das Ganze irgendwie nicht so ergreifend. Wenn ich sein „Bäääähhhhhh“ in der Tonlage und der Lautstärke, in der er es mir entgegen brüllte, waghalsig von Babysprache ins Deutsche übersetzen würde, dann wäre das das Ergebnis: „Jetzt hör mal mit der Gefühlsduselei auf und eröffne endlich die Milchbar! Und falls du es nicht gemerkt hast, es krümelt schon da unten und ich stinke wie ein Berber! Also zack!“ Als ich Milan gestillt und gewickelt hatte, schaute er wieder rundum zufrieden aus. Das war doch der Beweis für eine perfekt funktionierende Kommunikation! Oder hatte der Kleine mich jetzt schon gut im Griff? Quatsch, ich entschied mich für die erste Variante, damit fühlte ich mich selbstbestimmter – und als Meisterin des Schönredens war von mir auch nichts anderes zu erwarten. Eigentlich wollte ich mich zu Milan legen, der jetzt friedlich schlummernd in meinem Bett lag, doch der Schmerz in meinem Unterleib, der mich seit heute früh piesackte, nahm stündlich zu. Gegen Mittag entschied ich mich einen Arzt anzurufen. Wenn etwas nicht läuft, dann wirklich alles nicht. Die Ärztin am Ort hatte Urlaub, der angegebenen Vertretung war der Weg zu mir zu weit und so blieb mir nur einen weiteren Arzt ausfindig zu machen. Ich kannte mich dort nicht aus und war maßlos überfordert. Etliche Telefonate und vielen Tränen später hat sich einer bereiterklärt mich nach seiner Sprechstunde Zuhause aufzusuchen. Nun ja, das Ende vom Lied war, dass Milan und ich am Abend noch in die Klinik mussten. Nach dem Motto: Schlimmer geht immer, wurde unser Start sehr herausfordernd. Die Klinikärztin diagnostizierte eine Gebärmutterentzündung wegen verzögerter Rückbildung der Gebärmutter. Ich weiß nicht, wie es anderen erging. Wenn ich ins Krankenhaus kam, drehte sich ein unsichtbarer Schalter auf „Krank-Sein-Modus“ um und alle vegetativen Systeme fuhren runter. Es fühlte sich ein wenig wie „dahinsiechen“ an. „Frau Doktor, beugen sie sich bitte zu mir, ich kann nicht so laut sprechen“, sprach ich mit kaum hörbarer Stimme und zaghaft hauchte ich ihr ins Ohr:“Wie lange hab ich noch?“. Solch eine Szene hätte perfekt zu meinem Gemütszustand gepasst und mich zur Dramaqueen des Monats gekürt. Applaus, Applaus! Doch wie hätte sowas mit Milan im Schlepptau funktionieren können? Also alles auf Anfang und Szene „Krankenhaus“ die Zweite! Natürlich riss mich zusammen und habe alle Untersuchungen und Therapien brav mitgemacht und mich so gut es ging um Milan gekümmert. Nach 2 Tagen waren wir endlich wieder draußen.
Milan und ich waren viel alleine und konnten unseren Neuanfang gemeinsam angehen. Wenn Milan schlief, schlief ich auch und wenn er wach war, habe ich ihn gestillt, gewickelt, gebadet, und und und. Milan hatte großen Hunger und wurde oft wach. So kam ich im ersten Monat kaum aus meinen Schlafsachen raus und ähnelte eher einem Zombie als einem menschlichen Wesen. Die milchgefüllten Brüste drückten und das „Andocken“ von Milan war jedes Mal eine Tortur, die meine Gesichtszüge entgleiten ließen. Die entspannten Mütter beim Stillen, die in Hochglanz auf den Elternzeitschriften abgebildet waren, wirkten dabei auf mich wie eine erbärmliche Lüge. „Das alles muss sich ändern“, sagt ich zu Milan, der mir mit einem Aufstoßen und einem Schwall Milch zustimmte. Nun stand ich jeden Tag um acht auf, duschte und schminkte mich und suchte mir sorgfältig die Kleidung aus. Immerhin bin ich nicht nur Mama sondern auch Frau und so wollte ich mich auch wieder fühlen. Die erste Hürde, die ich überwinden musste, war der Strahl Milch, der mir nach der Dusche beim Aufheben des Handtuchs aus der Brust spritzte. Mit meiner Milch hätte ich locker eine Kinderklinik satt bekommen können. Pragmatisch und lösungsorientiert, wie wir Mütter nun mal so sind, habe ich mein Duschen immer direkt nach dem Stillen gelegt. So leicht ist das Leben.
Milan entwickelte sich prächtig und das bestätigte auch die Kinderärztin. Wir waren schon ein tolles Team. Das fühlte ich ganz tief in mir. Doch dieser kurze Augenblick der Zufriedenheit hielt leider nicht lange an. Milan bekam heftige Bauchschmerzen und die Ärztin sprach von 3-Monats-Koliken. „Klasse, nicht das auch noch“, durchfuhr es mich. Tage und Nächte schrie Milan immer wieder vor Schmerz und ich legte ihn auf eine kleine Wärmflasche auf meinen Schoß, massierte ihn, gab ihm Fencheltee und versuchte ihn zu beruhigen. Stundenlang lief ich mit ihm auf dem Arm durch die Wohnung und versuchte ihn mit einem Singsang in den Schlaf zu wiegen. Wäre es ein oder zwei Tage so gewesen, hätte ich müde drüber lächeln können. Doch nach Wochen erfuhr ich hier und da massive Grenzerfahrungen. Was mir während der Zeit wirklich geholfen hat, war meine klare Prioritätensetzung. Für mich standen Milan, Sören und ich obenan. Im Haushalt habe ich nur das Nötigste gemacht und für mehr war kein Platz. Meine Familie und Freunde wohnten knapp 200 km von mir entfernt und so mussten wir es alleine schaffen und das haben wir auch. So plötzlich wie es kam, ging es auch wieder und Milan war wieder der Strahlemax, der mir mit seinem zauberhaften Lächeln den Tag versüßte.
Milan entdeckte mehr und mehr sein Umfeld. Seine Augen wurden wacher und an seinem Mobilé, das über seinem Bettchen hing, konnte er sich nicht satt sehen. Was von der harten Zeit übrig geblieben war - er schlief sehr schlecht ein. Wer jetzt glaubt, dass wir mitten in der Nacht mit dem Auto durch den Ort fuhren, weil er so besser einschlief, der hat sich sowas von nicht getäuscht. Ja, wir erfüllten da wirklich jedes Klischee von ratlosen Eltern. Doch wie sagt man immer: alles was hilft hat Berechtigung! Nun ja, nach etlichen nächtlichen Touren haben wir es endlich eingesehen und akzeptiert: unser Sohn braucht wenig Schlaf! So lächerlich es sich auch anhören mag, aber mit dieser neuen Haltung stresste es uns nicht mehr, wenn Milan erst später einschlief. Wir genossen die gewonnene Zeit zu dritt, da Sören oft erst spät abends von der Arbeit kam.
Jeden Tag marschierte ich mit Milan eine kilometerlange Strecke. Der Winter rückte immer näher und so peitschte mir ein eisiger und bissiger Wind entgegen, der sich auf meinen Wangen wie kleine Nadelstiche anfühlte. Der Schlafmangel schwächte meinen Körper und mir war ständig kalt, mal mehr und mal weniger. Milan lag im Kinderwagen, eingemurmelt in einen Winterschlafsack auf einem Lammfell und einer Kuscheldecke. Er schlief und sah dabei so zufrieden aus. Mein Angebot an ihn, die Plätze nur für einen kurzen Moment zu tauschen, ignorierter er mit einem Knaueln auf seinem Schnuller. So verging Tag für Tag und ich war mir mittlerweile sicher, dass das Trainingslager für das Besteigen des Himalayas nicht härter sein konnte. Milan und ich wuchsen zu einem richtig guten Gespann zusammen. Ich kümmerte mich um die Milchbar, das Wickeln und den Spaziergängen und er schenkte mir eins seiner bezaubernden Lächelns, das mein Herz aufgehen ließ. Nach meiner Meinung, hatte ich den besseren Deal gemacht.
Wir kannten in unserer Umgebung niemanden und auch das musste sich schleunigst ändern. Was liegt nicht näher als eine Krabbelgruppe. Über Wochen habe ich mich fast ausschließlich mit Milan unterhalten. Sicher, die Gespräche verliefen sehr einseitig, aber es war ok. Und nun hatte ich eine Horde Mütter vor mir, die über ihre Kinder sprachen, als ob sie Einsteins waren. Welches Kind was schon kann, war wohl ein internes Wettrennen, dessen Spielregel und Sinn mir bis heute unergründlich blieben. Aber Milan hatte sichtlich Spaß mit den anderen Kindern, so dass ich alles andere freundlich lächelnd ertrug.
Mit sanften Vorboten kündigte sich der Frühling an. Die Tage wurden wieder länger und die ersten Frühlingsblumen brachten wieder Farbe ins Leben. Der erste Frühling für Milan, der erste, den wir gemeinsam erlebten. Bei unseren täglichen Touren hörten wir die Zugvögel zurückkehren. Mit wachen Augen verfolgte er die Schwärme am Himmel. Ich weiß nicht mehr genau, was mich damals geritten hatte, aber ich öffnete meinen Mund und trällerte aus vollem Halse:“ Alle Vögel sind noch da, alle Vögel, alle“. Milans Augen weiteten sich, sie wirkten erst verwirrt und dann eher voller Schmerz. Als wenn er von einer Wespe gestochen wurde, schrie er nach Leibeskräften. Sofort hörte ich mit meinem Trällern auf, nahm ihn auf meinen Arm und tröstete ihn. Mir war schlagartig klar, dass er kein Fan von Frühlingsliedern war. Eine Erkenntnis, mit der ich mich, wenn ich Ruhe habe, erst einmal auseinandersetzen musste. Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Wir hatten es wirklich gut miteinander. Morgens um Vier hörten wir den Zeitungsmann, der die Straße entlang fuhr während ich auf dem Sofa saß und Milan stillte. Danach legten wir uns nochmal schlafen und wir wachten immer so gegen halb Neun Uhr auf und begannen gemeinsam den Tag. Einen Rhythmus, an den ich mich schon gewöhnt hatte. Doch dann kam der bis dahin schrecklichste Morgen meines Lebens. Ich machte meine Augen auf und war noch ganz schläfrig. Daher realisierte ich auch echt spät, dass es hell war und so blickte ich auf die Uhr, die eine Zahl anzeigte, die nicht angehen konnte. 9, es war 9 Uhr und nicht 4. „Das kann nicht sein! Milan hätte doch längs Hunger haben müssen“ und dann durchfuhr eine panische Angst meinen Körper. Tränen liefen an meinen Wangen entlang und ich war wie erstarrt. Meine Angst in Milans Kinderbett zu schauen, dass neben mir stand, war so groß, dass ich eine Weile in der Position verharrte. Mein Herz raste und in Bruchteilen von Sekunden schossen die schlimmsten Bilder durch meinen Kopf. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schaute neben mir. Milan atmete gleichmäßig ein und aus und schlief friedlich. Anstatt ihn anzulächeln heulte ich los, die Tränen liefen und liefen. Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich diesen kleinen Fratz so sehr liebte, dass ich ohne ihn nicht sein konnte und auch nicht wollte. Er war die Sonne für mich. Er erhellte mein Leben, brachte mich zum strahlen und erwärmte mein Herz. Gleichermaßen spürte ich aber auch, dass ich auf mich achtgeben musste, damit ich nicht verbrenne und mich verliere. Wie ich das anstellen sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. „Hat noch Zeit“, beruhigte ich mich und schob den Gedanken achtlos zur Seite.
Als Mama gewann ich ungeahnte Fähigkeiten. Einarmig konnte ich ein Essen zubereiten, aufräumen und mich stylen. An einhändig Schuhe zubinden oder Geschenke einpacken, scheiterte ich jedoch kläglich. Milan lag vergnügt in meinem anderen Arm und schaute sich das Geschehen sehr interessiert an. Allerdings verlor ich auch Fähigkeiten. In einem Gespräch neigte ich immer mehr dazu die Sätze nicht zu beenden. „Schatz, am Wochenende kommen Jenny und Martin. Können wir mit ihnen nicht das Dings besuchen und danach vielleicht im..“, und dann war Schweigen und ich widmete mich wieder dem Ausräumen des Geschirrspülers zu. Sören konnte nur erraten: was meinte sie mit Dings? Und wie schaute der Plan nach dem Dingsbesuch aus? „Ich weiß nicht, was du meinst! Du sprichst in Rätseln“, polterte es ungehalten aus ihm heraus. Da ich es aber so gar nicht wahrnahm, wusste ich nicht, was er von mir wollte. In meinen Kopf waren es doch klare und vollständige Sätze. So schmetterte ich ihm verständnislos und erbost entgegen: „Ach man, hör mir doch bitte mal richtig zu, dann wüsstest du das!“ Für mich war es eindeutig, das Problem war auf seiner Seite! Ja ja, das leidige Thema der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Aber das war nicht der einzige Stolperstein in unserer Beziehung. Wir verloren uns aus den Augen und unser Leben drehte sich nur noch um Milan.
Das Abstillen, das stufenweise erfolgen sollte, indem man das Stillen nach und nach durch eine Mahlzeit ersetzt, hat Milan selbstbestimmend in die Hand genommen. Er weigerte sich von einem Moment zum anderen an meiner Brust zu trinken nach dem Motto: „Ich will jetzt nicht mehr, ich bin doch schon groß!“ Tja, da saß ich nun mit meinen prallgefüllten Brüsten und hatte keinen Abnehmer mehr. Auch hier greift das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Ich hätte meine Milch an jeden Dahergelaufenen verschenkt. „Vielleicht sollte ich am Gartenzaun ein Schild aufstellen – täglich frische Muttermilch kostengünstig abzugeben“, kam mir in den Sinn. Vor hundert Jahren hätte ich mir so als Amme ein paar Groschen dazu verdienen können, aber dieses Geschäftsmodell hatte längst ausgedient. Auf so eine Situation war ich nicht vorbereitet und musste erst einmal alle Optionen recherchieren. Mühselig kramte ich alle Hefte und Ratgeber zum Thema Abstillen raus und breitete sie vor mir auf dem Tisch aus. Eins nach dem anderen las ich sorgfältig durch und mir schwante nichts Gutes. Die illustrierten Bilder zeigten den C-Griff, der scheinbar in eingeweihten Kreisen eingängiger Begriff war, mir war er jedoch bis dato völlig unbekannt. So übte ich fleißig das Ausstreichen meiner harten und schmerzhaften Brüste, die ich vorher mit einem feuchtwarmen Handtuch und einer Massage ein wenig gelockert hatte. „Ein halbes Jahr nach der Geburt und ich fühle mich immer noch wie eine Kuh, die gemolken wird, und jetzt melke ich mich sogar schon selbst! Wie tief muss ich als Frau denn noch sinken?“ Der Gedanke frustrierte mich, denn ich war gerade dabei mein Frau-Dasein wieder auf die rechte Spur zu bringen. Mein Gewicht hatte sich – Dank des Stillens – wieder normalisiert und mein Friseurbesuch letzte Woche puschte mein Selbstbewusstsein ordentlich nach oben. „Manno, ich will meinen Körper zurück!“ sagte ich laut zu mir und stampfte dabei bekräftigend auf den Boden. Doch alles Jammern half nichts, das war der Weg. Doch auch dieser Weg hatte Stolpersteine und so saß ich eines Abends mit einer Brustentzündung und in Quark eingehüllten Brüsten auf dem Sofa vor dem Fernseher. Als Sören von der Arbeit nach Hause kam, rief ich aus dem Wohnzimmer: „Schatz, dein Essen ist im Kühlschrank, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen!“ Er schaute um die Ecke und verharrte in seiner Bewegung. „Schick“, meinte er und seine Mundwinkel zuckten wild hin und her. Schnell verschwand er in der Küche und ich hörte ein unterdrücktes Grunzen und Schnauben.
Auf einem unserer ausgedehnten Spaziergänge, die Milan mittlerweile im Buggy sitzend genoss, lernten wir Peggy und Lasse kennen. Peggy war Krankenschwester und arbeitete, wie ihr Mann auch, in Früh- und Spätschichten. Ihr Sohn Lasse war ein halbes Jahr älter als Milan und strahlte mich offen und freundlich an. Wir vier waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten seitdem viel Zeit miteinander. Wir fuhren mit den Kindern viel Fahrrad und besuchten gerne einen nahegelegenen See oder suchten so unsere Lieblings-Eisdiele auf. Zwischen Peggy und mir entwickelte sich eine richtig schöne Freundschaft. Wenn Peggy Frühschicht hatte und ihr Mann Spätschicht, oder umgekehrt, entstand ein Zeitraum, in dem Lasse nicht betreut werden konnte. Kurzerhand war Lasse nunmehr öfters vom späten Vormittag bis zum frühen Nachmittag bei uns. Und wir genossen es sehr. Er war eine Bereicherung und Milan schaute sich vieles von Lasse ab. Die Beiden waren so vergnügt miteinander und jedes Mal wenn Lasse durch die Tür kam, erhellte sich Milan`s Augen und er strahlte übers ganze Gesicht. Jeden Mittag kochte ich für uns und achtete dabei sehr auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Vielleicht habe ich es damals auch ein wenig übertrieben, aber ich wollte alles richtig machen. Die Zutaten hierfür holte ich von einem 10 Kilometer entfernten Biohof. Milan und ich fuhren einmal in der Woche mit dem Fahrrad dorthin und kauften unsere Wochenration an frischem Gemüse und Fleisch ein. Während dieser Tour schlief Milan regelmäßig ein und hing dann wie ein schlaffer Sack in den Gurten seines Kindersitzes. Sein Fahrradhelm verhinderte, dass er den Kopf nach hinten fallen lassen konnte, so dass er leicht nach vorne gebeugt und schräg im Sitz hing. Bequem ist sicher was anderes. Doch was macht man nicht alles für eine richtig gesunde Mahlzeit. Sören und ich hatten nur ein Auto. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich unser Auto benötigte, musste ich Sören zur Arbeit bringen und auch wieder abholen. Das bedeutete, dass ich Milan morgens um 6 Uhr weckte, wickelte und anzog und wir Papa zu seiner Arbeit bringen mussten, die eine Dreiviertelstunde Autofahrt von uns entfernt war. Und am Abend das ganze nochmal. Es ist erstaunlich, was ich alles mit dem Fahrrad erreichen konnte und wie selten ich auf das Auto angewiesen war.
Angetrieben von der Tatsache, dass Lasse an all seine geliebten Spielsachen problemlos rankam, fing Milan recht früh mit dem Laufen an. Es war mitten in der Woche. Ich war am Kochen und beobachtete Milan dabei, wie er sich an einem Stuhl hochzog. Er schaute mich an und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich lächelte zurück und lobte ihn überschwänglich: „das machst du toll mein Schatz, du bist schon so groß!“. Seit ein paar Wochen konnte er das und er war stolz wie Oscar. Bevor ich mich aber wieder den brodelnden und dampfenden Kochtöpfen zuwenden konnte, ließ Milan das Stuhlbein los und wankte unsicher von einem Fuß auf den anderen. Ich blieb für Sekunden erstarrt stehen und traute meinen Augen nicht. Dann begriff ich, was da gerade passiert war und schnellte in Windeseile um die Küchenzeile herum und hockte mich mit ausgestreckten Armen vor ihm. Milan`s Augen waren weit aufgerissen und seine Mundwinkel wussten nicht genau, was sie machen sollten. Es wechselte sich ein bizarres Grinsen mit einem „O“ geformten Mund munter ab. Mit dem dritten Schritt ließ sich Milan glücklich in meine Arme fallen. Vor lauter Aufregung vergaß ich zu atmen und merkte es erst als Milan in meinen Armen lag. Ein tiefer Atemzug füllte meine stolze Mamabrust und ich drückte Milan ganz fest an mich. Kleine Tränen ließen meine Sicht verschwimmen und liefen heiß die Wange herunter. „Oh krass, du kannst laufen“. Milan strahlte mich an als ob er es verstand. Sicher, er hatte nicht das Navi erfunden oder mit der Entwicklung der Cloud das Internet revolutioniert, jedoch war es eines dieser Ereignisse im Leben, welches ich nie vergessen werde. Mir tat Sören in diesem Moment so unendlich leid, der auf Arbeit war und es verpasst hatte. Als er nach Hause kam, lief ich ihm entgegen und erzählte alles haarklein, ohne Punkt und Komma. Mein Kopf lief rot an und es sprudelte nur so aus meinem Mund. So ein Mist, ich hatte das Atmen mal wieder vergessen. Sören war aus dem Häuschen und versuchte Milan zu motivieren es zu wiederholen. Da es aber schon recht spät war, fand Milan die Idee nicht so klasse und kuschelte sich lieber in meinem Schoß.
Das Leben mit Milan hat mich verändert. Was mir vorher wichtig war ist jetzt ohne Bedeutung und meine Ansichten zu einigen Themen sind divergent. So ein kleines Würmchen dreht alles mal auf Links. Aber dieses Abenteuer lohnt sich und macht das Leben heller.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo SThiel, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

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SThiel

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„Wow, hat der aber große Füße“. Das waren die Worte des Arztes, der Milan mit einem Kaiserschnitt entbunden hatte. Ein grünes Tuch versperrte mir den Blick und wegen der Peridualanästhesie spürte ich nur einen Ruck im Körper. Konnte mein Entengang, den ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte, Einfluss auf die Größe seiner Füße haben? Aber diesen Gedanken schob ich gleich zur Seite, als mir die Krankenschwester Milan auf meine Brust legte. Was für ein durchgeknallter Arzt, Milan war das süßeste und wohlproportionierte Baby aller Zeiten. Die objektive Meinung einer Mama, die im Leben noch nie so kleine Füße gesehen hatte.
Es war schon weit nach Mitternacht als ich erschöpft in meinem Zimmer einschlief. Anders als erwartet war die Nacht traumlos und ruhig. Am nächsten Morgen brachte mir die Krankenschwester Milan. Er schlief und wirkte so zufrieden. Es war ein Wunder, dass dieser kleine Wurm gestern noch in meinem Bauch war und nun in meinem Arm lag. In mir breitete sich eine große Ehrfurcht vor Mutter Natur aus. Es überwältigte mich und lies mich für einen Moment den Atem anhalten. „Krass“, entsprang aus meinem Mund und ich verharrte einige Minuten und starrte Milan dabei unentwegt an. Langsam schweifte mein Blick von Milan zu meinem Bauch. Mein Shirt spannte dort, wo Milan gestern noch drin war. Wie war das möglich? Habe ich Zwillinge und die Ärzte haben das andere Kind nicht entdeckt? Ich zwang mich zur Ruhe. „Jetzt überleg mal ganz rational“, ermahnte ich mich selber. „Der Bauch ist sooo groß! Von wegen rational, das ist nicht normal!“ Meine Gedanken galoppierten und ließen sich nicht mehr stoppen. Jedes Szenario, das sie mir aufzeigten. war schlimmer als das vorherige. Mein Herz schlug schneller und ich spürte, dass mein Mund trocken wurde. Ohne weiter nachzudenken klingelte ich nach der Krankenschwester. Einen kurzen Moment später öffnete sich die Tür und eine schlanke Brünette mit schulterlangem Haar lächelte mich an. Ihr auberginefarbener Kittel lag nicht eng an, doch er ließ darunter auf einen gut durchtrainierten Körper schließen. Die schmerzhafte Sehnsucht nach meinem früheren Körper versuchte sich einzuschleichen. Ich schob sie beiseite und noch bevor mein Gegenüber sich vorstellen konnte, platzte ich mit meiner unglaublichen Entdeckung heraus. Dabei blickte ich abwechselnd von Milan zu meinem übergroßen Bauch. „Warum steht sie noch da und holt nicht den Arzt?“ schoss es durch meinen Kopf. Wenn die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre, hätte ich das leichte Zucken um ihren Mund als Schmunzeln deuten können. Was für eine absurde Interpretation. Sie hatte als professionelle Fachkraft mit Sicherheit den Ernst der Lage sofort erkannt und war jetzt nur in einer Art Schockstarre. Was dann folgte, reihte sich in meine persönliche Top 10 der peinlichsten Momente ein. Sie versuchte nach Leibeskräften ihr Schmunzeln nicht zu einem Grinsen oder gar Lachen mutieren zu lassen. Doch es gelang ihr nicht. Schnell hatte sie ihre Fassung wieder und erklärte mir einfühlsam, dass alles in Ordnung sei und der Körper für die Rückbildung Zeit benötige. Da saß ich nun und fühlte mich wie das größte Dummerchen auf dieser Welt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl noch öfters haben werde.
Sören kam wie verabredet nach dem Frühstück. Wir sprachen nicht viel, sondern genossen diesen Moment und beteuerten immer wieder, welch ein großes Glück wir in unseren Händen halten. Bevor ich in Gedanken versinken konnte, kam die Hebamme und zeigte mir geduldig, wie ich Milan zum Trinken an die Brust legen musste. Was sich so einfach anhört, entpuppte sich zu einem Schauspiel, bei dem der Hauptakteur seinen Einsatz vergaß. Milan war wenig bis gar nicht daran interessiert. Verzweifelt schaute ich die Hebamme an und spürte die tiefe Traurigkeit des Versagens in mir. Meine Angst, die mich schon während der Schwangerschaft heimsuchte und mich zweifeln ließ, dass ich jemals eine gute Mutter sein werde und der Verantwortung gerecht werden könnte, umhüllte mich wie ein bleiender Mantel. „So, jetzt ist aber mal gut! Das wird schon alles, du musst nur positiv denken! Es war eben nur ein holpriger Start und ab jetzt geht es bergauf!“ Ob ich mich mit diesen Gedanken wirklich beruhigen konnte, bezweifele ich mal sehr stark, doch sie gaben mir wieder Kraft und Mut. Sören legte seinen Arm um mich und ohne dass wir es aussprachen war uns klar, dass wir es gemeinsam schaffen werden. Die Tage im Krankenhaus vergingen. Sören kam wie jeden Morgen in mein Zimmer und fand mich tränenüberschrömt vor. Ich schluchzte und meine aufgequollenen Augen sahen ihn hilfesuchend an. Er stürzte zu mir und fragte was los sei. Statt einer Antwort erhielt er eine Mischung aus Grunzen und unmenschlichen Lauten. „Ist was mit Milan?“ Sören wurde panisch und sah besorgt in das Bettchen, in dem Milan seelenruhig schlief. Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Dann stieß ich gequält „Hommmomen“ aus und Sören schaute mich entgeistert an. „Was soll das heißen?“ Er nahm mich fest in den Arm bis ich wieder in der Lage war zu reden. „Es sind die Hormone, das meinte zu mindestens die Krankenschwester“, stammelte ich und spürte, wie sich die nächste Heulattacke hochrollte. Sichtlich erleichtert streichelte Sören meinen Kopf und so beruhigte ich mich zusehend. „Verdammt, was ist nur aus mir geworden? Wo ist nur die Powerfrau, der nichts zu viel ist? Sobald ich hier raus bin, werde ich mein Leben wieder in die Hand nehmen und mich nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Hormonen die Laune vermiesen. Soweit kommt es noch!“ Und mit diesem Auftrieb verbrachte ich die letzten 2 Tage im Krankenhaus und wir fuhren von dort aus direkt nach Hamburg, unserem neuen Zuhause, in das wir 2 Wochen vor der Entbindung gezogen sind.
Sören holte uns am Freitag ab und wir kümmerten uns das Wochenende gemeinsam um Milan. Alles war fremd, die Wohnung, die Umgebung und vor allem, dass wir Milan jetzt bei uns hatten. Mein Körper schmerzte und sehnte sich nach Ruhe und Schlaf. Als sich Sören am Montagmorgen verabschiedete und Richtung Heidelberg aufbrach, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich schaute Milan beim Schlafen zu und horchte in mich hinein und suchte das Gefühl der Liebe. Diese tiefe Liebe, die ich bei Sören, meiner Familie und meiner besten Freundin fühlte. Ich nahm ein Gefühl wahr, aber es war nicht so stark und überwältigend, wie ich mir Mutterliebe vorstellte. „Liebe ich Milan genug“, schoss es durch meinen Kopf. Alles war so unbekannt und mich umgab ein Dunst von Unsicherheit und Überforderung. „Wunderbar!“ polterte es aus meinem Mund. „Wir machen uns jetzt einen tollen Tag“, sagte ich freudestrahlend zu Milan – und auch zu mir. Milan war jetzt wach und ich drückte ihn fest an mich während eine Träne hat sich ihren Weg entlang meiner Wange gesucht hatte. Einen Moment lang wollte ich es genießen, Milan und ich eng miteinander verbunden. Doch Milan fand das Ganze irgendwie nicht so ergreifend. Wenn ich sein „Bäääähhhhhh“ in der Tonlage und der Lautstärke, in der er es mir entgegen brüllte, waghalsig von Babysprache ins Deutsche übersetzen würde, dann wäre das das Ergebnis: „Jetzt hör mal mit der Gefühlsduselei auf und eröffne endlich die Milchbar! Und falls du es nicht gemerkt hast, es krümelt schon da unten und ich stinke wie ein Berber! Also zack!“ Als ich Milan gestillt und gewickelt hatte, schaute er wieder rundum zufrieden aus. Das war doch der Beweis für eine perfekt funktionierende Kommunikation! Oder hatte der Kleine mich jetzt schon gut im Griff? Quatsch, ich entschied mich für die erste Variante, damit fühlte ich mich selbstbestimmter – und als Meisterin des Schönredens war von mir auch nichts anderes zu erwarten. Eigentlich wollte ich mich zu Milan legen, der jetzt friedlich schlummernd in meinem Bett lag, doch der Schmerz in meinem Unterleib, der mich seit heute früh piesackte, nahm stündlich zu. Gegen Mittag entschied ich mich einen Arzt anzurufen. Wenn etwas nicht läuft, dann wirklich alles nicht. Die Ärztin am Ort hatte Urlaub, der angegebenen Vertretung war der Weg zu mir zu weit und so blieb mir nur einen weiteren Arzt ausfindig zu machen. Ich kannte mich dort nicht aus und war maßlos überfordert. Etliche Telefonate und vielen Tränen später hat sich einer bereiterklärt mich nach seiner Sprechstunde Zuhause aufzusuchen. Nun ja, das Ende vom Lied war, dass Milan und ich am Abend noch in die Klinik mussten. Nach dem Motto: Schlimmer geht immer, wurde unser Start sehr herausfordernd. Die Klinikärztin diagnostizierte eine Gebärmutterentzündung wegen verzögerter Rückbildung der Gebärmutter. Ich weiß nicht, wie es anderen erging. Wenn ich ins Krankenhaus kam, drehte sich ein unsichtbarer Schalter auf „Krank-Sein-Modus“ um und alle vegetativen Systeme fuhren runter. Es fühlte sich ein wenig wie „dahinsiechen“ an. „Frau Doktor, beugen sie sich bitte zu mir, ich kann nicht so laut sprechen“, sprach ich mit kaum hörbarer Stimme und zaghaft hauchte ich ihr ins Ohr:“Wie lange hab ich noch?“. Solch eine Szene hätte perfekt zu meinem Gemütszustand gepasst und mich zur Dramaqueen des Monats gekürt. Applaus, Applaus! Doch wie hätte sowas mit Milan im Schlepptau funktionieren können? Also alles auf Anfang und Szene „Krankenhaus“ die Zweite! Natürlich riss mich zusammen und habe alle Untersuchungen und Therapien brav mitgemacht und mich so gut es ging um Milan gekümmert. Nach 2 Tagen waren wir endlich wieder draußen.
Milan und ich waren viel alleine und konnten unseren Neuanfang gemeinsam angehen. Wenn Milan schlief, schlief ich auch und wenn er wach war, habe ich ihn gestillt, gewickelt, gebadet, und und und. Milan hatte großen Hunger und wurde oft wach. So kam ich im ersten Monat kaum aus meinen Schlafsachen raus und ähnelte eher einem Zombie als einem menschlichen Wesen. Die milchgefüllten Brüste drückten und das „Andocken“ von Milan war jedes Mal eine Tortur, die meine Gesichtszüge entgleiten ließen. Die entspannten Mütter beim Stillen, die in Hochglanz auf den Elternzeitschriften abgebildet waren, wirkten dabei auf mich wie eine erbärmliche Lüge. „Das alles muss sich ändern“, sagt ich zu Milan, der mir mit einem Aufstoßen und einem Schwall Milch zustimmte. Nun stand ich jeden Tag um acht auf, duschte und schminkte mich und suchte mir sorgfältig die Kleidung aus. Immerhin bin ich nicht nur Mama sondern auch Frau und so wollte ich mich auch wieder fühlen. Die erste Hürde, die ich überwinden musste, war der Strahl Milch, der mir nach der Dusche beim Aufheben des Handtuchs aus der Brust spritzte. Mit meiner Milch hätte ich locker eine Kinderklinik satt bekommen können. Pragmatisch und lösungsorientiert, wie wir Mütter nun mal so sind, habe ich mein Duschen immer direkt nach dem Stillen gelegt. So leicht ist das Leben.
Milan entwickelte sich prächtig und das bestätigte auch die Kinderärztin. Wir waren schon ein tolles Team. Das fühlte ich ganz tief in mir. Doch dieser kurze Augenblick der Zufriedenheit hielt leider nicht lange an. Milan bekam heftige Bauchschmerzen und die Ärztin sprach von 3-Monats-Koliken. „Klasse, nicht das auch noch“, durchfuhr es mich. Tage und Nächte schrie Milan immer wieder vor Schmerz und ich legte ihn auf eine kleine Wärmflasche auf meinen Schoß, massierte ihn, gab ihm Fencheltee und versuchte ihn zu beruhigen. Stundenlang lief ich mit ihm auf dem Arm durch die Wohnung und versuchte ihn mit einem Singsang in den Schlaf zu wiegen. Wäre es ein oder zwei Tage so gewesen, hätte ich müde drüber lächeln können. Doch nach Wochen erfuhr ich hier und da massive Grenzerfahrungen. Was mir während der Zeit wirklich geholfen hat, war meine klare Prioritätensetzung. Für mich standen Milan, Sören und ich obenan. Im Haushalt habe ich nur das Nötigste gemacht und für mehr war kein Platz. Meine Familie und Freunde wohnten knapp 200 km von mir entfernt und so mussten wir es alleine schaffen und das haben wir auch. So plötzlich wie es kam, ging es auch wieder und Milan war wieder der Strahlemax, der mir mit seinem zauberhaften Lächeln den Tag versüßte.
Milan entdeckte mehr und mehr sein Umfeld. Seine Augen wurden wacher und an seinem Mobilé, das über seinem Bettchen hing, konnte er sich nicht satt sehen. Was von der harten Zeit übrig geblieben war - er schlief sehr schlecht ein. Wer jetzt glaubt, dass wir mitten in der Nacht mit dem Auto durch den Ort fuhren, weil er so besser einschlief, der hat sich sowas von nicht getäuscht. Ja, wir erfüllten da wirklich jedes Klischee von ratlosen Eltern. Doch wie sagt man immer: alles was hilft hat Berechtigung! Nun ja, nach etlichen nächtlichen Touren haben wir es endlich eingesehen und akzeptiert: unser Sohn braucht wenig Schlaf! So lächerlich es sich auch anhören mag, aber mit dieser neuen Haltung stresste es uns nicht mehr, wenn Milan erst später einschlief. Wir genossen die gewonnene Zeit zu dritt, da Sören oft erst spät abends von der Arbeit kam.
Jeden Tag marschierte ich mit Milan eine kilometerlange Strecke. Der Winter rückte immer näher und so peitschte mir ein eisiger und bissiger Wind entgegen, der sich auf meinen Wangen wie kleine Nadelstiche anfühlte. Der Schlafmangel schwächte meinen Körper und mir war ständig kalt, mal mehr und mal weniger. Milan lag im Kinderwagen, eingemurmelt in einen Winterschlafsack auf einem Lammfell und einer Kuscheldecke. Er schlief und sah dabei so zufrieden aus. Mein Angebot an ihn, die Plätze nur für einen kurzen Moment zu tauschen, ignorierter er mit einem Knaueln auf seinem Schnuller. So verging Tag für Tag und ich war mir mittlerweile sicher, dass das Trainingslager für das Besteigen des Himalayas nicht härter sein konnte. Milan und ich wuchsen zu einem richtig guten Gespann zusammen. Ich kümmerte mich um die Milchbar, das Wickeln und den Spaziergängen und er schenkte mir eins seiner bezaubernden Lächelns, das mein Herz aufgehen ließ. Nach meiner Meinung, hatte ich den besseren Deal gemacht.
Wir kannten in unserer Umgebung niemanden und auch das musste sich schleunigst ändern. Was liegt nicht näher als eine Krabbelgruppe. Über Wochen habe ich mich fast ausschließlich mit Milan unterhalten. Sicher, die Gespräche verliefen sehr einseitig, aber es war ok. Und nun hatte ich eine Horde Mütter vor mir, die über ihre Kinder sprachen, als ob sie Einsteins waren. Welches Kind was schon kann, war wohl ein internes Wettrennen, dessen Spielregel und Sinn mir bis heute unergründlich blieben. Aber Milan hatte sichtlich Spaß mit den anderen Kindern, so dass ich alles andere freundlich lächelnd ertrug.
Mit sanften Vorboten kündigte sich der Frühling an. Die Tage wurden wieder länger und die ersten Frühlingsblumen brachten wieder Farbe ins Leben. Der erste Frühling für Milan, der erste, den wir gemeinsam erlebten. Bei unseren täglichen Touren hörten wir die Zugvögel zurückkehren. Mit wachen Augen verfolgte er die Schwärme am Himmel. Ich weiß nicht mehr genau, was mich damals geritten hatte, aber ich öffnete meinen Mund und trällerte aus vollem Halse:“ Alle Vögel sind noch da, alle Vögel, alle“. Milans Augen weiteten sich, sie wirkten erst verwirrt und dann eher voller Schmerz. Als wenn er von einer Wespe gestochen wurde, schrie er nach Leibeskräften. Sofort hörte ich mit meinem Trällern auf, nahm ihn auf meinen Arm und tröstete ihn. Mir war schlagartig klar, dass er kein Fan von Frühlingsliedern war. Eine Erkenntnis, mit der ich mich, wenn ich Ruhe habe, erst einmal auseinandersetzen musste. Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Wir hatten es wirklich gut miteinander. Morgens um Vier hörten wir den Zeitungsmann, der die Straße entlang fuhr während ich auf dem Sofa saß und Milan stillte. Danach legten wir uns nochmal schlafen und wir wachten immer so gegen halb Neun Uhr auf und begannen gemeinsam den Tag. Einen Rhythmus, an den ich mich schon gewöhnt hatte. Doch dann kam der bis dahin schrecklichste Morgen meines Lebens. Ich machte meine Augen auf und war noch ganz schläfrig. Daher realisierte ich auch echt spät, dass es hell war und so blickte ich auf die Uhr, die eine Zahl anzeigte, die nicht angehen konnte. 9, es war 9 Uhr und nicht 4. „Das kann nicht sein! Milan hätte doch längs Hunger haben müssen“ und dann durchfuhr eine panische Angst meinen Körper. Tränen liefen an meinen Wangen entlang und ich war wie erstarrt. Meine Angst in Milans Kinderbett zu schauen, dass neben mir stand, war so groß, dass ich eine Weile in der Position verharrte. Mein Herz raste und in Bruchteilen von Sekunden schossen die schlimmsten Bilder durch meinen Kopf. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schaute neben mir. Milan atmete gleichmäßig ein und aus und schlief friedlich. Anstatt ihn anzulächeln heulte ich los, die Tränen liefen und liefen. Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich diesen kleinen Fratz so sehr liebte, dass ich ohne ihn nicht sein konnte und auch nicht wollte. Er war die Sonne für mich. Er erhellte mein Leben, brachte mich zum strahlen und erwärmte mein Herz. Gleichermaßen spürte ich aber auch, dass ich auf mich achtgeben musste, damit ich nicht verbrenne und mich verliere. Wie ich das anstellen sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. „Hat noch Zeit“, beruhigte ich mich und schob den Gedanken achtlos zur Seite.
Als Mama gewann ich ungeahnte Fähigkeiten. Einarmig konnte ich ein Essen zubereiten, aufräumen und mich stylen. An einhändig Schuhe zubinden oder Geschenke einpacken, scheiterte ich jedoch kläglich. Milan lag vergnügt in meinem anderen Arm und schaute sich das Geschehen sehr interessiert an. Allerdings verlor ich auch Fähigkeiten. In einem Gespräch neigte ich immer mehr dazu die Sätze nicht zu beenden. „Schatz, am Wochenende kommen Jenny und Martin. Können wir mit ihnen nicht das Dings besuchen und danach vielleicht im..“, und dann war Schweigen und ich widmete mich wieder dem Ausräumen des Geschirrspülers zu. Sören konnte nur erraten: was meinte sie mit Dings? Und wie schaute der Plan nach dem Dingsbesuch aus? „Ich weiß nicht, was du meinst! Du sprichst in Rätseln“, polterte es ungehalten aus ihm heraus. Da ich es aber so gar nicht wahrnahm, wusste ich nicht, was er von mir wollte. In meinen Kopf waren es doch klare und vollständige Sätze. So schmetterte ich ihm verständnislos und erbost entgegen: „Ach man, hör mir doch bitte mal richtig zu, dann wüsstest du das!“ Für mich war es eindeutig, das Problem war auf seiner Seite! Ja ja, das leidige Thema der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Aber das war nicht der einzige Stolperstein in unserer Beziehung. Wir verloren uns aus den Augen und unser Leben drehte sich nur noch um Milan.
Das Abstillen, das stufenweise erfolgen sollte, indem man das Stillen nach und nach durch eine Mahlzeit ersetzt, hat Milan selbstbestimmend in die Hand genommen. Er weigerte sich von einem Moment zum anderen an meiner Brust zu trinken nach dem Motto: „Ich will jetzt nicht mehr, ich bin doch schon groß!“ Tja, da saß ich nun mit meinen prallgefüllten Brüsten und hatte keinen Abnehmer mehr. Auch hier greift das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Ich hätte meine Milch an jeden Dahergelaufenen verschenkt. „Vielleicht sollte ich am Gartenzaun ein Schild aufstellen – täglich frische Muttermilch kostengünstig abzugeben“, kam mir in den Sinn. Vor hundert Jahren hätte ich mir so als Amme ein paar Groschen dazu verdienen können, aber dieses Geschäftsmodell hatte längst ausgedient. Auf so eine Situation war ich nicht vorbereitet und musste erst einmal alle Optionen recherchieren. Mühselig kramte ich alle Hefte und Ratgeber zum Thema Abstillen raus und breitete sie vor mir auf dem Tisch aus. Eins nach dem anderen las ich sorgfältig durch und mir schwante nichts Gutes. Die illustrierten Bilder zeigten den C-Griff, der scheinbar in eingeweihten Kreisen eingängiger Begriff war, mir war er jedoch bis dato völlig unbekannt. So übte ich fleißig das Ausstreichen meiner harten und schmerzhaften Brüste, die ich vorher mit einem feuchtwarmen Handtuch und einer Massage ein wenig gelockert hatte. „Ein halbes Jahr nach der Geburt und ich fühle mich immer noch wie eine Kuh, die gemolken wird, und jetzt melke ich mich sogar schon selbst! Wie tief muss ich als Frau denn noch sinken?“ Der Gedanke frustrierte mich, denn ich war gerade dabei mein Frau-Dasein wieder auf die rechte Spur zu bringen. Mein Gewicht hatte sich – Dank des Stillens – wieder normalisiert und mein Friseurbesuch letzte Woche puschte mein Selbstbewusstsein ordentlich nach oben. „Manno, ich will meinen Körper zurück!“ sagte ich laut zu mir und stampfte dabei bekräftigend auf den Boden. Doch alles Jammern half nichts, das war der Weg. Doch auch dieser Weg hatte Stolpersteine und so saß ich eines Abends mit einer Brustentzündung und in Quark eingehüllten Brüsten auf dem Sofa vor dem Fernseher. Als Sören von der Arbeit nach Hause kam, rief ich aus dem Wohnzimmer: „Schatz, dein Essen ist im Kühlschrank, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen!“ Er schaute um die Ecke und verharrte in seiner Bewegung. „Schick“, meinte er und seine Mundwinkel zuckten wild hin und her. Schnell verschwand er in der Küche und ich hörte ein unterdrücktes Grunzen und Schnauben.
Auf einem unserer ausgedehnten Spaziergänge, die Milan mittlerweile im Buggy sitzend genoss, lernten wir Peggy und Lasse kennen. Peggy war Krankenschwester und arbeitete, wie ihr Mann auch, in Früh- und Spätschichten. Ihr Sohn Lasse war ein halbes Jahr älter als Milan und strahlte mich offen und freundlich an. Wir vier waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten seitdem viel Zeit miteinander. Wir fuhren mit den Kindern viel Fahrrad und besuchten gerne einen nahegelegenen See oder suchten so unsere Lieblings-Eisdiele auf. Zwischen Peggy und mir entwickelte sich eine richtig schöne Freundschaft. Wenn Peggy Frühschicht hatte und ihr Mann Spätschicht, oder umgekehrt, entstand ein Zeitraum, in dem Lasse nicht betreut werden konnte. Kurzerhand war Lasse nunmehr öfters vom späten Vormittag bis zum frühen Nachmittag bei uns. Und wir genossen es sehr. Er war eine Bereicherung und Milan schaute sich vieles von Lasse ab. Die Beiden waren so vergnügt miteinander und jedes Mal wenn Lasse durch die Tür kam, erhellten sich Milan`s Augen und er strahlte übers ganze Gesicht. Jeden Mittag kochte ich für uns und achtete dabei sehr auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Vielleicht habe ich es damals auch ein wenig übertrieben, aber ich wollte alles richtig machen. Die Zutaten hierfür holte ich von einem 10 Kilometer entfernten Biohof. Milan und ich fuhren einmal in der Woche mit dem Fahrrad dorthin und kauften unsere Wochenration an frischem Gemüse und Fleisch ein. Während dieser Tour schlief Milan regelmäßig ein und hing dann wie ein schlaffer Sack in den Gurten seines Kindersitzes. Sein Fahrradhelm verhinderte, dass er den Kopf nach hinten fallen lassen konnte, so dass er leicht nach vorne gebeugt und schräg im Sitz hing. Bequem ist sicher was anderes. Doch was macht man nicht alles für eine richtig gesunde Mahlzeit. Sören und ich hatten nur ein Auto. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich unser Auto benötigte, musste ich Sören zur Arbeit bringen und auch wieder abholen. Das bedeutete, dass ich Milan morgens um 6 Uhr weckte, wickelte und anzog und wir Papa zu seiner Arbeit bringen mussten, die eine Dreiviertelstunde Autofahrt von uns entfernt war. Und am Abend das ganze nochmal. Es ist erstaunlich, was ich alles mit dem Fahrrad erreichen konnte und wie selten ich auf das Auto angewiesen war.
Angetrieben von der Tatsache, dass Lasse an all seine geliebten Spielsachen problemlos rankam, fing Milan recht früh mit dem Laufen an. Es war mitten in der Woche. Ich war am Kochen und beobachtete Milan dabei, wie er sich an einem Stuhl hochzog. Er schaute mich an und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich lächelte zurück und lobte ihn überschwänglich: „das machst du toll mein Schatz, du bist schon so groß!“. Seit ein paar Wochen konnte er das und er war stolz wie Oscar. Bevor ich mich aber wieder den brodelnden und dampfenden Kochtöpfen zuwenden konnte, ließ Milan das Stuhlbein los und wankte unsicher von einem Fuß auf den anderen. Ich blieb für Sekunden erstarrt stehen und traute meinen Augen nicht. Dann begriff ich, was da gerade passiert war und schnellte in Windeseile um die Küchenzeile herum und hockte mich mit ausgestreckten Armen vor ihm. Milan`s Augen waren weit aufgerissen und seine Mundwinkel wussten nicht genau, was sie machen sollten. Es wechselte sich ein bizarres Grinsen mit einem „O“ geformten Mund munter ab. Mit dem dritten Schritt ließ sich Milan glücklich in meine Arme fallen. Vor lauter Aufregung vergaß ich zu atmen und merkte es erst als Milan in meinen Armen lag. Ein tiefer Atemzug füllte meine stolze Mamabrust und ich drückte Milan ganz fest an mich. Kleine Tränen ließen meine Sicht verschwimmen und liefen heiß die Wange herunter. „Oh krass, du kannst laufen“. Milan strahlte mich an als ob er es verstand. Sicher, er hatte nicht das Navi erfunden oder mit der Entwicklung der Cloud das Internet revolutionierte, jedoch war es eines dieser Ereignisse im Leben, welches ich nie vergessen werde. Mir tat Sören in diesem Moment so unendlich leid, der auf Arbeit war und es verpasst hatte. Als er nach Hause kam, lief ich ihm entgegen und erzählte alles haarklein, ohne Punkt und Komma. Mein Kopf lief rot an und es sprudelte nur so aus meinem Mund. So ein Mist, ich hatte das Atmen mal wieder vergessen. Sören war aus dem Häuschen und versuchte Milan zu motivieren es zu wiederholen. Da es aber schon recht spät war, fand Milan die Idee nicht so klasse und kuschelte sich lieber in meinem Schoß.
Das Leben mit Milan hat mich verändert. Was mir vorher wichtig war ist jetzt ohne Bedeutung und meine Ansichten zu einigen Themen sind divergent. So ein kleines Würmchen dreht alles mal auf Links. Aber dieses Abenteuer lohnte sich und machte mein Leben heller aber auch zugegeben anstrengender.
Den erste Schritt im Leben war Milan gegangen und es werden noch unzählige weitere folgen. "Was wird wohl mal aus ihm werden?", dachte ich und der Wunsch nach einer Glaskugel machte sich in mir breit.
Milan ist heute fast dreißig Jahre alt und glaubt mir, nie, wirklich nie im Leben hätte ich seine Entwicklung erahnen können.
 

SThiel

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„Wow, hat der aber große Füße“. Das waren die Worte des Arztes, der Milan mit einem Kaiserschnitt entbunden hatte. Ein grünes Tuch versperrte mir den Blick und wegen der Peridualanästhesie spürte ich nur einen Ruck im Körper. "Konnte mein Entengang, den ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte, Einfluss auf die Größe seiner Füße haben?" Aber diesen Gedanken schob ich gleich zur Seite, als mir die Krankenschwester Milan auf meine Brust legte. Was für ein durchgeknallter Arzt, Milan war das süßeste und wohlproportionierte Baby aller Zeiten. Die objektive Meinung einer Mama, die im Leben noch nie so kleine Füße gesehen hatte.
Es war schon weit nach Mitternacht als ich erschöpft in meinem Zimmer einschlief. Anders als erwartet war die Nacht traumlos und ruhig. Am nächsten Morgen brachte mir die Krankenschwester Milan. Er schlief und wirkte so zufrieden. Es war ein Wunder, dass dieser kleine Wurm gestern noch in meinem Bauch war und nun in meinem Arm lag. In mir breitete sich eine große Ehrfurcht vor Mutter Natur aus. Es überwältigte mich und lies mich für einen Moment den Atem anhalten. „Krass“, entsprang aus meinem Mund und ich verharrte einige Minuten und starrte Milan dabei unentwegt an. Langsam schweifte mein Blick von Milan zu meinem Bauch. Mein Shirt spannte dort, wo Milan gestern noch drin war. Wie war das möglich? Habe ich Zwillinge und die Ärzte haben das andere Kind nicht entdeckt? Ich zwang mich zur Ruhe. „Jetzt überleg mal ganz rational“, ermahnte ich mich selber. „Der Bauch ist sooo groß! Von wegen rational, das ist nicht normal!“ Meine Gedanken galoppierten und ließen sich nicht mehr stoppen. Jedes Szenario, das sie mir aufzeigten. war schlimmer als das vorherige. Mein Herz schlug schneller und ich spürte, dass mein Mund trocken wurde. Ohne weiter nachzudenken klingelte ich nach der Krankenschwester. Einen kurzen Moment später öffnete sich die Tür und eine schlanke Brünette mit schulterlangem Haar lächelte mich an. Ihr auberginefarbener Kittel lag nicht eng an, doch er ließ darunter auf einen gut durchtrainierten Körper schließen. Die schmerzhafte Sehnsucht nach meinem früheren Körper versuchte sich einzuschleichen. Ich schob sie beiseite und noch bevor mein Gegenüber sich vorstellen konnte, platzte ich mit meiner unglaublichen Entdeckung heraus. Dabei blickte ich abwechselnd von Milan zu meinem übergroßen Bauch. „Warum steht sie noch da und holt nicht den Arzt?“ schoss es durch meinen Kopf. Wenn die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre, hätte ich das leichte Zucken um ihren Mund als Schmunzeln deuten können. Was für eine absurde Interpretation. Sie hatte als professionelle Fachkraft mit Sicherheit den Ernst der Lage sofort erkannt und war jetzt nur in einer Art Schockstarre. Was dann folgte, reihte sich in meine persönliche Top 10 der peinlichsten Momente ein. Sie versuchte nach Leibeskräften ihr Schmunzeln nicht zu einem Grinsen oder gar Lachen mutieren zu lassen. Doch es gelang ihr nicht. Schnell hatte sie ihre Fassung wieder und erklärte mir einfühlsam, dass alles in Ordnung sei und der Körper für die Rückbildung Zeit benötige. Da saß ich nun und fühlte mich wie das größte Dummerchen auf dieser Welt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl noch öfters haben werde.
Sören kam wie verabredet nach dem Frühstück. Wir sprachen nicht viel, sondern genossen diesen Moment und beteuerten immer wieder, welch ein großes Glück wir in unseren Händen halten. Bevor ich in Gedanken versinken konnte, kam die Hebamme und zeigte mir geduldig, wie ich Milan zum Trinken an die Brust legen musste. Was sich so einfach anhört, entpuppte sich zu einem Schauspiel, bei dem der Hauptakteur seinen Einsatz vergaß. Milan war wenig bis gar nicht daran interessiert. Verzweifelt schaute ich die Hebamme an und spürte die tiefe Traurigkeit des Versagens in mir. Meine Angst, die mich schon während der Schwangerschaft heimsuchte und mich zweifeln ließ, dass ich jemals eine gute Mutter sein werde und der Verantwortung gerecht werden könnte, umhüllte mich wie ein bleiender Mantel. „So, jetzt ist aber mal gut! Das wird schon alles, du musst nur positiv denken! Es war eben nur ein holpriger Start und ab jetzt geht es bergauf!“ Ob ich mich mit diesen Gedanken wirklich beruhigen konnte, bezweifele ich mal sehr stark, doch sie gaben mir wieder Kraft und Mut. Sören legte seinen Arm um mich und ohne dass wir es aussprachen war uns klar, dass wir es gemeinsam schaffen werden. Die Tage im Krankenhaus vergingen. Sören kam wie jeden Morgen in mein Zimmer und fand mich tränenüberschrömt vor. Ich schluchzte und meine aufgequollenen Augen sahen ihn hilfesuchend an. Er stürzte zu mir und fragte was los sei. Statt einer Antwort erhielt er eine Mischung aus Grunzen und unmenschlichen Lauten. „Ist was mit Milan?“ Sören wurde panisch und sah besorgt in das Bettchen, in dem Milan seelenruhig schlief. Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Dann stieß ich gequält „Hommmomen“ aus und Sören schaute mich entgeistert an. „Was soll das heißen?“ Er nahm mich fest in den Arm bis ich wieder in der Lage war zu reden. „Es sind die Hormone, das meinte zu mindestens die Krankenschwester“, stammelte ich und spürte, wie sich die nächste Heulattacke hochrollte. Sichtlich erleichtert streichelte Sören meinen Kopf und so beruhigte ich mich zusehend. „Verdammt, was ist nur aus mir geworden? Wo ist nur die Powerfrau, der nichts zu viel ist? Sobald ich hier raus bin, werde ich mein Leben wieder in die Hand nehmen und mich nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Hormonen die Laune vermiesen. Soweit kommt es noch!“ Und mit diesem Auftrieb verbrachte ich die letzten 2 Tage im Krankenhaus und wir fuhren von dort aus direkt nach Hamburg, unserem neuen Zuhause, in das wir 2 Wochen vor der Entbindung gezogen sind.
Sören holte uns am Freitag ab und wir kümmerten uns das Wochenende gemeinsam um Milan. Alles war fremd, die Wohnung, die Umgebung und vor allem, dass wir Milan jetzt bei uns hatten. Mein Körper schmerzte und sehnte sich nach Ruhe und Schlaf. Als sich Sören am Montagmorgen verabschiedete und Richtung Heidelberg aufbrach, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich schaute Milan beim Schlafen zu und horchte in mich hinein und suchte das Gefühl der Liebe. Diese tiefe Liebe, die ich bei Sören, meiner Familie und meiner besten Freundin fühlte. Ich nahm ein Gefühl wahr, aber es war nicht so stark und überwältigend, wie ich mir Mutterliebe vorstellte. „Liebe ich Milan genug“, schoss es durch meinen Kopf. Alles war so unbekannt und mich umgab ein Dunst von Unsicherheit und Überforderung. „Wunderbar!“ polterte es aus meinem Mund. „Wir machen uns jetzt einen tollen Tag“, sagte ich freudestrahlend zu Milan – und auch zu mir. Milan war jetzt wach und ich drückte ihn fest an mich während eine Träne hat sich ihren Weg entlang meiner Wange gesucht hatte. Einen Moment lang wollte ich es genießen, Milan und ich eng miteinander verbunden. Doch Milan fand das Ganze irgendwie nicht so ergreifend. Wenn ich sein „Bäääähhhhhh“ in der Tonlage und der Lautstärke, in der er es mir entgegen brüllte, waghalsig von Babysprache ins Deutsche übersetzen würde, dann wäre das das Ergebnis: „Jetzt hör mal mit der Gefühlsduselei auf und eröffne endlich die Milchbar! Und falls du es nicht gemerkt hast, es krümelt schon da unten und ich stinke wie ein Berber! Also zack!“ Als ich Milan gestillt und gewickelt hatte, schaute er wieder rundum zufrieden aus. Das war doch der Beweis für eine perfekt funktionierende Kommunikation! Oder hatte der Kleine mich jetzt schon gut im Griff? Quatsch, ich entschied mich für die erste Variante, damit fühlte ich mich selbstbestimmter – und als Meisterin des Schönredens war von mir auch nichts anderes zu erwarten. Eigentlich wollte ich mich zu Milan legen, der jetzt friedlich schlummernd in meinem Bett lag, doch der Schmerz in meinem Unterleib, der mich seit heute früh piesackte, nahm stündlich zu. Gegen Mittag entschied ich mich einen Arzt anzurufen. Wenn etwas nicht läuft, dann wirklich alles nicht. Die Ärztin am Ort hatte Urlaub, der angegebenen Vertretung war der Weg zu mir zu weit und so blieb mir nur einen weiteren Arzt ausfindig zu machen. Ich kannte mich dort nicht aus und war maßlos überfordert. Etliche Telefonate und vielen Tränen später hat sich einer bereiterklärt mich nach seiner Sprechstunde Zuhause aufzusuchen. Nun ja, das Ende vom Lied war, dass Milan und ich am Abend noch in die Klinik mussten. Nach dem Motto: Schlimmer geht immer, wurde unser Start sehr herausfordernd. Die Klinikärztin diagnostizierte eine Gebärmutterentzündung wegen verzögerter Rückbildung der Gebärmutter. Ich weiß nicht, wie es anderen erging. Wenn ich ins Krankenhaus kam, drehte sich ein unsichtbarer Schalter auf „Krank-Sein-Modus“ um und alle vegetativen Systeme fuhren runter. Es fühlte sich ein wenig wie „dahinsiechen“ an. „Frau Doktor, beugen sie sich bitte zu mir, ich kann nicht so laut sprechen“, sprach ich mit kaum hörbarer Stimme und zaghaft hauchte ich ihr ins Ohr:“Wie lange hab ich noch?“. Solch eine Szene hätte perfekt zu meinem Gemütszustand gepasst und mich zur Dramaqueen des Monats gekürt. Applaus, Applaus! Doch wie hätte sowas mit Milan im Schlepptau funktionieren können? Also alles auf Anfang und Szene „Krankenhaus“ die Zweite! Natürlich riss mich zusammen und habe alle Untersuchungen und Therapien brav mitgemacht und mich so gut es ging um Milan gekümmert. Nach 2 Tagen waren wir endlich wieder draußen.
Milan und ich waren viel alleine und konnten unseren Neuanfang gemeinsam angehen. Wenn Milan schlief, schlief ich auch und wenn er wach war, habe ich ihn gestillt, gewickelt, gebadet, und und und. Milan hatte großen Hunger und wurde oft wach. So kam ich im ersten Monat kaum aus meinen Schlafsachen raus und ähnelte eher einem Zombie als einem menschlichen Wesen. Die milchgefüllten Brüste drückten und das „Andocken“ von Milan war jedes Mal eine Tortur, die meine Gesichtszüge entgleiten ließen. Die entspannten Mütter beim Stillen, die in Hochglanz auf den Elternzeitschriften abgebildet waren, wirkten dabei auf mich wie eine erbärmliche Lüge. „Das alles muss sich ändern“, sagt ich zu Milan, der mir mit einem Aufstoßen und einem Schwall Milch zustimmte. Nun stand ich jeden Tag um acht auf, duschte und schminkte mich und suchte mir sorgfältig die Kleidung aus. Immerhin bin ich nicht nur Mama sondern auch Frau und so wollte ich mich auch wieder fühlen. Die erste Hürde, die ich überwinden musste, war der Strahl Milch, der mir nach der Dusche beim Aufheben des Handtuchs aus der Brust spritzte. Mit meiner Milch hätte ich locker eine Kinderklinik satt bekommen können. Pragmatisch und lösungsorientiert, wie wir Mütter nun mal so sind, habe ich mein Duschen immer direkt nach dem Stillen gelegt. So leicht ist das Leben.
Milan entwickelte sich prächtig und das bestätigte auch die Kinderärztin. Wir waren schon ein tolles Team. Das fühlte ich ganz tief in mir. Doch dieser kurze Augenblick der Zufriedenheit hielt leider nicht lange an. Milan bekam heftige Bauchschmerzen und die Ärztin sprach von 3-Monats-Koliken. „Klasse, nicht das auch noch“, durchfuhr es mich. Tage und Nächte schrie Milan immer wieder vor Schmerz und ich legte ihn auf eine kleine Wärmflasche auf meinen Schoß, massierte ihn, gab ihm Fencheltee und versuchte ihn zu beruhigen. Stundenlang lief ich mit ihm auf dem Arm durch die Wohnung und versuchte ihn mit einem Singsang in den Schlaf zu wiegen. Wäre es ein oder zwei Tage so gewesen, hätte ich müde drüber lächeln können. Doch nach Wochen erfuhr ich hier und da massive Grenzerfahrungen. Was mir während der Zeit wirklich geholfen hat, war meine klare Prioritätensetzung. Für mich standen Milan, Sören und ich obenan. Im Haushalt habe ich nur das Nötigste gemacht und für mehr war kein Platz. Meine Familie und Freunde wohnten knapp 200 km von mir entfernt und so mussten wir es alleine schaffen und das haben wir auch. So plötzlich wie es kam, ging es auch wieder und Milan war wieder der Strahlemax, der mir mit seinem zauberhaften Lächeln den Tag versüßte.
Milan entdeckte mehr und mehr sein Umfeld. Seine Augen wurden wacher und an seinem Mobilé, das über seinem Bettchen hing, konnte er sich nicht satt sehen. Was von der harten Zeit übrig geblieben war - er schlief sehr schlecht ein. Wer jetzt glaubt, dass wir mitten in der Nacht mit dem Auto durch den Ort fuhren, weil er so besser einschlief, der hat sich sowas von nicht getäuscht. Ja, wir erfüllten da wirklich jedes Klischee von ratlosen Eltern. Doch wie sagt man immer: alles was hilft hat Berechtigung! Nun ja, nach etlichen nächtlichen Touren haben wir es endlich eingesehen und akzeptiert: unser Sohn braucht wenig Schlaf! So lächerlich es sich auch anhören mag, aber mit dieser neuen Haltung stresste es uns nicht mehr, wenn Milan erst später einschlief. Wir genossen die gewonnene Zeit zu dritt, da Sören oft erst spät abends von der Arbeit kam.
Jeden Tag marschierte ich mit Milan eine kilometerlange Strecke. Der Winter rückte immer näher und so peitschte mir ein eisiger und bissiger Wind entgegen, der sich auf meinen Wangen wie kleine Nadelstiche anfühlte. Der Schlafmangel schwächte meinen Körper und mir war ständig kalt, mal mehr und mal weniger. Milan lag im Kinderwagen, eingemurmelt in einen Winterschlafsack auf einem Lammfell und einer Kuscheldecke. Er schlief und sah dabei so zufrieden aus. Mein Angebot an ihn, die Plätze nur für einen kurzen Moment zu tauschen, ignorierter er mit einem Knaueln auf seinem Schnuller. So verging Tag für Tag und ich war mir mittlerweile sicher, dass das Trainingslager für das Besteigen des Himalayas nicht härter sein konnte. Milan und ich wuchsen zu einem richtig guten Gespann zusammen. Ich kümmerte mich um die Milchbar, das Wickeln und den Spaziergängen und er schenkte mir eins seiner bezaubernden Lächelns, das mein Herz aufgehen ließ. Nach meiner Meinung, hatte ich den besseren Deal gemacht.
Wir kannten in unserer Umgebung niemanden und auch das musste sich schleunigst ändern. Was liegt nicht näher als eine Krabbelgruppe. Über Wochen habe ich mich fast ausschließlich mit Milan unterhalten. Sicher, die Gespräche verliefen sehr einseitig, aber es war ok. Und nun hatte ich eine Horde Mütter vor mir, die über ihre Kinder sprachen, als ob sie Einsteins waren. Welches Kind was schon kann, war wohl ein internes Wettrennen, dessen Spielregel und Sinn mir bis heute unergründlich blieben. Aber Milan hatte sichtlich Spaß mit den anderen Kindern, so dass ich alles andere freundlich lächelnd ertrug.
Mit sanften Vorboten kündigte sich der Frühling an. Die Tage wurden wieder länger und die ersten Frühlingsblumen brachten wieder Farbe ins Leben. Der erste Frühling für Milan, der erste, den wir gemeinsam erlebten. Bei unseren täglichen Touren hörten wir die Zugvögel zurückkehren. Mit wachen Augen verfolgte er die Schwärme am Himmel. Ich weiß nicht mehr genau, was mich damals geritten hatte, aber ich öffnete meinen Mund und trällerte aus vollem Halse:“ Alle Vögel sind noch da, alle Vögel, alle“. Milans Augen weiteten sich, sie wirkten erst verwirrt und dann eher voller Schmerz. Als wenn er von einer Wespe gestochen wurde, schrie er nach Leibeskräften. Sofort hörte ich mit meinem Trällern auf, nahm ihn auf meinen Arm und tröstete ihn. Mir war schlagartig klar, dass er kein Fan von Frühlingsliedern war. Eine Erkenntnis, mit der ich mich, wenn ich Ruhe habe, erst einmal auseinandersetzen musste. Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Wir hatten es wirklich gut miteinander. Morgens um Vier hörten wir den Zeitungsmann, der die Straße entlang fuhr während ich auf dem Sofa saß und Milan stillte. Danach legten wir uns nochmal schlafen und wir wachten immer so gegen halb Neun Uhr auf und begannen gemeinsam den Tag. Einen Rhythmus, an den ich mich schon gewöhnt hatte. Doch dann kam der bis dahin schrecklichste Morgen meines Lebens. Ich machte meine Augen auf und war noch ganz schläfrig. Daher realisierte ich auch echt spät, dass es hell war und so blickte ich auf die Uhr, die eine Zahl anzeigte, die nicht angehen konnte. 9, es war 9 Uhr und nicht 4. „Das kann nicht sein! Milan hätte doch längs Hunger haben müssen“ und dann durchfuhr eine panische Angst meinen Körper. Tränen liefen an meinen Wangen entlang und ich war wie erstarrt. Meine Angst in Milans Kinderbett zu schauen, dass neben mir stand, war so groß, dass ich eine Weile in der Position verharrte. Mein Herz raste und in Bruchteilen von Sekunden schossen die schlimmsten Bilder durch meinen Kopf. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schaute neben mir. Milan atmete gleichmäßig ein und aus und schlief friedlich. Anstatt ihn anzulächeln heulte ich los, die Tränen liefen und liefen. Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich diesen kleinen Fratz so sehr liebte, dass ich ohne ihn nicht sein konnte und auch nicht wollte. Er war die Sonne für mich. Er erhellte mein Leben, brachte mich zum strahlen und erwärmte mein Herz. Gleichermaßen spürte ich aber auch, dass ich auf mich achtgeben musste, damit ich nicht verbrenne und mich verliere. Wie ich das anstellen sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. „Hat noch Zeit“, beruhigte ich mich und schob den Gedanken achtlos zur Seite.
Als Mama gewann ich ungeahnte Fähigkeiten. Einarmig konnte ich ein Essen zubereiten, aufräumen und mich stylen. An einhändig Schuhe zubinden oder Geschenke einpacken, scheiterte ich jedoch kläglich. Milan lag vergnügt in meinem anderen Arm und schaute sich das Geschehen sehr interessiert an. Allerdings verlor ich auch Fähigkeiten. In einem Gespräch neigte ich immer mehr dazu die Sätze nicht zu beenden. „Schatz, am Wochenende kommen Jenny und Martin. Können wir mit ihnen nicht das Dings besuchen und danach vielleicht im..“, und dann war Schweigen und ich widmete mich wieder dem Ausräumen des Geschirrspülers zu. Sören konnte nur erraten: was meinte sie mit Dings? Und wie schaute der Plan nach dem Dingsbesuch aus? „Ich weiß nicht, was du meinst! Du sprichst in Rätseln“, polterte es ungehalten aus ihm heraus. Da ich es aber so gar nicht wahrnahm, wusste ich nicht, was er von mir wollte. In meinen Kopf waren es doch klare und vollständige Sätze. So schmetterte ich ihm verständnislos und erbost entgegen: „Ach man, hör mir doch bitte mal richtig zu, dann wüsstest du das!“ Für mich war es eindeutig, das Problem war auf seiner Seite! Ja ja, das leidige Thema der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Aber das war nicht der einzige Stolperstein in unserer Beziehung. Wir verloren uns aus den Augen und unser Leben drehte sich nur noch um Milan.
Das Abstillen, das stufenweise erfolgen sollte, indem man das Stillen nach und nach durch eine Mahlzeit ersetzt, hat Milan selbstbestimmend in die Hand genommen. Er weigerte sich von einem Moment zum anderen an meiner Brust zu trinken nach dem Motto: „Ich will jetzt nicht mehr, ich bin doch schon groß!“ Tja, da saß ich nun mit meinen prallgefüllten Brüsten und hatte keinen Abnehmer mehr. Auch hier greift das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Ich hätte meine Milch an jeden Dahergelaufenen verschenkt. „Vielleicht sollte ich am Gartenzaun ein Schild aufstellen – täglich frische Muttermilch kostengünstig abzugeben“, kam mir in den Sinn. Vor hundert Jahren hätte ich mir so als Amme ein paar Groschen dazu verdienen können, aber dieses Geschäftsmodell hatte längst ausgedient. Auf so eine Situation war ich nicht vorbereitet und musste erst einmal alle Optionen recherchieren. Mühselig kramte ich alle Hefte und Ratgeber zum Thema Abstillen raus und breitete sie vor mir auf dem Tisch aus. Eins nach dem anderen las ich sorgfältig durch und mir schwante nichts Gutes. Die illustrierten Bilder zeigten den C-Griff, der scheinbar in eingeweihten Kreisen eingängiger Begriff war, mir war er jedoch bis dato völlig unbekannt. So übte ich fleißig das Ausstreichen meiner harten und schmerzhaften Brüste, die ich vorher mit einem feuchtwarmen Handtuch und einer Massage ein wenig gelockert hatte. „Ein halbes Jahr nach der Geburt und ich fühle mich immer noch wie eine Kuh, die gemolken wird, und jetzt melke ich mich sogar schon selbst! Wie tief muss ich als Frau denn noch sinken?“ Der Gedanke frustrierte mich, denn ich war gerade dabei mein Frau-Dasein wieder auf die rechte Spur zu bringen. Mein Gewicht hatte sich – Dank des Stillens – wieder normalisiert und mein Friseurbesuch letzte Woche puschte mein Selbstbewusstsein ordentlich nach oben. „Manno, ich will meinen Körper zurück!“ sagte ich laut zu mir und stampfte dabei bekräftigend auf den Boden. Doch alles Jammern half nichts, das war der Weg. Doch auch dieser Weg hatte Stolpersteine und so saß ich eines Abends mit einer Brustentzündung und in Quark eingehüllten Brüsten auf dem Sofa vor dem Fernseher. Als Sören von der Arbeit nach Hause kam, rief ich aus dem Wohnzimmer: „Schatz, dein Essen ist im Kühlschrank, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen!“ Er schaute um die Ecke und verharrte in seiner Bewegung. „Schick“, meinte er und seine Mundwinkel zuckten wild hin und her. Schnell verschwand er in der Küche und ich hörte ein unterdrücktes Grunzen und Schnauben.
Auf einem unserer ausgedehnten Spaziergänge, die Milan mittlerweile im Buggy sitzend genoss, lernten wir Peggy und Lasse kennen. Peggy war Krankenschwester und arbeitete, wie ihr Mann auch, in Früh- und Spätschichten. Ihr Sohn Lasse war ein halbes Jahr älter als Milan und strahlte mich offen und freundlich an. Wir vier waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten seitdem viel Zeit miteinander. Wir fuhren mit den Kindern viel Fahrrad und besuchten gerne einen nahegelegenen See oder suchten so unsere Lieblings-Eisdiele auf. Zwischen Peggy und mir entwickelte sich eine richtig schöne Freundschaft. Wenn Peggy Frühschicht hatte und ihr Mann Spätschicht, oder umgekehrt, entstand ein Zeitraum, in dem Lasse nicht betreut werden konnte. Kurzerhand war Lasse nunmehr öfters vom späten Vormittag bis zum frühen Nachmittag bei uns. Und wir genossen es sehr. Er war eine Bereicherung und Milan schaute sich vieles von Lasse ab. Die Beiden waren so vergnügt miteinander und jedes Mal wenn Lasse durch die Tür kam, erhellten sich Milan`s Augen und er strahlte übers ganze Gesicht. Jeden Mittag kochte ich für uns und achtete dabei sehr auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Vielleicht habe ich es damals auch ein wenig übertrieben, aber ich wollte alles richtig machen. Die Zutaten hierfür holte ich von einem 10 Kilometer entfernten Biohof. Milan und ich fuhren einmal in der Woche mit dem Fahrrad dorthin und kauften unsere Wochenration an frischem Gemüse und Fleisch ein. Während dieser Tour schlief Milan regelmäßig ein und hing dann wie ein schlaffer Sack in den Gurten seines Kindersitzes. Sein Fahrradhelm verhinderte, dass er den Kopf nach hinten fallen lassen konnte, so dass er leicht nach vorne gebeugt und schräg im Sitz hing. Bequem ist sicher was anderes. Doch was macht man nicht alles für eine richtig gesunde Mahlzeit. Sören und ich hatten nur ein Auto. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich unser Auto benötigte, musste ich Sören zur Arbeit bringen und auch wieder abholen. Das bedeutete, dass ich Milan morgens um 6 Uhr weckte, wickelte und anzog und wir Papa zu seiner Arbeit bringen mussten, die eine Dreiviertelstunde Autofahrt von uns entfernt war. Und am Abend das ganze nochmal. Es ist erstaunlich, was ich alles mit dem Fahrrad erreichen konnte und wie selten ich auf das Auto angewiesen war.
Angetrieben von der Tatsache, dass Lasse an all seine geliebten Spielsachen problemlos rankam, fing Milan recht früh mit dem Laufen an. Es war mitten in der Woche. Ich war am Kochen und beobachtete Milan dabei, wie er sich an einem Stuhl hochzog. Er schaute mich an und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich lächelte zurück und lobte ihn überschwänglich: „das machst du toll mein Schatz, du bist schon so groß!“. Seit ein paar Wochen konnte er das und er war stolz wie Oscar. Bevor ich mich aber wieder den brodelnden und dampfenden Kochtöpfen zuwenden konnte, ließ Milan das Stuhlbein los und wankte unsicher von einem Fuß auf den anderen. Ich blieb für Sekunden erstarrt stehen und traute meinen Augen nicht. Dann begriff ich, was da gerade passiert war und schnellte in Windeseile um die Küchenzeile herum und hockte mich mit ausgestreckten Armen vor ihm. Milan`s Augen waren weit aufgerissen und seine Mundwinkel wussten nicht genau, was sie machen sollten. Es wechselte sich ein bizarres Grinsen mit einem „O“ geformten Mund munter ab. Mit dem dritten Schritt ließ sich Milan glücklich in meine Arme fallen. Vor lauter Aufregung vergaß ich zu atmen und merkte es erst als Milan in meinen Armen lag. Ein tiefer Atemzug füllte meine stolze Mamabrust und ich drückte Milan ganz fest an mich. Kleine Tränen ließen meine Sicht verschwimmen und liefen heiß die Wange herunter. „Oh krass, du kannst laufen“. Milan strahlte mich an als ob er es verstand. Sicher, er hatte nicht das Navi erfunden oder mit der Entwicklung der Cloud das Internet revolutionierte, jedoch war es eines dieser Ereignisse im Leben, welches ich nie vergessen werde. Mir tat Sören in diesem Moment so unendlich leid, der auf Arbeit war und es verpasst hatte. Als er nach Hause kam, lief ich ihm entgegen und erzählte alles haarklein, ohne Punkt und Komma. Mein Kopf lief rot an und es sprudelte nur so aus meinem Mund. So ein Mist, ich hatte das Atmen mal wieder vergessen. Sören war aus dem Häuschen und versuchte Milan zu motivieren es zu wiederholen. Da es aber schon recht spät war, fand Milan die Idee nicht so klasse und kuschelte sich lieber in meinem Schoß.
Das Leben mit Milan hat mich verändert. Was mir vorher wichtig war ist jetzt ohne Bedeutung und meine Ansichten zu einigen Themen sind divergent. So ein kleines Würmchen dreht alles mal auf Links. Aber dieses Abenteuer lohnte sich und machte mein Leben heller aber auch zugegeben anstrengender.
Den erste Schritt im Leben war Milan gegangen und es werden noch unzählige weitere folgen. "Was wird wohl mal aus ihm werden?", dachte ich und der Wunsch nach einer Glaskugel machte sich in mir breit.
Milan ist heute fast dreißig Jahre alt und glaubt mir, nie, wirklich nie im Leben hätte ich seine Entwicklung erahnen können.
 

SThiel

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„Wow, hat der aber große Füße“. Das waren die Worte des Arztes, der Milan mit einem Kaiserschnitt entbunden hatte. Ein grünes Tuch versperrte mir den Blick und wegen der Peridualanästhesie spürte ich nur einen Ruck im Körper. "Konnte mein Entengang, den ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte, Einfluss auf die Größe seiner Füße haben?" Aber diesen Gedanken schob ich gleich zur Seite, als mir die Krankenschwester Milan auf meine Brust legte. Was für ein durchgeknallter Arzt, Milan war das süßeste und wohlproportionierte Baby aller Zeiten. Die objektive Meinung einer Mama, die im Leben noch nie so kleine Füße gesehen hatte.
Es war schon weit nach Mitternacht als ich erschöpft in meinem Zimmer einschlief. Anders als erwartet war die Nacht traumlos und ruhig. Am nächsten Morgen brachte mir die Krankenschwester Milan. Er schlief und wirkte so zufrieden. Es war ein Wunder, dass dieser kleine Wurm gestern noch in meinem Bauch war und nun in meinem Arm lag. In mir breitete sich eine große Ehrfurcht vor Mutter Natur aus. Es überwältigte mich und lies mich für einen Moment den Atem anhalten. „Krass“, entsprang aus meinem Mund und ich verharrte einige Minuten und starrte Milan dabei unentwegt an. Langsam schweifte mein Blick von Milan zu meinem Bauch. Mein Shirt spannte dort, wo Milan gestern noch drin war. Wie war das möglich? Habe ich Zwillinge und die Ärzte haben das andere Kind nicht entdeckt? Ich zwang mich zur Ruhe. „Jetzt überleg mal ganz rational“, ermahnte ich mich selber. „Der Bauch ist sooo groß! Von wegen rational, das ist nicht normal!“ Meine Gedanken galoppierten und ließen sich nicht mehr stoppen. Jedes Szenario, das sie mir aufzeigten. war schlimmer als das vorherige. Mein Herz schlug schneller und ich spürte, dass mein Mund trocken wurde. Ohne weiter nachzudenken klingelte ich nach der Krankenschwester. Einen kurzen Moment später öffnete sich die Tür und eine schlanke Brünette mit schulterlangem Haar lächelte mich an. Ihr auberginefarbener Kittel lag nicht eng an, doch er ließ darunter auf einen gut durchtrainierten Körper schließen. Die schmerzhafte Sehnsucht nach meinem früheren Körper versuchte sich einzuschleichen. Ich schob sie beiseite und noch bevor mein Gegenüber sich vorstellen konnte, platzte ich mit meiner unglaublichen Entdeckung heraus. Dabei blickte ich abwechselnd von Milan zu meinem übergroßen Bauch. „Warum steht sie noch da und holt nicht den Arzt?“ schoss es durch meinen Kopf. Wenn die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre, hätte ich das leichte Zucken um ihren Mund als Schmunzeln deuten können. Was für eine absurde Interpretation. Sie hatte als professionelle Fachkraft mit Sicherheit den Ernst der Lage sofort erkannt und war jetzt nur in einer Art Schockstarre. Was dann folgte, reihte sich in meine persönliche Top 10 der peinlichsten Momente ein. Sie versuchte nach Leibeskräften ihr Schmunzeln nicht zu einem Grinsen oder gar Lachen mutieren zu lassen. Doch es gelang ihr nicht. Schnell hatte sie ihre Fassung wieder und erklärte mir einfühlsam, dass alles in Ordnung sei und der Körper für die Rückbildung Zeit benötige. Da saß ich nun und fühlte mich wie das größte Dummerchen auf dieser Welt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl noch öfters haben werde.
Sören kam wie verabredet nach dem Frühstück. Wir sprachen nicht viel, sondern genossen diesen Moment und beteuerten immer wieder, welch ein großes Glück wir in unseren Händen halten. Bevor ich in Gedanken versinken konnte, kam die Hebamme und zeigte mir geduldig, wie ich Milan zum Trinken an die Brust legen musste. Was sich so einfach anhört, entpuppte sich zu einem Schauspiel, bei dem der Hauptakteur seinen Einsatz vergaß. Milan war wenig bis gar nicht daran interessiert. Verzweifelt schaute ich die Hebamme an und spürte die tiefe Traurigkeit des Versagens in mir. Meine Angst, die mich schon während der Schwangerschaft heimsuchte und mich zweifeln ließ, dass ich jemals eine gute Mutter sein werde und der Verantwortung gerecht werden könnte, umhüllte mich wie ein bleiender Mantel. „So, jetzt ist aber mal gut! Das wird schon alles, du musst nur positiv denken! Es war eben nur ein holpriger Start und ab jetzt geht es bergauf!“ Ob ich mich mit diesen Gedanken wirklich beruhigen konnte, bezweifele ich mal sehr stark, doch sie gaben mir wieder Kraft und Mut. Sören legte seinen Arm um mich und ohne dass wir es aussprachen war uns klar, dass wir es gemeinsam schaffen werden. Die Tage im Krankenhaus vergingen. Sören kam wie jeden Morgen in mein Zimmer und fand mich tränenüberschrömt vor. Ich schluchzte und meine aufgequollenen Augen sahen ihn hilfesuchend an. Er stürzte zu mir und fragte was los sei. Statt einer Antwort erhielt er eine Mischung aus Grunzen und unmenschlichen Lauten. „Ist was mit Milan?“ Sören wurde panisch und sah besorgt in das Bettchen, in dem Milan seelenruhig schlief. Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Dann stieß ich gequält „Hommmomen“ aus und Sören schaute mich entgeistert an. „Was soll das heißen?“ Er nahm mich fest in den Arm bis ich wieder in der Lage war zu reden. „Es sind die Hormone, das meinte zu mindestens die Krankenschwester“, stammelte ich und spürte, wie sich die nächste Heulattacke hochrollte. Sichtlich erleichtert streichelte Sören meinen Kopf und so beruhigte ich mich zusehend. „Verdammt, was ist nur aus mir geworden? Wo ist nur die Powerfrau, der nichts zu viel ist? Sobald ich hier raus bin, werde ich mein Leben wieder in die Hand nehmen und mich nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Hormonen die Laune vermiesen. Soweit kommt es noch!“ Und mit diesem Auftrieb verbrachte ich die letzten 2 Tage im Krankenhaus und wir fuhren von dort aus direkt nach Hamburg, unserem neuen Zuhause, in das wir 2 Wochen vor der Entbindung gezogen sind.
Sören holte uns am Freitag ab und wir kümmerten uns das Wochenende gemeinsam um Milan. Alles war fremd, die Wohnung, die Umgebung und vor allem, dass wir Milan jetzt bei uns hatten. Mein Körper schmerzte und sehnte sich nach Ruhe und Schlaf. Als sich Sören am Montagmorgen verabschiedete und Richtung Heidelberg aufbrach, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich schaute Milan beim Schlafen zu und horchte in mich hinein und suchte das Gefühl der Liebe. Diese tiefe Liebe, die ich bei Sören, meiner Familie und meiner besten Freundin fühlte. Ich nahm ein Gefühl wahr, aber es war nicht so stark und überwältigend, wie ich mir Mutterliebe vorstellte. „Liebe ich Milan genug“, schoss es durch meinen Kopf. Alles war so unbekannt und mich umgab ein Dunst von Unsicherheit und Überforderung. „Wunderbar!“ polterte es aus meinem Mund. „Wir machen uns jetzt einen tollen Tag“, sagte ich freudestrahlend zu Milan – und auch zu mir. Milan war jetzt wach und ich drückte ihn fest an mich während eine Träne hat sich ihren Weg entlang meiner Wange gesucht hatte. Einen Moment lang wollte ich es genießen, Milan und ich eng miteinander verbunden. Doch Milan fand das Ganze irgendwie nicht so ergreifend. Wenn ich sein „Bäääähhhhhh“ in der Tonlage und der Lautstärke, in der er es mir entgegen brüllte, waghalsig von Babysprache ins Deutsche übersetzen würde, dann wäre das das Ergebnis: „Jetzt hör mal mit der Gefühlsduselei auf und eröffne endlich die Milchbar! Und falls du es nicht gemerkt hast, es krümelt schon da unten und ich stinke wie ein Berber! Also zack!“ Als ich Milan gestillt und gewickelt hatte, schaute er wieder rundum zufrieden aus. Das war doch der Beweis für eine perfekt funktionierende Kommunikation! Oder hatte der Kleine mich jetzt schon gut im Griff? Quatsch, ich entschied mich für die erste Variante, damit fühlte ich mich selbstbestimmter – und als Meisterin des Schönredens war von mir auch nichts anderes zu erwarten. Eigentlich wollte ich mich zu Milan legen, der jetzt friedlich schlummernd in meinem Bett lag, doch der Schmerz in meinem Unterleib, der mich seit heute früh piesackte, nahm stündlich zu. Gegen Mittag entschied ich mich einen Arzt anzurufen. Wenn etwas nicht läuft, dann wirklich alles nicht. Die Ärztin am Ort hatte Urlaub, der angegebenen Vertretung war der Weg zu mir zu weit und so blieb mir nur einen weiteren Arzt ausfindig zu machen. Ich kannte mich dort nicht aus und war maßlos überfordert. Etliche Telefonate und vielen Tränen später hat sich einer bereiterklärt mich nach seiner Sprechstunde Zuhause aufzusuchen. Nun ja, das Ende vom Lied war, dass Milan und ich am Abend noch in die Klinik mussten. Nach dem Motto: Schlimmer geht immer, wurde unser Start sehr herausfordernd. Die Klinikärztin diagnostizierte eine Gebärmutterentzündung wegen verzögerter Rückbildung der Gebärmutter. Ich weiß nicht, wie es anderen erging. Wenn ich ins Krankenhaus kam, drehte sich ein unsichtbarer Schalter auf „Krank-Sein-Modus“ um und alle vegetativen Systeme fuhren runter. Es fühlte sich ein wenig wie „dahinsiechen“ an. „Frau Doktor, beugen sie sich bitte zu mir, ich kann nicht so laut sprechen“, sprach ich mit kaum hörbarer Stimme und zaghaft hauchte ich ihr ins Ohr:“Wie lange hab ich noch?“. Solch eine Szene hätte perfekt zu meinem Gemütszustand gepasst und mich zur Dramaqueen des Monats gekürt. Applaus, Applaus! Doch wie hätte sowas mit Milan im Schlepptau funktionieren können? Also alles auf Anfang und Szene „Krankenhaus“ die Zweite! Natürlich riss mich zusammen und habe alle Untersuchungen und Therapien brav mitgemacht und mich so gut es ging um Milan gekümmert. Nach 2 Tagen waren wir endlich wieder draußen.
Milan und ich waren viel alleine und konnten unseren Neuanfang gemeinsam angehen. Wenn Milan schlief, schlief ich auch und wenn er wach war, habe ich ihn gestillt, gewickelt, gebadet, und und und. Milan hatte großen Hunger und wurde oft wach. So kam ich im ersten Monat kaum aus meinen Schlafsachen raus und ähnelte eher einem Zombie als einem menschlichen Wesen. Die milchgefüllten Brüste drückten und das „Andocken“ von Milan war jedes Mal eine Tortur, die meine Gesichtszüge entgleiten ließen. Die entspannten Mütter beim Stillen, die in Hochglanz auf den Elternzeitschriften abgebildet waren, wirkten dabei auf mich wie eine erbärmliche Lüge. „Das alles muss sich ändern“, sagt ich zu Milan, der mir mit einem Aufstoßen und einem Schwall Milch zustimmte. Nun stand ich jeden Tag um acht auf, duschte und schminkte mich und suchte mir sorgfältig die Kleidung aus. Immerhin bin ich nicht nur Mama sondern auch Frau und so wollte ich mich auch wieder fühlen. Die erste Hürde, die ich überwinden musste, war der Strahl Milch, der mir nach der Dusche beim Aufheben des Handtuchs aus der Brust spritzte. Mit meiner Milch hätte ich locker eine Kinderklinik satt bekommen können. Pragmatisch und lösungsorientiert, wie wir Mütter nun mal so sind, habe ich mein Duschen immer direkt nach dem Stillen gelegt. So leicht ist das Leben.
Milan entwickelte sich prächtig und das bestätigte auch die Kinderärztin. Wir waren schon ein tolles Team. Das fühlte ich ganz tief in mir. Doch dieser kurze Augenblick der Zufriedenheit hielt leider nicht lange an. Milan bekam heftige Bauchschmerzen und die Ärztin sprach von 3-Monats-Koliken. „Klasse, nicht das auch noch“, durchfuhr es mich. Tage und Nächte schrie Milan immer wieder vor Schmerz und ich legte ihn auf eine kleine Wärmflasche auf meinen Schoß, massierte ihn, gab ihm Fencheltee und versuchte ihn zu beruhigen. Stundenlang lief ich mit ihm auf dem Arm durch die Wohnung und versuchte ihn mit einem Singsang in den Schlaf zu wiegen. Wäre es ein oder zwei Tage so gewesen, hätte ich müde drüber lächeln können. Doch nach Wochen erfuhr ich hier und da massive Grenzerfahrungen. Was mir während der Zeit wirklich geholfen hat, war meine klare Prioritätensetzung. Für mich standen Milan, Sören und ich obenan. Im Haushalt habe ich nur das Nötigste gemacht und für mehr war kein Platz. Meine Familie und Freunde wohnten knapp 200 km von mir entfernt und so mussten wir es alleine schaffen und das haben wir auch. So plötzlich wie es kam, ging es auch wieder und Milan war wieder der Strahlemax, der mir mit seinem zauberhaften Lächeln den Tag versüßte.
Milan entdeckte mehr und mehr sein Umfeld. Seine Augen wurden wacher und an seinem Mobilé, das über seinem Bettchen hing, konnte er sich nicht satt sehen. Was von der harten Zeit übrig geblieben war - er schlief sehr schlecht ein. Wer jetzt glaubt, dass wir mitten in der Nacht mit dem Auto durch den Ort fuhren, weil er so besser einschlief, der hat sich sowas von nicht getäuscht. Ja, wir erfüllten da wirklich jedes Klischee von ratlosen Eltern. Doch wie sagt man immer: alles was hilft hat Berechtigung! Nun ja, nach etlichen nächtlichen Touren haben wir es endlich eingesehen und akzeptiert: unser Sohn braucht wenig Schlaf! So lächerlich es sich auch anhören mag, aber mit dieser neuen Haltung stresste es uns nicht mehr, wenn Milan erst später einschlief. Wir genossen die gewonnene Zeit zu dritt, da Sören oft erst spät abends von der Arbeit kam.
Jeden Tag marschierte ich mit Milan eine kilometerlange Strecke. Der Winter rückte immer näher und so peitschte mir ein eisiger und bissiger Wind entgegen, der sich auf meinen Wangen wie kleine Nadelstiche anfühlte. Der Schlafmangel schwächte meinen Körper und mir war ständig kalt, mal mehr und mal weniger. Milan lag im Kinderwagen, eingemurmelt in einen Winterschlafsack auf einem Lammfell und einer Kuscheldecke. Er schlief und sah dabei so zufrieden aus. Mein Angebot an ihn, die Plätze nur für einen kurzen Moment zu tauschen, ignorierter er mit einem Knaueln auf seinem Schnuller. So verging Tag für Tag und ich war mir mittlerweile sicher, dass das Trainingslager für das Besteigen des Himalayas nicht härter sein konnte. Milan und ich wuchsen zu einem richtig guten Gespann zusammen. Ich kümmerte mich um die Milchbar, das Wickeln und den Spaziergängen und er schenkte mir eins seiner bezaubernden Lächelns, das mein Herz aufgehen ließ. Nach meiner Meinung, hatte ich den besseren Deal gemacht.
Wir kannten in unserer Umgebung niemanden und auch das musste sich schleunigst ändern. Was liegt nicht näher als eine Krabbelgruppe. Über Wochen habe ich mich fast ausschließlich mit Milan unterhalten. Sicher, die Gespräche verliefen sehr einseitig, aber es war ok. Und nun hatte ich eine Horde Mütter vor mir, die über ihre Kinder sprachen, als ob sie Einsteins waren. Welches Kind was schon kann, war wohl ein internes Wettrennen, dessen Spielregel und Sinn mir bis heute unergründlich blieben. Aber Milan hatte sichtlich Spaß mit den anderen Kindern, so dass ich alles andere freundlich lächelnd ertrug.
Mit sanften Vorboten kündigte sich der Frühling an. Die Tage wurden wieder länger und die ersten Frühlingsblumen brachten wieder Farbe ins Leben. Der erste Frühling für Milan, der erste, den wir gemeinsam erlebten. Bei unseren täglichen Touren hörten wir die Zugvögel zurückkehren. Mit wachen Augen verfolgte er die Schwärme am Himmel. Ich weiß nicht mehr genau, was mich damals geritten hatte, aber ich öffnete meinen Mund und trällerte aus vollem Halse:“ Alle Vögel sind noch da, alle Vögel, alle“. Milans Augen weiteten sich, sie wirkten erst verwirrt und dann eher voller Schmerz. Als wenn er von einer Wespe gestochen wurde, schrie er nach Leibeskräften. Sofort hörte ich mit meinem Trällern auf, nahm ihn auf meinen Arm und tröstete ihn. Mir war schlagartig klar, dass er kein Fan von Frühlingsliedern war. Eine Erkenntnis, mit der ich mich, wenn ich Ruhe habe, erst einmal auseinandersetzen musste. Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Wir hatten es wirklich gut miteinander. Morgens um Vier hörten wir den Zeitungsmann, der die Straße entlang fuhr während ich auf dem Sofa saß und Milan stillte. Danach legten wir uns nochmal schlafen und wir wachten immer so gegen halb Neun Uhr auf und begannen gemeinsam den Tag. Einen Rhythmus, an den ich mich schon gewöhnt hatte. Doch dann kam der bis dahin schrecklichste Morgen meines Lebens. Ich machte meine Augen auf und war noch ganz schläfrig. Daher realisierte ich auch echt spät, dass es hell war und so blickte ich auf die Uhr, die eine Zahl anzeigte, die nicht angehen konnte. 9, es war 9 Uhr und nicht 4. „Das kann nicht sein! Milan hätte doch längs Hunger haben müssen“ und dann durchfuhr eine panische Angst meinen Körper. Tränen liefen an meinen Wangen entlang und ich war wie erstarrt. Meine Angst in Milans Kinderbett zu schauen, dass neben mir stand, war so groß, dass ich eine Weile in der Position verharrte. Mein Herz raste und in Bruchteilen von Sekunden schossen die schlimmsten Bilder durch meinen Kopf. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schaute neben mir. Milan atmete gleichmäßig ein und aus und schlief friedlich. Anstatt ihn anzulächeln heulte ich los, die Tränen liefen und liefen. Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich diesen kleinen Fratz so sehr liebte, dass ich ohne ihn nicht sein konnte und auch nicht wollte. Er war die Sonne für mich. Er erhellte mein Leben, brachte mich zum strahlen und erwärmte mein Herz. Gleichermaßen spürte ich aber auch, dass ich auf mich achtgeben musste, damit ich nicht verbrenne und mich verliere. Wie ich das anstellen sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. „Hat noch Zeit“, beruhigte ich mich und schob den Gedanken achtlos zur Seite.
Als Mama gewann ich ungeahnte Fähigkeiten. Einarmig konnte ich ein Essen zubereiten, aufräumen und mich stylen. An einhändig Schuhe zubinden oder Geschenke einpacken, scheiterte ich jedoch kläglich. Milan lag vergnügt in meinem anderen Arm und schaute sich das Geschehen sehr interessiert an. Allerdings verlor ich auch Fähigkeiten. In einem Gespräch neigte ich immer mehr dazu die Sätze nicht zu beenden. „Schatz, am Wochenende kommen Jenny und Martin. Können wir mit ihnen nicht das Dings besuchen und danach vielleicht im..“, und dann war Schweigen und ich widmete mich wieder dem Ausräumen des Geschirrspülers zu. Sören konnte nur erraten: was meinte sie mit Dings? Und wie schaute der Plan nach dem Dingsbesuch aus? „Ich weiß nicht, was du meinst! Du sprichst in Rätseln“, polterte es ungehalten aus ihm heraus. Da ich es aber so gar nicht wahrnahm, wusste ich nicht, was er von mir wollte. In meinen Kopf waren es doch klare und vollständige Sätze. So schmetterte ich ihm verständnislos und erbost entgegen: „Ach man, hör mir doch bitte mal richtig zu, dann wüsstest du das!“ Für mich war es eindeutig, das Problem war auf seiner Seite! Ja ja, das leidige Thema der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Aber das war nicht der einzige Stolperstein in unserer Beziehung. Wir verloren uns aus den Augen und unser Leben drehte sich nur noch um Milan.
Das Abstillen, das stufenweise erfolgen sollte, indem man das Stillen nach und nach durch eine Mahlzeit ersetzt, hat Milan selbstbestimmend in die Hand genommen. Er weigerte sich von einem Moment zum anderen an meiner Brust zu trinken nach dem Motto: „Ich will jetzt nicht mehr, ich bin doch schon groß!“ Tja, da saß ich nun mit meinen prallgefüllten Brüsten und hatte keinen Abnehmer mehr. Auch hier greift das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Ich hätte meine Milch an jeden Dahergelaufenen verschenkt. „Vielleicht sollte ich am Gartenzaun ein Schild aufstellen – täglich frische Muttermilch kostengünstig abzugeben“, kam mir in den Sinn. Vor hundert Jahren hätte ich mir so als Amme ein paar Groschen dazu verdienen können, aber dieses Geschäftsmodell hatte längst ausgedient. Auf so eine Situation war ich nicht vorbereitet und musste erst einmal alle Optionen recherchieren. Mühselig kramte ich alle Hefte und Ratgeber zum Thema Abstillen raus und breitete sie vor mir auf dem Tisch aus. Eins nach dem anderen las ich sorgfältig durch und mir schwante nichts Gutes. Die illustrierten Bilder zeigten den C-Griff, der scheinbar in eingeweihten Kreisen eingängiger Begriff war, mir war er jedoch bis dato völlig unbekannt. So übte ich fleißig das Ausstreichen meiner harten und schmerzhaften Brüste, die ich vorher mit einem feuchtwarmen Handtuch und einer Massage ein wenig gelockert hatte. „Ein halbes Jahr nach der Geburt und ich fühle mich immer noch wie eine Kuh, die gemolken wird, und jetzt melke ich mich sogar schon selbst! Wie tief muss ich als Frau denn noch sinken?“ Der Gedanke frustrierte mich, denn ich war gerade dabei mein Frau-Dasein wieder auf die rechte Spur zu bringen. Mein Gewicht hatte sich – Dank des Stillens – wieder normalisiert und mein Friseurbesuch letzte Woche puschte mein Selbstbewusstsein ordentlich nach oben. „Manno, ich will meinen Körper zurück!“ sagte ich laut zu mir und stampfte dabei bekräftigend auf den Boden. Doch alles Jammern half nichts, das war der Weg. Doch auch dieser Weg hatte Stolpersteine und so saß ich eines Abends mit einer Brustentzündung und in Quark eingehüllten Brüsten auf dem Sofa vor dem Fernseher. Als Sören von der Arbeit nach Hause kam, rief ich aus dem Wohnzimmer: „Schatz, dein Essen ist im Kühlschrank, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen!“ Er schaute um die Ecke und verharrte in seiner Bewegung. „Schick“, meinte er und seine Mundwinkel zuckten wild hin und her. Schnell verschwand er in der Küche und ich hörte ein unterdrücktes Grunzen und Schnauben.
Auf einem unserer ausgedehnten Spaziergänge, die Milan mittlerweile im Buggy sitzend genoss, lernten wir Peggy und Lasse kennen. Peggy war Krankenschwester und arbeitete, wie ihr Mann auch, in Früh- und Spätschichten. Ihr Sohn Lasse war ein halbes Jahr älter als Milan und strahlte mich offen und freundlich an. Wir vier waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten seitdem viel Zeit miteinander. Wir fuhren mit den Kindern viel Fahrrad und besuchten gerne einen nahegelegenen See oder suchten so unsere Lieblings-Eisdiele auf. Zwischen Peggy und mir entwickelte sich eine richtig schöne Freundschaft. Wenn Peggy Frühschicht hatte und ihr Mann Spätschicht, oder umgekehrt, entstand ein Zeitraum, in dem Lasse nicht betreut werden konnte. Kurzerhand war Lasse nunmehr öfters vom späten Vormittag bis zum frühen Nachmittag bei uns. Und wir genossen es sehr. Er war eine Bereicherung und Milan schaute sich vieles von Lasse ab. Die Beiden waren so vergnügt miteinander und jedes Mal wenn Lasse durch die Tür kam, erhellten sich Milan`s Augen und er strahlte übers ganze Gesicht. Jeden Mittag kochte ich für uns und achtete dabei sehr auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Vielleicht habe ich es damals auch ein wenig übertrieben, aber ich wollte alles richtig machen. Die Zutaten hierfür holte ich von einem 10 Kilometer entfernten Biohof. Milan und ich fuhren einmal in der Woche mit dem Fahrrad dorthin und kauften unsere Wochenration an frischem Gemüse und Fleisch ein. Während dieser Tour schlief Milan regelmäßig ein und hing dann wie ein schlaffer Sack in den Gurten seines Kindersitzes. Sein Fahrradhelm verhinderte, dass er den Kopf nach hinten fallen lassen konnte, so dass er leicht nach vorne gebeugt und schräg im Sitz hing. Bequem ist sicher was anderes. Doch was macht man nicht alles für eine richtig gesunde Mahlzeit. Sören und ich hatten nur ein Auto. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich unser Auto benötigte, musste ich Sören zur Arbeit bringen und auch wieder abholen. Das bedeutete, dass ich Milan morgens um 6 Uhr weckte, wickelte und anzog und wir Papa zu seiner Arbeit bringen mussten, die eine Dreiviertelstunde Autofahrt von uns entfernt war. Und am Abend das ganze nochmal. Es ist erstaunlich, was ich alles mit dem Fahrrad erreichen konnte und wie selten ich auf das Auto angewiesen war.
Angetrieben von der Tatsache, dass Lasse an all seine geliebten Spielsachen problemlos rankam, fing Milan recht früh mit dem Laufen an. Es war mitten in der Woche. Ich war am Kochen und beobachtete Milan dabei, wie er sich an einem Stuhl hochzog. Er schaute mich an und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich lächelte zurück und lobte ihn überschwänglich: „das machst du toll mein Schatz, du bist schon so groß!“. Seit ein paar Wochen konnte er das und er war stolz wie Oscar. Bevor ich mich aber wieder den brodelnden und dampfenden Kochtöpfen zuwenden konnte, ließ Milan das Stuhlbein los und wankte unsicher von einem Fuß auf den anderen. Ich blieb für Sekunden erstarrt stehen und traute meinen Augen nicht. Dann begriff ich, was da gerade passiert war und schnellte in Windeseile um die Küchenzeile herum und hockte mich mit ausgestreckten Armen vor ihm. Milan`s Augen waren weit aufgerissen und seine Mundwinkel wussten nicht genau, was sie machen sollten. Es wechselte sich ein bizarres Grinsen mit einem „O“ geformten Mund munter ab. Mit dem dritten Schritt ließ sich Milan glücklich in meine Arme fallen. Vor lauter Aufregung vergaß ich zu atmen und merkte es erst als Milan in meinen Armen lag. Ein tiefer Atemzug füllte meine stolze Mamabrust und ich drückte Milan ganz fest an mich. Kleine Tränen ließen meine Sicht verschwimmen und liefen heiß die Wange herunter. „Oh krass, du kannst laufen“. Milan strahlte mich an als ob er es verstand. Sicher, er hatte nicht das Navi erfunden oder mit der Entwicklung der Cloud das Internet revolutioniertå, jedoch war es eines dieser Ereignisse im Leben, welches ich nie vergessen werde. Mir tat Sören in diesem Moment so unendlich leid, der auf Arbeit war und es verpasst hatte. Als er nach Hause kam, lief ich ihm entgegen und erzählte alles haarklein, ohne Punkt und Komma. Mein Kopf lief rot an und es sprudelte nur so aus meinem Mund. So ein Mist, ich hatte das Atmen mal wieder vergessen. Sören war aus dem Häuschen und versuchte Milan zu motivieren es zu wiederholen. Da es aber schon recht spät war, fand Milan die Idee nicht so klasse und kuschelte sich lieber in meinem revolutioniertånn mit Milan hat mich verändert. Was mir vorher wichtig war ist jetzt ohne Bedeutung und meine Ansichten zu einigen Themen sind divergent. So ein kleines Würmchen dreht alles mal auf Links. Aber dieses Abenteuer lohnte sich und machte mein Leben heller aber auch zugegeben anstrengender.
Den erste Schritt im Leben war Milan gegangen und es werden noch unzählige weitere folgen. "Was wird wohl mal aus ihm werden?", dachte ich und der Wunsch nach einer Glaskugel machte sich in mir breit.
Milan ist heute fast dreißig Jahre alt und glaubt mir, nie, wirklich nie im Leben hätte ich seine Entwicklung erahnen können.
 

SThiel

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„Wow, hat der aber große Füße“. Das waren die Worte des Arztes, der Milan mit einem Kaiserschnitt entbunden hatte. Ein grünes Tuch versperrte mir den Blick und wegen der Peridualanästhesie spürte ich nur einen Ruck im Körper. "Konnte mein Entengang, den ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte, Einfluss auf die Größe seiner Füße haben?" Aber diesen Gedanken schob ich gleich zur Seite, als mir die Krankenschwester Milan auf meine Brust legte. Was für ein durchgeknallter Arzt, Milan war das süßeste und wohlproportionierte Baby aller Zeiten. Die objektive Meinung einer Mama, die im Leben noch nie so kleine Füße gesehen hatte.
Es war schon weit nach Mitternacht als ich erschöpft in meinem Zimmer einschlief. Anders als erwartet war die Nacht traumlos und ruhig. Am nächsten Morgen brachte mir die Krankenschwester Milan. Er schlief und wirkte so zufrieden. Es war ein Wunder, dass dieser kleine Wurm gestern noch in meinem Bauch war und nun in meinem Arm lag. In mir breitete sich eine große Ehrfurcht vor Mutter Natur aus. Es überwältigte mich und lies mich für einen Moment den Atem anhalten. „Krass“, entsprang aus meinem Mund und ich verharrte einige Minuten und starrte Milan dabei unentwegt an. Langsam schweifte mein Blick von Milan zu meinem Bauch. Mein Shirt spannte dort, wo Milan gestern noch drin war. Wie war das möglich? Habe ich Zwillinge und die Ärzte haben das andere Kind nicht entdeckt? Ich zwang mich zur Ruhe. „Jetzt überleg mal ganz rational“, ermahnte ich mich selber. „Der Bauch ist sooo groß! Von wegen rational, das ist nicht normal!“ Meine Gedanken galoppierten und ließen sich nicht mehr stoppen. Jedes Szenario, das sie mir aufzeigten. war schlimmer als das vorherige. Mein Herz schlug schneller und ich spürte, dass mein Mund trocken wurde. Ohne weiter nachzudenken klingelte ich nach der Krankenschwester. Einen kurzen Moment später öffnete sich die Tür und eine schlanke Brünette mit schulterlangem Haar lächelte mich an. Ihr auberginefarbener Kittel lag nicht eng an, doch er ließ darunter auf einen gut durchtrainierten Körper schließen. Die schmerzhafte Sehnsucht nach meinem früheren Körper versuchte sich einzuschleichen. Ich schob sie beiseite und noch bevor mein Gegenüber sich vorstellen konnte, platzte ich mit meiner unglaublichen Entdeckung heraus. Dabei blickte ich abwechselnd von Milan zu meinem übergroßen Bauch. „Warum steht sie noch da und holt nicht den Arzt?“ schoss es durch meinen Kopf. Wenn die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre, hätte ich das leichte Zucken um ihren Mund als Schmunzeln deuten können. Was für eine absurde Interpretation. Sie hatte als professionelle Fachkraft mit Sicherheit den Ernst der Lage sofort erkannt und war jetzt nur in einer Art Schockstarre. Was dann folgte, reihte sich in meine persönliche Top 10 der peinlichsten Momente ein. Sie versuchte nach Leibeskräften ihr Schmunzeln nicht zu einem Grinsen oder gar Lachen mutieren zu lassen. Doch es gelang ihr nicht. Schnell hatte sie ihre Fassung wieder und erklärte mir einfühlsam, dass alles in Ordnung sei und der Körper für die Rückbildung Zeit benötige. Da saß ich nun und fühlte mich wie das größte Dummerchen auf dieser Welt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl noch öfters haben werde.
Sören kam wie verabredet nach dem Frühstück. Wir sprachen nicht viel, sondern genossen diesen Moment und beteuerten immer wieder, welch ein großes Glück wir in unseren Händen halten. Bevor ich in Gedanken versinken konnte, kam die Hebamme und zeigte mir geduldig, wie ich Milan zum Trinken an die Brust legen musste. Was sich so einfach anhört, entpuppte sich zu einem Schauspiel, bei dem der Hauptakteur seinen Einsatz vergaß. Milan war wenig bis gar nicht daran interessiert. Verzweifelt schaute ich die Hebamme an und spürte die tiefe Traurigkeit des Versagens in mir. Meine Angst, die mich schon während der Schwangerschaft heimsuchte und mich zweifeln ließ, dass ich jemals eine gute Mutter sein werde und der Verantwortung gerecht werden könnte, umhüllte mich wie ein bleiender Mantel. „So, jetzt ist aber mal gut! Das wird schon alles, du musst nur positiv denken! Es war eben nur ein holpriger Start und ab jetzt geht es bergauf!“ Ob ich mich mit diesen Gedanken wirklich beruhigen konnte, bezweifele ich mal sehr stark, doch sie gaben mir wieder Kraft und Mut. Sören legte seinen Arm um mich und ohne dass wir es aussprachen war uns klar, dass wir es gemeinsam schaffen werden. Die Tage im Krankenhaus vergingen. Sören kam wie jeden Morgen in mein Zimmer und fand mich tränenüberschrömt vor. Ich schluchzte und meine aufgequollenen Augen sahen ihn hilfesuchend an. Er stürzte zu mir und fragte was los sei. Statt einer Antwort erhielt er eine Mischung aus Grunzen und unmenschlichen Lauten. „Ist was mit Milan?“ Sören wurde panisch und sah besorgt in das Bettchen, in dem Milan seelenruhig schlief. Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Dann stieß ich gequält „Hommmomen“ aus und Sören schaute mich entgeistert an. „Was soll das heißen?“ Er nahm mich fest in den Arm bis ich wieder in der Lage war zu reden. „Es sind die Hormone, das meinte zu mindestens die Krankenschwester“, stammelte ich und spürte, wie sich die nächste Heulattacke hochrollte. Sichtlich erleichtert streichelte Sören meinen Kopf und so beruhigte ich mich zusehend. „Verdammt, was ist nur aus mir geworden? Wo ist nur die Powerfrau, der nichts zu viel ist? Sobald ich hier raus bin, werde ich mein Leben wieder in die Hand nehmen und mich nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Hormonen die Laune vermiesen. Soweit kommt es noch!“ Und mit diesem Auftrieb verbrachte ich die letzten 2 Tage im Krankenhaus und wir fuhren von dort aus direkt nach Hamburg, unserem neuen Zuhause, in das wir 2 Wochen vor der Entbindung gezogen sind.
Sören holte uns am Freitag ab und wir kümmerten uns das Wochenende gemeinsam um Milan. Alles war fremd, die Wohnung, die Umgebung und vor allem, dass wir Milan jetzt bei uns hatten. Mein Körper schmerzte und sehnte sich nach Ruhe und Schlaf. Als sich Sören am Montagmorgen verabschiedete und Richtung Heidelberg aufbrach, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich schaute Milan beim Schlafen zu und horchte in mich hinein und suchte das Gefühl der Liebe. Diese tiefe Liebe, die ich bei Sören, meiner Familie und meiner besten Freundin fühlte. Ich nahm ein Gefühl wahr, aber es war nicht so stark und überwältigend, wie ich mir Mutterliebe vorstellte. „Liebe ich Milan genug“, schoss es durch meinen Kopf. Alles war so unbekannt und mich umgab ein Dunst von Unsicherheit und Überforderung. „Wunderbar!“ polterte es aus meinem Mund. „Wir machen uns jetzt einen tollen Tag“, sagte ich freudestrahlend zu Milan – und auch zu mir. Milan war jetzt wach und ich drückte ihn fest an mich während eine Träne hat sich ihren Weg entlang meiner Wange gesucht hatte. Einen Moment lang wollte ich es genießen, Milan und ich eng miteinander verbunden. Doch Milan fand das Ganze irgendwie nicht so ergreifend. Wenn ich sein „Bäääähhhhhh“ in der Tonlage und der Lautstärke, in der er es mir entgegen brüllte, waghalsig von Babysprache ins Deutsche übersetzen würde, dann wäre das das Ergebnis: „Jetzt hör mal mit der Gefühlsduselei auf und eröffne endlich die Milchbar! Und falls du es nicht gemerkt hast, es krümelt schon da unten und ich stinke wie ein Berber! Also zack!“ Als ich Milan gestillt und gewickelt hatte, schaute er wieder rundum zufrieden aus. Das war doch der Beweis für eine perfekt funktionierende Kommunikation! Oder hatte der Kleine mich jetzt schon gut im Griff? Quatsch, ich entschied mich für die erste Variante, damit fühlte ich mich selbstbestimmter – und als Meisterin des Schönredens war von mir auch nichts anderes zu erwarten. Eigentlich wollte ich mich zu Milan legen, der jetzt friedlich schlummernd in meinem Bett lag, doch der Schmerz in meinem Unterleib, der mich seit heute früh piesackte, nahm stündlich zu. Gegen Mittag entschied ich mich einen Arzt anzurufen. Wenn etwas nicht läuft, dann wirklich alles nicht. Die Ärztin am Ort hatte Urlaub, der angegebenen Vertretung war der Weg zu mir zu weit und so blieb mir nur einen weiteren Arzt ausfindig zu machen. Ich kannte mich dort nicht aus und war maßlos überfordert. Etliche Telefonate und vielen Tränen später hat sich einer bereiterklärt mich nach seiner Sprechstunde Zuhause aufzusuchen. Nun ja, das Ende vom Lied war, dass Milan und ich am Abend noch in die Klinik mussten. Nach dem Motto: Schlimmer geht immer, wurde unser Start sehr herausfordernd. Die Klinikärztin diagnostizierte eine Gebärmutterentzündung wegen verzögerter Rückbildung der Gebärmutter. Ich weiß nicht, wie es anderen erging. Wenn ich ins Krankenhaus kam, drehte sich ein unsichtbarer Schalter auf „Krank-Sein-Modus“ um und alle vegetativen Systeme fuhren runter. Es fühlte sich ein wenig wie „dahinsiechen“ an. „Frau Doktor, beugen sie sich bitte zu mir, ich kann nicht so laut sprechen“, sprach ich mit kaum hörbarer Stimme und zaghaft hauchte ich ihr ins Ohr:“Wie lange hab ich noch?“. Solch eine Szene hätte perfekt zu meinem Gemütszustand gepasst und mich zur Dramaqueen des Monats gekürt. Applaus, Applaus! Doch wie hätte sowas mit Milan im Schlepptau funktionieren können? Also alles auf Anfang und Szene „Krankenhaus“ die Zweite! Natürlich riss mich zusammen und habe alle Untersuchungen und Therapien brav mitgemacht und mich so gut es ging um Milan gekümmert. Nach 2 Tagen waren wir endlich wieder draußen.
Milan und ich waren viel alleine und konnten unseren Neuanfang gemeinsam angehen. Wenn Milan schlief, schlief ich auch und wenn er wach war, habe ich ihn gestillt, gewickelt, gebadet, und und und. Milan hatte großen Hunger und wurde oft wach. So kam ich im ersten Monat kaum aus meinen Schlafsachen raus und ähnelte eher einem Zombie als einem menschlichen Wesen. Die milchgefüllten Brüste drückten und das „Andocken“ von Milan war jedes Mal eine Tortur, die meine Gesichtszüge entgleiten ließen. Die entspannten Mütter beim Stillen, die in Hochglanz auf den Elternzeitschriften abgebildet waren, wirkten dabei auf mich wie eine erbärmliche Lüge. „Das alles muss sich ändern“, sagt ich zu Milan, der mir mit einem Aufstoßen und einem Schwall Milch zustimmte. Nun stand ich jeden Tag um acht auf, duschte und schminkte mich und suchte mir sorgfältig die Kleidung aus. Immerhin bin ich nicht nur Mama sondern auch Frau und so wollte ich mich auch wieder fühlen. Die erste Hürde, die ich überwinden musste, war der Strahl Milch, der mir nach der Dusche beim Aufheben des Handtuchs aus der Brust spritzte. Mit meiner Milch hätte ich locker eine Kinderklinik satt bekommen können. Pragmatisch und lösungsorientiert, wie wir Mütter nun mal so sind, habe ich mein Duschen immer direkt nach dem Stillen gelegt. So leicht ist das Leben.
Milan entwickelte sich prächtig und das bestätigte auch die Kinderärztin. Wir waren schon ein tolles Team. Das fühlte ich ganz tief in mir. Doch dieser kurze Augenblick der Zufriedenheit hielt leider nicht lange an. Milan bekam heftige Bauchschmerzen und die Ärztin sprach von 3-Monats-Koliken. „Klasse, nicht das auch noch“, durchfuhr es mich. Tage und Nächte schrie Milan immer wieder vor Schmerz und ich legte ihn auf eine kleine Wärmflasche auf meinen Schoß, massierte ihn, gab ihm Fencheltee und versuchte ihn zu beruhigen. Stundenlang lief ich mit ihm auf dem Arm durch die Wohnung und versuchte ihn mit einem Singsang in den Schlaf zu wiegen. Wäre es ein oder zwei Tage so gewesen, hätte ich müde drüber lächeln können. Doch nach Wochen erfuhr ich hier und da massive Grenzerfahrungen. Was mir während der Zeit wirklich geholfen hat, war meine klare Prioritätensetzung. Für mich standen Milan, Sören und ich obenan. Im Haushalt habe ich nur das Nötigste gemacht und für mehr war kein Platz. Meine Familie und Freunde wohnten knapp 200 km von mir entfernt und so mussten wir es alleine schaffen und das haben wir auch. So plötzlich wie es kam, ging es auch wieder und Milan war wieder der Strahlemax, der mir mit seinem zauberhaften Lächeln den Tag versüßte.
Milan entdeckte mehr und mehr sein Umfeld. Seine Augen wurden wacher und an seinem Mobilé, das über seinem Bettchen hing, konnte er sich nicht satt sehen. Was von der harten Zeit übrig geblieben war - er schlief sehr schlecht ein. Wer jetzt glaubt, dass wir mitten in der Nacht mit dem Auto durch den Ort fuhren, weil er so besser einschlief, der hat sich sowas von nicht getäuscht. Ja, wir erfüllten da wirklich jedes Klischee von ratlosen Eltern. Doch wie sagt man immer: alles was hilft hat Berechtigung! Nun ja, nach etlichen nächtlichen Touren haben wir es endlich eingesehen und akzeptiert: unser Sohn braucht wenig Schlaf! So lächerlich es sich auch anhören mag, aber mit dieser neuen Haltung stresste es uns nicht mehr, wenn Milan erst später einschlief. Wir genossen die gewonnene Zeit zu dritt, da Sören oft erst spät abends von der Arbeit kam.
Jeden Tag marschierte ich mit Milan eine kilometerlange Strecke. Der Winter rückte immer näher und so peitschte mir ein eisiger und bissiger Wind entgegen, der sich auf meinen Wangen wie kleine Nadelstiche anfühlte. Der Schlafmangel schwächte meinen Körper und mir war ständig kalt, mal mehr und mal weniger. Milan lag im Kinderwagen, eingemurmelt in einen Winterschlafsack auf einem Lammfell und einer Kuscheldecke. Er schlief und sah dabei so zufrieden aus. Mein Angebot an ihn, die Plätze nur für einen kurzen Moment zu tauschen, ignorierter er mit einem Knaueln auf seinem Schnuller. So verging Tag für Tag und ich war mir mittlerweile sicher, dass das Trainingslager für das Besteigen des Himalayas nicht härter sein konnte. Milan und ich wuchsen zu einem richtig guten Gespann zusammen. Ich kümmerte mich um die Milchbar, das Wickeln und den Spaziergängen und er schenkte mir eins seiner bezaubernden Lächelns, das mein Herz aufgehen ließ. Nach meiner Meinung, hatte ich den besseren Deal gemacht.
Wir kannten in unserer Umgebung niemanden und auch das musste sich schleunigst ändern. Was liegt nicht näher als eine Krabbelgruppe. Über Wochen habe ich mich fast ausschließlich mit Milan unterhalten. Sicher, die Gespräche verliefen sehr einseitig, aber es war ok. Und nun hatte ich eine Horde Mütter vor mir, die über ihre Kinder sprachen, als ob sie Einsteins waren. Welches Kind was schon kann, war wohl ein internes Wettrennen, dessen Spielregel und Sinn mir bis heute unergründlich blieben. Aber Milan hatte sichtlich Spaß mit den anderen Kindern, so dass ich alles andere freundlich lächelnd ertrug.
Mit sanften Vorboten kündigte sich der Frühling an. Die Tage wurden wieder länger und die ersten Frühlingsblumen brachten wieder Farbe ins Leben. Der erste Frühling für Milan, der erste, den wir gemeinsam erlebten. Bei unseren täglichen Touren hörten wir die Zugvögel zurückkehren. Mit wachen Augen verfolgte er die Schwärme am Himmel. Ich weiß nicht mehr genau, was mich damals geritten hatte, aber ich öffnete meinen Mund und trällerte aus vollem Halse:“ Alle Vögel sind noch da, alle Vögel, alle“. Milans Augen weiteten sich, sie wirkten erst verwirrt und dann eher voller Schmerz. Als wenn er von einer Wespe gestochen wurde, schrie er nach Leibeskräften. Sofort hörte ich mit meinem Trällern auf, nahm ihn auf meinen Arm und tröstete ihn. Mir war schlagartig klar, dass er kein Fan von Frühlingsliedern war. Eine Erkenntnis, mit der ich mich, wenn ich Ruhe habe, erst einmal auseinandersetzen musste. Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Wir hatten es wirklich gut miteinander. Morgens um Vier hörten wir den Zeitungsmann, der die Straße entlang fuhr während ich auf dem Sofa saß und Milan stillte. Danach legten wir uns nochmal schlafen und wir wachten immer so gegen halb Neun Uhr auf und begannen gemeinsam den Tag. Einen Rhythmus, an den ich mich schon gewöhnt hatte. Doch dann kam der bis dahin schrecklichste Morgen meines Lebens. Ich machte meine Augen auf und war noch ganz schläfrig. Daher realisierte ich auch echt spät, dass es hell war und so blickte ich auf die Uhr, die eine Zahl anzeigte, die nicht angehen konnte. 9, es war 9 Uhr und nicht 4. „Das kann nicht sein! Milan hätte doch längs Hunger haben müssen“ und dann durchfuhr eine panische Angst meinen Körper. Tränen liefen an meinen Wangen entlang und ich war wie erstarrt. Meine Angst in Milans Kinderbett zu schauen, dass neben mir stand, war so groß, dass ich eine Weile in der Position verharrte. Mein Herz raste und in Bruchteilen von Sekunden schossen die schlimmsten Bilder durch meinen Kopf. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schaute neben mir. Milan atmete gleichmäßig ein und aus und schlief friedlich. Anstatt ihn anzulächeln heulte ich los, die Tränen liefen und liefen. Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich diesen kleinen Fratz so sehr liebte, dass ich ohne ihn nicht sein konnte und auch nicht wollte. Er war die Sonne für mich. Er erhellte mein Leben, brachte mich zum strahlen und erwärmte mein Herz. Gleichermaßen spürte ich aber auch, dass ich auf mich achtgeben musste, damit ich nicht verbrenne und mich verliere. Wie ich das anstellen sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. „Hat noch Zeit“, beruhigte ich mich und schob den Gedanken achtlos zur Seite.
Als Mama gewann ich ungeahnte Fähigkeiten. Einarmig konnte ich ein Essen zubereiten, aufräumen und mich stylen. An einhändig Schuhe zubinden oder Geschenke einpacken, scheiterte ich jedoch kläglich. Milan lag vergnügt in meinem anderen Arm und schaute sich das Geschehen sehr interessiert an. Allerdings verlor ich auch Fähigkeiten. In einem Gespräch neigte ich immer mehr dazu die Sätze nicht zu beenden. „Schatz, am Wochenende kommen Jenny und Martin. Können wir mit ihnen nicht das Dings besuchen und danach vielleicht im..“, und dann war Schweigen und ich widmete mich wieder dem Ausräumen des Geschirrspülers zu. Sören konnte nur erraten: was meinte sie mit Dings? Und wie schaute der Plan nach dem Dingsbesuch aus? „Ich weiß nicht, was du meinst! Du sprichst in Rätseln“, polterte es ungehalten aus ihm heraus. Da ich es aber so gar nicht wahrnahm, wusste ich nicht, was er von mir wollte. In meinen Kopf waren es doch klare und vollständige Sätze. So schmetterte ich ihm verständnislos und erbost entgegen: „Ach man, hör mir doch bitte mal richtig zu, dann wüsstest du das!“ Für mich war es eindeutig, das Problem war auf seiner Seite! Ja ja, das leidige Thema der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Aber das war nicht der einzige Stolperstein in unserer Beziehung. Wir verloren uns aus den Augen und unser Leben drehte sich nur noch um Milan.
Das Abstillen, das stufenweise erfolgen sollte, indem man das Stillen nach und nach durch eine Mahlzeit ersetzt, hat Milan selbstbestimmend in die Hand genommen. Er weigerte sich von einem Moment zum anderen an meiner Brust zu trinken nach dem Motto: „Ich will jetzt nicht mehr, ich bin doch schon groß!“ Tja, da saß ich nun mit meinen prallgefüllten Brüsten und hatte keinen Abnehmer mehr. Auch hier greift das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Ich hätte meine Milch an jeden Dahergelaufenen verschenkt. „Vielleicht sollte ich am Gartenzaun ein Schild aufstellen – täglich frische Muttermilch kostengünstig abzugeben“, kam mir in den Sinn. Vor hundert Jahren hätte ich mir so als Amme ein paar Groschen dazu verdienen können, aber dieses Geschäftsmodell hatte längst ausgedient. Auf so eine Situation war ich nicht vorbereitet und musste erst einmal alle Optionen recherchieren. Mühselig kramte ich alle Hefte und Ratgeber zum Thema Abstillen raus und breitete sie vor mir auf dem Tisch aus. Eins nach dem anderen las ich sorgfältig durch und mir schwante nichts Gutes. Die illustrierten Bilder zeigten den C-Griff, der scheinbar in eingeweihten Kreisen eingängiger Begriff war, mir war er jedoch bis dato völlig unbekannt. So übte ich fleißig das Ausstreichen meiner harten und schmerzhaften Brüste, die ich vorher mit einem feuchtwarmen Handtuch und einer Massage ein wenig gelockert hatte. „Ein halbes Jahr nach der Geburt und ich fühle mich immer noch wie eine Kuh, die gemolken wird, und jetzt melke ich mich sogar schon selbst! Wie tief muss ich als Frau denn noch sinken?“ Der Gedanke frustrierte mich, denn ich war gerade dabei mein Frau-Dasein wieder auf die rechte Spur zu bringen. Mein Gewicht hatte sich – Dank des Stillens – wieder normalisiert und mein Friseurbesuch letzte Woche puschte mein Selbstbewusstsein ordentlich nach oben. „Manno, ich will meinen Körper zurück!“ sagte ich laut zu mir und stampfte dabei bekräftigend auf den Boden. Doch alles Jammern half nichts, das war der Weg. Doch auch dieser Weg hatte Stolpersteine und so saß ich eines Abends mit einer Brustentzündung und in Quark eingehüllten Brüsten auf dem Sofa vor dem Fernseher. Als Sören von der Arbeit nach Hause kam, rief ich aus dem Wohnzimmer: „Schatz, dein Essen ist im Kühlschrank, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen!“ Er schaute um die Ecke und verharrte in seiner Bewegung. „Schick“, meinte er und seine Mundwinkel zuckten wild hin und her. Schnell verschwand er in der Küche und ich hörte ein unterdrücktes Grunzen und Schnauben.
Auf einem unserer ausgedehnten Spaziergänge, die Milan mittlerweile im Buggy sitzend genoss, lernten wir Peggy und Lasse kennen. Peggy war Krankenschwester und arbeitete, wie ihr Mann auch, in Früh- und Spätschichten. Ihr Sohn Lasse war ein halbes Jahr älter als Milan und strahlte mich offen und freundlich an. Wir vier waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten seitdem viel Zeit miteinander. Wir fuhren mit den Kindern viel Fahrrad und besuchten gerne einen nahegelegenen See oder suchten so unsere Lieblings-Eisdiele auf. Zwischen Peggy und mir entwickelte sich eine richtig schöne Freundschaft. Wenn Peggy Frühschicht hatte und ihr Mann Spätschicht, oder umgekehrt, entstand ein Zeitraum, in dem Lasse nicht betreut werden konnte. Kurzerhand war Lasse nunmehr öfters vom späten Vormittag bis zum frühen Nachmittag bei uns. Und wir genossen es sehr. Er war eine Bereicherung und Milan schaute sich vieles von Lasse ab. Die Beiden waren so vergnügt miteinander und jedes Mal wenn Lasse durch die Tür kam, erhellten sich Milan`s Augen und er strahlte übers ganze Gesicht. Jeden Mittag kochte ich für uns und achtete dabei sehr auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Vielleicht habe ich es damals auch ein wenig übertrieben, aber ich wollte alles richtig machen. Die Zutaten hierfür holte ich von einem 10 Kilometer entfernten Biohof. Milan und ich fuhren einmal in der Woche mit dem Fahrrad dorthin und kauften unsere Wochenration an frischem Gemüse und Fleisch ein. Während dieser Tour schlief Milan regelmäßig ein und hing dann wie ein schlaffer Sack in den Gurten seines Kindersitzes. Sein Fahrradhelm verhinderte, dass er den Kopf nach hinten fallen lassen konnte, so dass er leicht nach vorne gebeugt und schräg im Sitz hing. Bequem ist sicher was anderes. Doch was macht man nicht alles für eine richtig gesunde Mahlzeit. Sören und ich hatten nur ein Auto. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich unser Auto benötigte, musste ich Sören zur Arbeit bringen und auch wieder abholen. Das bedeutete, dass ich Milan morgens um 6 Uhr weckte, wickelte und anzog und wir Papa zu seiner Arbeit bringen mussten, die eine Dreiviertelstunde Autofahrt von uns entfernt war. Und am Abend das ganze nochmal. Es ist erstaunlich, was ich alles mit dem Fahrrad erreichen konnte und wie selten ich auf das Auto angewiesen war.
Angetrieben von der Tatsache, dass Lasse an all seine geliebten Spielsachen problemlos rankam, fing Milan recht früh mit dem Laufen an. Es war mitten in der Woche. Ich war am Kochen und beobachtete Milan dabei, wie er sich an einem Stuhl hochzog. Er schaute mich an und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich lächelte zurück und lobte ihn überschwänglich: „das machst du toll mein Schatz, du bist schon so groß!“. Seit ein paar Wochen konnte er das und er war stolz wie Oscar. Bevor ich mich aber wieder den brodelnden und dampfenden Kochtöpfen zuwenden konnte, ließ Milan das Stuhlbein los und wankte unsicher von einem Fuß auf den anderen. Ich blieb für Sekunden erstarrt stehen und traute meinen Augen nicht. Dann begriff ich, was da gerade passiert war und schnellte in Windeseile um die Küchenzeile herum und hockte mich mit ausgestreckten Armen vor ihm. Milan`s Augen waren weit aufgerissen und seine Mundwinkel wussten nicht genau, was sie machen sollten. Es wechselte sich ein bizarres Grinsen mit einem „O“ geformten Mund munter ab. Mit dem dritten Schritt ließ sich Milan glücklich in meine Arme fallen. Vor lauter Aufregung vergaß ich zu atmen und merkte es erst als Milan in meinen Armen lag. Ein tiefer Atemzug füllte meine stolze Mamabrust und ich drückte Milan ganz fest an mich. Kleine Tränen ließen meine Sicht verschwimmen und liefen heiß die Wange herunter. „Oh krass, du kannst laufen“. Milan strahlte mich an als ob er es verstand. Sicher, er hatte nicht das Navi erfunden oder mit der Entwicklung der Cloud das Internet revolutioniert, jedoch war es eines dieser Ereignisse im Leben, welches ich nie vergessen werde. Mir tat Sören in diesem Moment so unendlich leid, der auf Arbeit war und es verpasst hatte. Als er nach Hause kam, lief ich ihm entgegen und erzählte alles haarklein, ohne Punkt und Komma. Mein Kopf lief rot an und es sprudelte nur so aus meinem Mund. So ein Mist, ich hatte das Atmen mal wieder vergessen. Sören war aus dem Häuschen und versuchte Milan zu motivieren es zu wiederholen. Da es aber schon recht spät war, fand Milan die Idee nicht so klasse und kuschelte sich lieber in meinem revolutioniertånn mit Milan hat mich verändert. Was mir vorher wichtig war ist jetzt ohne Bedeutung und meine Ansichten zu einigen Themen sind divergent. So ein kleines Würmchen dreht alles mal auf Links. Aber dieses Abenteuer lohnte sich und machte mein Leben heller aber auch zugegeben anstrengender.
Den erste Schritt im Leben war Milan gegangen und es werden noch unzählige weitere folgen. "Was wird wohl mal aus ihm werden?", dachte ich und der Wunsch nach einer Glaskugel machte sich in mir breit.
Milan ist heute fast dreißig Jahre alt und glaubt mir, nie, wirklich nie im Leben hätte ich seine Entwicklung erahnen können.
 

yza

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Sehr schöner Text.... ( ?? ?? ??)
Als Mann kann man ja nur froh sein, dass man nur Beobachter ist ^ö^ Aber ich weiß noch, dass ich auch immer ein wenig neidisch war, da ich dachte so nah wie Mama, wirst du deinen Kindern nie sein.
Es gibt aber auch als 'Beobachter' nichts Größeres in meinem Leben, als die Geburten meiner Kinder und verfolgt zu haben, wie sie aufwuchsen. Aber Mama hat weitaus mehr durchgemacht...
(????)
Ach so, will ich mal erwähnen... Bin grade Opa geworden und da wiederholt sich das alles nochmal. Der Beobachter fiebert genauso mit seiner Tochter und ihrem Kind
 

SThiel

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„Wow, hat der aber große Füße“. Das waren die Worte des Arztes, der Milan mit einem Kaiserschnitt entbunden hatte. Ein grünes Tuch versperrte mir den Blick und wegen der Peridualanästhesie spürte ich nur einen Ruck im Körper. "Konnte mein Entengang, den ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte, Einfluss auf die Größe seiner Füße haben?" Aber diesen Gedanken schob ich gleich zur Seite, als mir die Krankenschwester Milan auf meine Brust legte. Was für ein durchgeknallter Arzt, Milan war das süßeste und wohlproportionierte Baby aller Zeiten. Die objektive Meinung einer Mama, die im Leben noch nie so kleine Füße gesehen hatte.
Es war schon weit nach Mitternacht als ich erschöpft in meinem Zimmer einschlief. Anders als erwartet war die Nacht traumlos und ruhig. Am nächsten Morgen brachte mir die Krankenschwester Milan. Er schlief und wirkte so zufrieden. Es war ein Wunder, dass dieser kleine Wurm gestern noch in meinem Bauch war und nun in meinem Arm lag. In mir breitete sich eine große Ehrfurcht vor Mutter Natur aus. Es überwältigte mich und lies mich für einen Moment den Atem anhalten. „Krass“, entsprang aus meinem Mund und ich verharrte einige Minuten und starrte Milan dabei unentwegt an. Langsam schweifte mein Blick von Milan zu meinem Bauch. Mein Shirt spannte dort, wo Milan gestern noch drin war. Wie war das möglich? Habe ich Zwillinge und die Ärzte haben das andere Kind nicht entdeckt? Ich zwang mich zur Ruhe. „Jetzt überleg mal ganz rational“, ermahnte ich mich selber. „Der Bauch ist sooo groß! Von wegen rational, das ist nicht normal!“ Meine Gedanken galoppierten und ließen sich nicht mehr stoppen. Jedes Szenario, das sie mir aufzeigten. war schlimmer als das vorherige. Mein Herz schlug schneller und ich spürte, dass mein Mund trocken wurde. Ohne weiter nachzudenken klingelte ich nach der Krankenschwester. Einen kurzen Moment später öffnete sich die Tür und eine schlanke Brünette mit schulterlangem Haar lächelte mich an. Ihr auberginefarbener Kittel lag nicht eng an, doch er ließ darunter auf einen gut durchtrainierten Körper schließen. Die schmerzhafte Sehnsucht nach meinem früheren Körper versuchte sich einzuschleichen. Ich schob sie beiseite und noch bevor mein Gegenüber sich vorstellen konnte, platzte ich mit meiner unglaublichen Entdeckung heraus. Dabei blickte ich abwechselnd von Milan zu meinem übergroßen Bauch. „Warum steht sie noch da und holt nicht den Arzt?“ schoss es durch meinen Kopf. Wenn die Situation nicht so dramatisch gewesen wäre, hätte ich das leichte Zucken um ihren Mund als Schmunzeln deuten können. Was für eine absurde Interpretation. Sie hatte als professionelle Fachkraft mit Sicherheit den Ernst der Lage sofort erkannt und war jetzt nur in einer Art Schockstarre. Was dann folgte, reihte sich in meine persönliche Top 10 der peinlichsten Momente ein. Sie versuchte nach Leibeskräften ihr Schmunzeln nicht zu einem Grinsen oder gar Lachen mutieren zu lassen. Doch es gelang ihr nicht. Schnell hatte sie ihre Fassung wieder und erklärte mir einfühlsam, dass alles in Ordnung sei und der Körper für die Rückbildung Zeit benötige. Da saß ich nun und fühlte mich wie das größte Dummerchen auf dieser Welt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl noch öfters haben werde.
Sören kam wie verabredet nach dem Frühstück. Wir sprachen nicht viel, sondern genossen diesen Moment und beteuerten immer wieder, welch ein großes Glück wir in unseren Händen halten. Bevor ich in Gedanken versinken konnte, kam die Hebamme und zeigte mir geduldig, wie ich Milan zum Trinken an die Brust legen musste. Was sich so einfach anhört, entpuppte sich zu einem Schauspiel, bei dem der Hauptakteur seinen Einsatz vergaß. Milan war wenig bis gar nicht daran interessiert. Verzweifelt schaute ich die Hebamme an und spürte die tiefe Traurigkeit des Versagens in mir. Meine Angst, die mich schon während der Schwangerschaft heimsuchte und mich zweifeln ließ, dass ich jemals eine gute Mutter sein werde und der Verantwortung gerecht werden könnte, umhüllte mich wie ein bleiender Mantel. „So, jetzt ist aber mal gut! Das wird schon alles, du musst nur positiv denken! Es war eben nur ein holpriger Start und ab jetzt geht es bergauf!“ Ob ich mich mit diesen Gedanken wirklich beruhigen konnte, bezweifele ich mal sehr stark, doch sie gaben mir wieder Kraft und Mut. Sören legte seinen Arm um mich und ohne dass wir es aussprachen war uns klar, dass wir es gemeinsam schaffen werden. Die Tage im Krankenhaus vergingen. Sören kam wie jeden Morgen in mein Zimmer und fand mich tränenüberströmt vor. Ich schluchzte und meine aufgequollenen Augen sahen ihn hilfesuchend an. Er stürzte zu mir und fragte was los sei. Statt einer Antwort erhielt er eine Mischung aus Grunzen und unmenschlichen Lauten. „Ist was mit Milan?“ Sören wurde panisch und sah besorgt in das Bettchen, in dem Milan seelenruhig schlief. Ich schüttelte nur den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Dann stieß ich gequält „Hommmomen“ aus und Sören schaute mich entgeistert an. „Was soll das heißen?“ Er nahm mich fest in den Arm bis ich wieder in der Lage war zu reden. „Es sind die Hormone, das meinte zu mindestens die Krankenschwester“, stammelte ich und spürte, wie sich die nächste Heulattacke hochrollte. Sichtlich erleichtert streichelte Sören meinen Kopf und so beruhigte ich mich zusehend. „Verdammt, was ist nur aus mir geworden? Wo ist nur die Powerfrau, der nichts zu viel ist? Sobald ich hier raus bin, werde ich mein Leben wieder in die Hand nehmen und mich nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Hormonen die Laune vermiesen. Soweit kommt es noch!“ Und mit diesem Auftrieb verbrachte ich die letzten 2 Tage im Krankenhaus und wir fuhren von dort aus direkt nach Hamburg, unserem neuen Zuhause, in das wir 2 Wochen vor der Entbindung gezogen sind.
Sören holte uns am Freitag ab und wir kümmerten uns das Wochenende gemeinsam um Milan. Alles war fremd, die Wohnung, die Umgebung und vor allem, dass wir Milan jetzt bei uns hatten. Mein Körper schmerzte und sehnte sich nach Ruhe und Schlaf. Als sich Sören am Montagmorgen verabschiedete und Richtung Heidelberg aufbrach, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich schaute Milan beim Schlafen zu und horchte in mich hinein und suchte das Gefühl der Liebe. Diese tiefe Liebe, die ich bei Sören, meiner Familie und meiner besten Freundin fühlte. Ich nahm ein Gefühl wahr, aber es war nicht so stark und überwältigend, wie ich mir Mutterliebe vorstellte. „Liebe ich Milan genug“, schoss es durch meinen Kopf. Alles war so unbekannt und mich umgab ein Dunst von Unsicherheit und Überforderung. „Wunderbar!“ polterte es aus meinem Mund. „Wir machen uns jetzt einen tollen Tag“, sagte ich freudestrahlend zu Milan – und auch zu mir. Milan war jetzt wach und ich drückte ihn fest an mich während eine Träne hat sich ihren Weg entlang meiner Wange gesucht hatte. Einen Moment lang wollte ich es genießen, Milan und ich eng miteinander verbunden. Doch Milan fand das Ganze irgendwie nicht so ergreifend. Wenn ich sein „Bäääähhhhhh“ in der Tonlage und der Lautstärke, in der er es mir entgegen brüllte, waghalsig von Babysprache ins Deutsche übersetzen würde, dann wäre das das Ergebnis: „Jetzt hör mal mit der Gefühlsduselei auf und eröffne endlich die Milchbar! Und falls du es nicht gemerkt hast, es krümelt schon da unten und ich stinke wie ein Berber! Also zack!“ Als ich Milan gestillt und gewickelt hatte, schaute er wieder rundum zufrieden aus. Das war doch der Beweis für eine perfekt funktionierende Kommunikation! Oder hatte der Kleine mich jetzt schon gut im Griff? Quatsch, ich entschied mich für die erste Variante, damit fühlte ich mich selbstbestimmter – und als Meisterin des Schönredens war von mir auch nichts anderes zu erwarten. Eigentlich wollte ich mich zu Milan legen, der jetzt friedlich schlummernd in meinem Bett lag, doch der Schmerz in meinem Unterleib, der mich seit heute früh piesackte, nahm stündlich zu. Gegen Mittag entschied ich mich einen Arzt anzurufen. Wenn etwas nicht läuft, dann wirklich alles nicht. Die Ärztin am Ort hatte Urlaub, der angegebenen Vertretung war der Weg zu mir zu weit und so blieb mir nur einen weiteren Arzt ausfindig zu machen. Ich kannte mich dort nicht aus und war maßlos überfordert. Etliche Telefonate und vielen Tränen später hat sich einer bereiterklärt mich nach seiner Sprechstunde Zuhause aufzusuchen. Nun ja, das Ende vom Lied war, dass Milan und ich am Abend noch in die Klinik mussten. Nach dem Motto: Schlimmer geht immer, wurde unser Start sehr herausfordernd. Die Klinikärztin diagnostizierte eine Gebärmutterentzündung wegen verzögerter Rückbildung der Gebärmutter. Ich weiß nicht, wie es anderen erging. Wenn ich ins Krankenhaus kam, drehte sich ein unsichtbarer Schalter auf „Krank-Sein-Modus“ um und alle vegetativen Systeme fuhren runter. Es fühlte sich ein wenig wie „dahinsiechen“ an. „Frau Doktor, beugen sie sich bitte zu mir, ich kann nicht so laut sprechen“, sprach ich mit kaum hörbarer Stimme und zaghaft hauchte ich ihr ins Ohr: “Wie lange hab ich noch?“. Solch eine Szene hätte perfekt zu meinem Gemütszustand gepasst und mich zur Dramaqueen des Monats gekürt. Applaus, Applaus! Doch wie hätte sowas mit Milan im Schlepptau funktionieren können? Also alles auf Anfang und Szene „Krankenhaus“ die Zweite! Natürlich riss ich mich zusammen und habe alle Untersuchungen und Therapien brav mitgemacht und mich so gut es ging um Milan gekümmert. Nach 2 Tagen waren wir endlich wieder draußen.
Milan und ich waren viel alleine und konnten unseren Neuanfang gemeinsam angehen. Wenn Milan schlief, schlief ich auch und wenn er wach war, habe ich ihn gestillt, gewickelt, gebadet, und und und. Milan hatte großen Hunger und wurde oft wach. So kam ich im ersten Monat kaum aus meinen Schlafsachen raus und ähnelte eher einem Zombie als einem menschlichen Wesen. Die milchgefüllten Brüste drückten und das „Andocken“ von Milan war jedes Mal eine Tortur, die meine Gesichtszüge entgleiten ließen. Die entspannten Mütter beim Stillen, die in Hochglanz auf den Elternzeitschriften abgebildet waren, wirkten dabei auf mich wie eine erbärmliche Lüge. „Das alles muss sich ändern“, sagt ich zu Milan, der mir mit einem Aufstoßen und einem Schwall Milch zustimmte. Nun stand ich jeden Tag um acht auf, duschte und schminkte mich und suchte mir sorgfältig die Kleidung aus. Immerhin bin ich nicht nur Mama sondern auch Frau und so wollte ich mich auch wieder fühlen. Die erste Hürde, die ich überwinden musste, war der Strahl Milch, der mir nach der Dusche beim Aufheben des Handtuchs aus der Brust spritzte. Mit meiner Milch hätte ich locker eine Kinderklinik satt bekommen können. Pragmatisch und lösungsorientiert, wie wir Mütter nun mal so sind, habe ich mein Duschen immer direkt nach dem Stillen gelegt. So leicht ist das Leben.
Milan entwickelte sich prächtig und das bestätigte auch die Kinderärztin. Wir waren schon ein tolles Team. Das fühlte ich ganz tief in mir. Doch dieser kurze Augenblick der Zufriedenheit hielt leider nicht lange an. Milan bekam heftige Bauchschmerzen und die Ärztin sprach von 3-Monats-Koliken. „Klasse, nicht das auch noch“, durchfuhr es mich. Tage und Nächte schrie Milan immer wieder vor Schmerz und ich legte ihn auf eine kleine Wärmflasche auf meinen Schoß, massierte ihn, gab ihm Fencheltee und versuchte ihn zu beruhigen. Stundenlang lief ich mit ihm auf dem Arm durch die Wohnung und versuchte ihn mit einem Singsang in den Schlaf zu wiegen. Wären es ein oder zwei Tage so gewesen, hätte ich müde drüber lächeln können. Doch nach Wochen erfuhr ich hier und da massive Grenzerfahrungen. Was mir während der Zeit wirklich geholfen hat, war meine klare Prioritätensetzung. Für mich standen Milan, Sören und ich obenan. Im Haushalt habe ich nur das Nötigste gemacht und für mehr war kein Platz. Meine Familie und Freunde wohnten knapp 200 km von mir entfernt und so mussten wir es alleine schaffen und das haben wir auch. So plötzlich wie es kam, ging es auch wieder und Milan war wieder der Strahlemax, der mir mit seinem zauberhaften Lächeln den Tag versüßte.
Milan entdeckte mehr und mehr sein Umfeld. Seine Augen wurden wacher und an seinem Mobilé, das über seinem Bettchen hing, konnte er sich nicht satt sehen. Was von der harten Zeit übrig geblieben war - er schlief sehr schlecht ein. Wer jetzt glaubt, dass wir mitten in der Nacht mit dem Auto durch den Ort fuhren, weil er so besser einschlief, der hat sich sowas von nicht getäuscht. Ja, wir erfüllten da wirklich jedes Klischee von ratlosen Eltern. Doch wie sagt man immer: alles was hilft hat Berechtigung! Nun ja, nach etlichen nächtlichen Touren haben wir es endlich eingesehen und akzeptiert: unser Sohn braucht wenig Schlaf! So lächerlich es sich auch anhören mag, aber mit dieser neuen Haltung stresste es uns nicht mehr, wenn Milan erst später einschlief. Wir genossen die gewonnene Zeit zu dritt, da Sören oft erst spät abends von der Arbeit kam.
Jeden Tag marschierte ich mit Milan eine kilometerlange Strecke. Der Winter rückte immer näher und so peitschte mir ein eisiger und bissiger Wind entgegen, der sich auf meinen Wangen wie kleine Nadelstiche anfühlte. Der Schlafmangel schwächte meinen Körper und mir war ständig kalt, mal mehr und mal weniger. Milan lag im Kinderwagen, eingemummelt in einen Winterschlafsack auf einem Lammfell und einer Kuscheldecke. Er schlief und sah dabei so zufrieden aus. Mein Angebot an ihn, die Plätze nur für einen kurzen Moment zu tauschen, ignorierter er mit einem Knaueln auf seinem Schnuller. So verging Tag für Tag und ich war mir mittlerweile sicher, dass das Trainingslager für das Besteigen des Himalayas nicht härter sein konnte. Milan und ich wuchsen zu einem richtig guten Gespann zusammen. Ich kümmerte mich um die Milchbar, das Wickeln und den Spaziergängen und er schenkte mir eins seiner bezaubernden Lächeln, das mein Herz aufgehen ließ. Nach meiner Meinung, hatte ich den besseren Deal gemacht.
Wir kannten in unserer Umgebung niemanden und auch das musste sich schleunigst ändern. Was liegt nicht näher als eine Krabbelgruppe. Über Wochen habe ich mich fast ausschließlich mit Milan unterhalten. Sicher, die Gespräche verliefen sehr einseitig, aber es war ok. Und nun hatte ich eine Horde Mütter vor mir, die über ihre Kinder sprachen, als ob sie Einsteins waren. Welches Kind was schon kann, war wohl ein internes Wettrennen, dessen Spielregel und Sinn mir bis heute unergründlich blieben. Aber Milan hatte sichtlich Spaß mit den anderen Kindern, so dass ich alles andere freundlich lächelnd ertrug.
Mit sanften Vorboten kündigte sich der Frühling an. Die Tage wurden wieder länger und die ersten Frühlingsblumen brachten wieder Farbe ins Leben. Der erste Frühling für Milan, der erste, den wir gemeinsam erlebten. Bei unseren täglichen Touren hörten wir die Zugvögel zurückkehren. Mit wachen Augen verfolgte er die Schwärme am Himmel. Ich weiß nicht mehr genau, was mich damals geritten hatte, aber ich öffnete meinen Mund und trällerte aus vollem Halse:“ Alle Vögel sind noch da, alle Vögel, alle“. Milans Augen weiteten sich, sie wirkten erst verwirrt und dann eher voller Schmerz. Als wenn er von einer Wespe gestochen wurde, schrie er nach Leibeskräften. Sofort hörte ich mit meinem Trällern auf, nahm ihn auf meinen Arm und tröstete ihn. Mir war schlagartig klar, dass er kein Fan von Frühlingsliedern war. Eine Erkenntnis, mit der ich mich, wenn ich Ruhe habe, erst einmal auseinandersetzen musste. Denn eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Wir hatten es wirklich gut miteinander. Morgens um Vier hörten wir den Zeitungsmann, der die Straße entlang fuhr während ich auf dem Sofa saß und Milan stillte. Danach legten wir uns nochmal schlafen und wir wachten immer so gegen halb Neun Uhr auf und begannen gemeinsam den Tag. Einen Rhythmus, an den ich mich schon gewöhnt hatte. Doch dann kam der bis dahin schrecklichste Morgen meines Lebens. Ich machte meine Augen auf und war noch ganz schläfrig. Daher realisierte ich auch echt spät, dass es hell war und so blickte ich auf die Uhr, die eine Zahl anzeigte, die nicht angehen konnte. 9, es war 9 Uhr und nicht 4. „Das kann nicht sein! Milan hätte doch längs Hunger haben müssen“ und dann durchfuhr eine panische Angst meinen Körper. Tränen liefen an meinen Wangen entlang und ich war wie erstarrt. Meine Angst in Milans Kinderbett zu schauen, das neben mir stand, war so groß, dass ich eine Weile in der Position verharrte. Mein Herz raste und in Bruchteilen von Sekunden schossen die schlimmsten Bilder durch meinen Kopf. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schaute neben mir. Milan atmete gleichmäßig ein und aus und schlief friedlich. Anstatt ihn anzulächeln heulte ich los, die Tränen liefen und liefen. Da spürte ich zum ersten Mal, dass ich diesen kleinen Fratz so sehr liebte, dass ich ohne ihn nicht sein konnte und auch nicht wollte. Er war die Sonne für mich. Er erhellte mein Leben, brachte mich zum strahlen und erwärmte mein Herz. Gleichermaßen spürte ich aber auch, dass ich auf mich achtgeben musste, damit ich nicht verbrenne und mich verliere. Wie ich das anstellen sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. „Hat noch Zeit“, beruhigte ich mich und schob den Gedanken achtlos zur Seite.
Als Mama gewann ich ungeahnte Fähigkeiten. Einarmig konnte ich ein Essen zubereiten, aufräumen und mich stylen. An einhändig Schuhe zubinden oder Geschenke einpacken, scheiterte ich jedoch kläglich. Milan lag vergnügt in meinem anderen Arm und schaute sich das Geschehen sehr interessiert an. Allerdings verlor ich auch Fähigkeiten. In einem Gespräch neigte ich immer mehr dazu die Sätze nicht zu beenden. „Schatz, am Wochenende kommen Jenny und Martin. Können wir mit ihnen nicht das Dings besuchen und danach vielleicht im..“, und dann war Schweigen und ich widmete mich wieder dem Ausräumen des Geschirrspülers zu. Sören konnte nur erraten: was meinte sie mit Dings? Und wie schaute der Plan nach dem Dingsbesuch aus? „Ich weiß nicht, was du meinst! Du sprichst in Rätseln“, polterte es ungehalten aus ihm heraus. Da ich es aber so gar nicht wahrnahm, wusste ich nicht, was er von mir wollte. In meinen Kopf waren es doch klare und vollständige Sätze. So schmetterte ich ihm verständnislos und erbost entgegen: „Ach man, hör mir doch bitte mal richtig zu, dann wüsstest du das!“ Für mich war es eindeutig, das Problem war auf seiner Seite! Ja ja, das leidige Thema der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Aber das war nicht der einzige Stolperstein in unserer Beziehung. Wir verloren uns aus den Augen und unser Leben drehte sich nur noch um Milan.
Das Abstillen, das stufenweise erfolgen sollte, indem man das Stillen nach und nach durch eine Mahlzeit ersetzt, hat Milan selbstbestimmend in die Hand genommen. Er weigerte sich von einem Moment zum anderen an meiner Brust zu trinken nach dem Motto: „Ich will jetzt nicht mehr, ich bin doch schon groß!“ Tja, da saß ich nun mit meinen prallgefüllten Brüsten und hatte keinen Abnehmer mehr. Auch hier greift das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Ich hätte meine Milch an jeden Dahergelaufenen verschenkt. „Vielleicht sollte ich am Gartenzaun ein Schild aufstellen – täglich frische Muttermilch kostengünstig abzugeben“, kam mir in den Sinn. Vor hundert Jahren hätte ich mir so als Amme ein paar Groschen dazu verdienen können, aber dieses Geschäftsmodell hatte längst ausgedient. Auf so eine Situation war ich nicht vorbereitet und musste erst einmal alle Optionen recherchieren. Mühselig kramte ich alle Hefte und Ratgeber zum Thema Abstillen raus und breitete sie vor mir auf dem Tisch aus. Eins nach dem anderen las ich sorgfältig durch und mir schwante nichts Gutes. Die illustrierten Bilder zeigten den C-Griff, der scheinbar in eingeweihten Kreisen eingängiger Begriff war, mir war er jedoch bis dato völlig unbekannt. So übte ich fleißig das Ausstreichen meiner harten und schmerzhaften Brüste, die ich vorher mit einem feuchtwarmen Handtuch und einer Massage ein wenig gelockert hatte. „Ein halbes Jahr nach der Geburt und ich fühle mich immer noch wie eine Kuh, die gemolken wird, und jetzt melke ich mich sogar schon selbst! Wie tief muss ich als Frau denn noch sinken?“ Der Gedanke frustrierte mich, denn ich war gerade dabei mein Frau-Dasein wieder auf die rechte Spur zu bringen. Mein Gewicht hatte sich – Dank des Stillens – wieder normalisiert und mein Friseurbesuch letzte Woche puschte mein Selbstbewusstsein ordentlich nach oben. „Manno, ich will meinen Körper zurück!“ sagte ich laut zu mir und stampfte dabei bekräftigend auf den Boden. Doch alles Jammern half nichts, das war der Weg. Doch auch dieser Weg hatte Stolpersteine und so saß ich eines Abends mit einer Brustentzündung und in Quark eingehüllten Brüsten auf dem Sofa vor dem Fernseher. Als Sören von der Arbeit nach Hause kam, rief ich aus dem Wohnzimmer: „Schatz, dein Essen ist im Kühlschrank, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen!“ Er schaute um die Ecke und verharrte in seiner Bewegung. „Schick“, meinte er und seine Mundwinkel zuckten wild hin und her. Schnell verschwand er in der Küche und ich hörte ein unterdrücktes Grunzen und Schnauben.
Auf einem unserer ausgedehnten Spaziergänge, die Milan mittlerweile im Buggy sitzend genoss, lernten wir Peggy und Lasse kennen. Peggy war Krankenschwester und arbeitete, wie ihr Mann auch, in Früh- und Spätschichten. Ihr Sohn Lasse war ein halbes Jahr älter als Milan und strahlte mich offen und freundlich an. Wir vier waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten seitdem viel Zeit miteinander. Wir fuhren mit den Kindern viel Fahrrad und besuchten gerne einen nahegelegenen See oder suchten so unsere Lieblings-Eisdiele auf. Zwischen Peggy und mir entwickelte sich eine richtig schöne Freundschaft. Wenn Peggy Frühschicht hatte und ihr Mann Spätschicht, oder umgekehrt, entstand ein Zeitraum, in dem Lasse nicht betreut werden konnte. Kurzerhand war Lasse nunmehr öfters vom späten Vormittag bis zum frühen Nachmittag bei uns. Und wir genossen es sehr. Er war eine Bereicherung und Milan schaute sich vieles von Lasse ab. Die Beiden waren so vergnügt miteinander und jedes Mal wenn Lasse durch die Tür kam, erhellten sich Milan`s Augen und er strahlte übers ganze Gesicht. Jeden Mittag kochte ich für uns und achtete dabei sehr auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung. Vielleicht habe ich es damals auch ein wenig übertrieben, aber ich wollte alles richtig machen. Die Zutaten hierfür holte ich von einem 10 Kilometer entfernten Biohof. Milan und ich fuhren einmal in der Woche mit dem Fahrrad dorthin und kauften unsere Wochenration an frischem Gemüse und Fleisch ein. Während dieser Tour schlief Milan regelmäßig ein und hing dann wie ein schlaffer Sack in den Gurten seines Kindersitzes. Sein Fahrradhelm verhinderte, dass er den Kopf nach hinten fallen lassen konnte, so dass er leicht nach vorne gebeugt und schräg im Sitz hing. Bequem ist sicher was anderes. Doch was macht man nicht alles für eine richtig gesunde Mahlzeit. Sören und ich hatten nur ein Auto. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich unser Auto benötigte, musste ich Sören zur Arbeit bringen und auch wieder abholen. Das bedeutete, dass ich Milan morgens um 6 Uhr weckte, wickelte und anzog und wir Papa zu seiner Arbeit bringen mussten, die eine Dreiviertelstunde Autofahrt von uns entfernt war. Und am Abend das ganze nochmal. Es ist erstaunlich, was ich alles mit dem Fahrrad erreichen konnte und wie selten ich auf das Auto angewiesen war.
Angetrieben von der Tatsache, dass Lasse an all seine geliebten Spielsachen problemlos rankam, fing Milan recht früh mit dem Laufen an. Es war mitten in der Woche. Ich war am Kochen und beobachtete Milan dabei, wie er sich an einem Stuhl hochzog. Er schaute mich an und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich lächelte zurück und lobte ihn überschwänglich: „das machst du toll mein Schatz, du bist schon so groß!“. Seit ein paar Wochen konnte er das und er war stolz wie Oscar. Bevor ich mich aber wieder den brodelnden und dampfenden Kochtöpfen zuwenden konnte, ließ Milan das Stuhlbein los und wankte unsicher von einem Fuß auf den anderen. Ich blieb für Sekunden erstarrt stehen und traute meinen Augen nicht. Dann begriff ich, was da gerade passiert war und schnellte in Windeseile um die Küchenzeile herum und hockte mich mit ausgestreckten Armen vor ihn. Milan`s Augen waren weit aufgerissen und seine Mundwinkel wussten nicht genau, was sie machen sollten. Es wechselte sich ein bizarres Grinsen mit einem „O“ geformten Mund munter ab. Mit dem dritten Schritt ließ sich Milan glücklich in meine Arme fallen. Vor lauter Aufregung vergaß ich zu atmen und merkte es erst als Milan in meinen Armen lag. Ein tiefer Atemzug füllte meine stolze Mamabrust und ich drückte Milan ganz fest an mich. Kleine Tränen ließen meine Sicht verschwimmen und liefen heiß die Wange herunter. „Oh krass, du kannst laufen“. Milan strahlte mich an als ob er es verstand. Sicher, er hatte nicht das Navi erfunden oder mit der Entwicklung der Cloud das Internet revolutioniert, jedoch war es eines dieser Ereignisse im Leben, welches ich nie vergessen werde. Mir tat Sören in diesem Moment so unendlich leid, der auf Arbeit war und es verpasst hatte. Als er nach Hause kam, lief ich ihm entgegen und erzählte alles haarklein, ohne Punkt und Komma. Mein Kopf lief rot an und es sprudelte nur so aus meinem Mund. So ein Mist, ich hatte das Atmen mal wieder vergessen. Sören war aus dem Häuschen und versuchte Milan zu motivieren es zu wiederholen. Da es aber schon recht spät war, fand Milan die Idee nicht so klasse und kuschelte sich lieber in meinem Arm.
Milan hat mich verändert. Was mir vorher wichtig war ist jetzt ohne Bedeutung und meine Ansichten zu einigen Themen sind divergent. So ein kleines Würmchen dreht alles mal auf Links. Aber dieses Abenteuer lohnte sich und machte mein Leben heller aber auch zugegeben anstrengender.
Den erste Schritt im Leben war Milan gegangen und es werden noch unzählige weitere folgen. "Was wird wohl mal aus ihm werden?", dachte ich und der Wunsch nach einer Glaskugel machte sich in mir breit.
Milan ist heute fast dreißig Jahre alt und glaubt mir, nie, wirklich nie im Leben hätte ich seine Entwicklung erahnen können.
 



 
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