Willi Corsten
Mitglied
Die Traumhüterin aus der Provence
von Willi Corsten
Sidonia war eine weise Frau, die sich im Reich der Zauberwelt gut auskannte. Nacht für Nacht humpelte sie durch die holprige Dorfstraße, ruhte ein Weilchen auf dem Kirchplatz aus und betrachtete versonnen die uralten Platanen, die ringsum den Platz säumten. Dann rückte sie die weiße Spitzenhaube zurecht und setzte ihre einsame Wanderung fort. Unterwegs sammelte sie alle Liebesträume ein, die aus den Fenstern der jungen Leute schwebten. Die Träume sollten nicht nutzlos in die Wolken steigen, denn aus ihnen konnte man doch trefflich zarte Bindungen knüpfen und gutmütige Ränkespiele schmieden. Sidonia trug die hauchfeinen Gebilde in ihre Stube, füllte Stück für Stück in bereit stehende Gläser und klebte bunte Zettel obenauf, die mit den Namen der Träumer versehen waren. Dann stellte sie die Gläser in den Eichenschrank.
Eines Tages geschahen in der Stube seltsame Dinge. Sidonias schwarze Katze Pompadour schnurrte geheimnisvoll, trippelte auf leisen Pfoten durchs Zimmer und öffnete die Schranktür. Das Glas mit der Aufschrift Gerard purzelte herunter von seinem Platz und zerschellte auf dem steinernen Fußboden. Behutsam nahm Sidonia den Traum in die Hand, zupfte die Scherben aus seinem Gewebe und suchte nach einem neuen Gefäß für den Unglücksraben. Allein, ihr Vorrat war erschöpft, weil im Monat Mai die Liebe Purzelbäume schlägt. Sidonia krauste besorgt die Stirn. Eile war geboten, denn ein Traum verliert viel von seiner Kraft und Hoffnung, wenn er schutzlos der rauen Welt ausgeliefert ist. Die Turmuhr schlug Zwölf, das Traumgebilde in Sidonias Hand zitterte wie ein versagendes Herz.
Da huschte ein Lächeln über das Gesicht der alten Frau. Mit schelmisch blitzenden Augen nahm sie aus der unteren Reihe das Glas, auf dem Arlette geschrieben stand, öffnete den Deckel und fügte den Traum des jungen Mannes hinzu. Dann fegte sie die Scherben vom Boden auf, schlenderte zu ihrer Truhe und kramte Stoff für ein weißes Hochzeitskleid heraus.
Ein paar Jahre später wurde Sidonia krank und musste lange Zeit das Bett hüten. Sie erholte sich jedoch wieder von der bösen Erkältung und setzte bald schon ihre nächtlichen Streifzüge fort. Kinderträume waren es nun, die sie in der Dorfstraße sammelte und behutsam in die Stube trug.
Wenn aber der Sturmwind an den Dachziegeln rüttelte, und die graue Nebelfee über die Felder der Provence geisterte, saß die Alte am Tisch und schaute sich verträumt in der niederen Stube um. Von der Decke herab baumelten zahlreiche Büschel getrockneter Oregano und blaue Blüten leuchteten als Farbtupfer aus dem Salbei hervor. Sidonias Blick wanderte hinüber zu dem kleinen Hausaltar. Neben der Bibel war ein Ehrenplatz reserviert. Im Kerzenlicht funkelte dort ein fein geschliffenes Kristallglas, das Sidonia fest in ihr Herz geschlossen hatte. ‚Carolines Mitternachtstraum‘ stand in zierlichen Buchstaben darauf geschrieben.
Sidonias Gedanken wanderten zurück zu der Taufe des Kindes und weiter zurück zu den stolzen Eltern, Arlette und Gerard. Die alte Frau lächelte, holte Wolle aus dem Körbchen und klapperte bald munter mit den Stricknadeln. Diesmal war es ein rotes Sommerkleidchen, an dem sie arbeitete.
Die Zeit eilte ins Land. Caroline war nun fünf Jahre alt. Sie tollte oft draußen auf der Wiese herum und spielte vergnügt mit der kleinen Ziege, die sie sich so sehr in ihrem Mitternachtstraum gewünscht hatte. Der Wind trug den Geruch des Meeres heran und die Briese mischte sich mit dem Duft von Lavendel, Thymian und Rosmarin. Die Sommerwiese war getaucht in das goldene Licht der Provence. Ein bunter Schmetterling gaukelte durch die Luft, kam näher und landete auf dem roten Kleidchen, das Caroline heute trug.
Als die Sonne sich hinter einer kleinen Wolke versteckte, stand das Mädchen auf und schlenderte heimwärts, vorbei an den weiten Blumenfeldern, die in verschwenderischer Pracht den Wegrand säumten. Einen Strauß davon pflückte Caroline für ein Grab, das sie fast jeden Tag besuchte. Dunkelviolett leuchtende Lavendelblüten, dankbare Erinnerungen an eine weise Frau, die ein Leben lang an die Macht der Träume geglaubt hatte.
von Willi Corsten
Sidonia war eine weise Frau, die sich im Reich der Zauberwelt gut auskannte. Nacht für Nacht humpelte sie durch die holprige Dorfstraße, ruhte ein Weilchen auf dem Kirchplatz aus und betrachtete versonnen die uralten Platanen, die ringsum den Platz säumten. Dann rückte sie die weiße Spitzenhaube zurecht und setzte ihre einsame Wanderung fort. Unterwegs sammelte sie alle Liebesträume ein, die aus den Fenstern der jungen Leute schwebten. Die Träume sollten nicht nutzlos in die Wolken steigen, denn aus ihnen konnte man doch trefflich zarte Bindungen knüpfen und gutmütige Ränkespiele schmieden. Sidonia trug die hauchfeinen Gebilde in ihre Stube, füllte Stück für Stück in bereit stehende Gläser und klebte bunte Zettel obenauf, die mit den Namen der Träumer versehen waren. Dann stellte sie die Gläser in den Eichenschrank.
Eines Tages geschahen in der Stube seltsame Dinge. Sidonias schwarze Katze Pompadour schnurrte geheimnisvoll, trippelte auf leisen Pfoten durchs Zimmer und öffnete die Schranktür. Das Glas mit der Aufschrift Gerard purzelte herunter von seinem Platz und zerschellte auf dem steinernen Fußboden. Behutsam nahm Sidonia den Traum in die Hand, zupfte die Scherben aus seinem Gewebe und suchte nach einem neuen Gefäß für den Unglücksraben. Allein, ihr Vorrat war erschöpft, weil im Monat Mai die Liebe Purzelbäume schlägt. Sidonia krauste besorgt die Stirn. Eile war geboten, denn ein Traum verliert viel von seiner Kraft und Hoffnung, wenn er schutzlos der rauen Welt ausgeliefert ist. Die Turmuhr schlug Zwölf, das Traumgebilde in Sidonias Hand zitterte wie ein versagendes Herz.
Da huschte ein Lächeln über das Gesicht der alten Frau. Mit schelmisch blitzenden Augen nahm sie aus der unteren Reihe das Glas, auf dem Arlette geschrieben stand, öffnete den Deckel und fügte den Traum des jungen Mannes hinzu. Dann fegte sie die Scherben vom Boden auf, schlenderte zu ihrer Truhe und kramte Stoff für ein weißes Hochzeitskleid heraus.
Ein paar Jahre später wurde Sidonia krank und musste lange Zeit das Bett hüten. Sie erholte sich jedoch wieder von der bösen Erkältung und setzte bald schon ihre nächtlichen Streifzüge fort. Kinderträume waren es nun, die sie in der Dorfstraße sammelte und behutsam in die Stube trug.
Wenn aber der Sturmwind an den Dachziegeln rüttelte, und die graue Nebelfee über die Felder der Provence geisterte, saß die Alte am Tisch und schaute sich verträumt in der niederen Stube um. Von der Decke herab baumelten zahlreiche Büschel getrockneter Oregano und blaue Blüten leuchteten als Farbtupfer aus dem Salbei hervor. Sidonias Blick wanderte hinüber zu dem kleinen Hausaltar. Neben der Bibel war ein Ehrenplatz reserviert. Im Kerzenlicht funkelte dort ein fein geschliffenes Kristallglas, das Sidonia fest in ihr Herz geschlossen hatte. ‚Carolines Mitternachtstraum‘ stand in zierlichen Buchstaben darauf geschrieben.
Sidonias Gedanken wanderten zurück zu der Taufe des Kindes und weiter zurück zu den stolzen Eltern, Arlette und Gerard. Die alte Frau lächelte, holte Wolle aus dem Körbchen und klapperte bald munter mit den Stricknadeln. Diesmal war es ein rotes Sommerkleidchen, an dem sie arbeitete.
Die Zeit eilte ins Land. Caroline war nun fünf Jahre alt. Sie tollte oft draußen auf der Wiese herum und spielte vergnügt mit der kleinen Ziege, die sie sich so sehr in ihrem Mitternachtstraum gewünscht hatte. Der Wind trug den Geruch des Meeres heran und die Briese mischte sich mit dem Duft von Lavendel, Thymian und Rosmarin. Die Sommerwiese war getaucht in das goldene Licht der Provence. Ein bunter Schmetterling gaukelte durch die Luft, kam näher und landete auf dem roten Kleidchen, das Caroline heute trug.
Als die Sonne sich hinter einer kleinen Wolke versteckte, stand das Mädchen auf und schlenderte heimwärts, vorbei an den weiten Blumenfeldern, die in verschwenderischer Pracht den Wegrand säumten. Einen Strauß davon pflückte Caroline für ein Grab, das sie fast jeden Tag besuchte. Dunkelviolett leuchtende Lavendelblüten, dankbare Erinnerungen an eine weise Frau, die ein Leben lang an die Macht der Träume geglaubt hatte.