die uhr, aus meinen memoiren

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gareth

Mitglied
Ich habe nicht den geringsten Anlass, bluefin, dir zu unterstellen, du wärst literarisch blind oder Dich in irgend einer Weise anzugreifen. Ich drücke mich nur manchmal etwas knapp aus. In diesem Fall mag das daran liegen, dass ich all das kenne, was flammarion da erzählt, genau so oder vergleichbar, aus eigener Erfahrung (sonst hätte ich möglicherweise einen ähnlichen Kommentar geschrieben, wie Du das getan hast).

Du kennst es offenbar nicht und das ist die bessere Variante.

Mir wäre es recht lieb, wenn wir uns darüber nicht streiten würden.

In diesem Sinn
gareth
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

ich glaube auch, dass bluefin zu jung ist, um die damaligen verhältnisse verinnerlichen zu können. sie wurde wahrscheinlich nicht mit dem schwarzen mann geängstigt oder dass der nachtrabe kommt und ihr die augen auspickt, wenn sie nicht auf der stelle einschläft.
meine erziehungsberechtigte tante wurde im jahre 1872 geboren, das muss man sich mal auf der zunge zergehen lassen, dann kann man abschätzen, was ich so alles erlebt habe.
lg
 
B

bluefin

Gast
ja, womöglich bin ich zu jung geblieben, liebe @flammarion (aber nochmal: ich bin kein mädchen, sondern ein junge).

dass es elternhäuser gibt, in denen kinder wie selbstverständlich mit primitivsten mitteln zur raison gebracht werden, ist kein kennzeichen einer alten zeit, die so "gut" war, dass man sie sich heute noch "auf der zunge zergehen lassen" müsste, @flammarion. die von dir geschilderten grausamkeiten gibt's gewiss heute immer noch, deinem motto "hat uns damals ja auch nicht geschadet" folgend.

derlei ansätze, die sich in deiner schrift finden, wurden von mir nicht eo ipso kritisiert, sondern ihre unreflektiertheit, die letzlich den ganzen artikel oberflächlich erscheinen lässt.

dass jemand, der sich daran aufhält, nicht gleich als verständnisloser ignorant angesehen werden muss, mag euch, liebe @flammarion und lieber @gareth, das nachfolgende beispiel zeigen - hier hat eine autorin das "lesen zwischen den zeilen" nicht nur gutwillig akzeptiert, sondern sogar mit humor genommen.

http://www.leselupe.de/lw/titel-Im-Programmkino-89078.htm

lg

bluefin
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

hilfst du mir mal bitte auf die sprünge? was steht denn da zwischen den zeilen? für mich ist das eine geradlinige, eindeutige kurzgeschichte mit pointe.
da steht viel eher in obiger berichterstattung etwas zwischen den zeilen.
aber vielleicht ist es das, was du mit unreflektiert bezeichnest. ich hab mich in diesem kapitel absichtlich nicht mit reflexionen beschäftigt, weil ich derer genug in den anderen kapiteln habe.
lg
 
B

bluefin

Gast
gerne helf ich dir, @flammarion.

was du an anderer stelle in anderen geschichten worüber schreibst, ist unbenommen. ich kann und will mich hier nur auf den gegenständlichen text beziehen, und der berichtet, außer dass er mundartliches über die erklärung der zeit enthält, über eine kindheit, die nicht so einfach gewesen sein kann (warum, mag ich nicht nochmal wiederholen).

der aufmerksame leser entnimmt dies dem geschilderten milieu und den aktionen der beschriebenen figuren; er wundert sich (bzw. bedauert ein wenig), dass sich die autorin angesichts der gegebenheiten mit naiven schilderungen aufhält, statt ein wenig in die tiefe zu gehen (es muss ja nicht gleich ein abgrund sein).

mag sein, dass du mich deshalb nicht verstehen willst, weil du über eigenes berichtest und nun durch einen dahergelaufenen wie mich mit der nase darauf gestoßen wirst, dass die "geschichte" eigentlich von vorn bis hinten von einer not berichtet, die (jedenfalls in der geschichte) weder theamtisiert noch reflektiert wird.

du verstehst immer noch nicht (obwohl du den link, den ich dir gegeben habe, verfolgt hast)?

okay, dann auf die ganz simple tour: in einer ähnlichen geschichte kommt auch vor, dass eine uhr kaputt gegangen ist und dass keine möglichkeit war, sie zu reparieren oder ein andenken an sie zu bewahren, obwohl sie doch dazu diente, die zeit erklärt zu bekommen.

in dieser anderen geschichte war krieg, und eine bombe hat das haus getroffen, und ausser der uhr ist auch noch die omi verbrannt und der wellensittich. aber das spielt gar keine rolle in der story, das wird nur am rande erwähnt: entscheidend ist, dass die uhr weg ist und kein zeiger übrig blieb. meint der autor.

und das, liebe @flammarion, ist - literarischen anspruch vrausgesetzt - oberflächlich. in dem milieu, von dem du uns berichtest, steckte viel mehr als nur ein regulator und ein simples zifferblatt. siehst du das wirklich nicht?

lg

bluefin
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

ich fürchte, du hast den link falsch gesetzt. er führte mich nämlich zu einem kinobesuch mit einem unterbezahlten getränk.

sei doch mal so lieb und gib mir einen konkreten hinweis, wie du die sache mit meiner uhr besser beschreiben würdest. man steckt ja oft in den erinnerungen fest wie in einem sumpf . . .
lg
 
B

bluefin

Gast
der link stimmt schon, liebe @flammarion. du müsstest dich duch die kommentare der geschichte kämpfen, um festzustellen, dass auch da der kritiker dinge sah, die der autorin (und dem publikum) scheinbar verborgen geblieben sind und er deshalb nicht mitschmunzeln konnte.

natürlich ist dein bericht nicht verlgeichbar mit einer notiz über hiroshima, aber die beängstigend laute uhr neben dem kinderbett, die oberflächlichkeit der bezugspersonen und, am schlimmsten, die verweigerung eines andenkens an ein erbstück (sic!), das schier geschlachtet wurde wie ein tier (und zwar sinnlos, wie mir scheint), sind bilder, die wesentlich prägender sind als das beliebige herumfahren auf einem zifferblatt. das kind, um das es geht, war offenbar bis nach seiner pubertät im "offenen vollzug" und hatte keine rechte auf fantasie und seine persönliche sicht der dinge.

von einer solchen prota mag man sich keine geschichterln über die kunst des uhrenablesens anhören - die gehörte in den arm genommen und mit ein bisschen schokolade gefüttert, und ihr gehörte erklärt, dass die engel ganz oben auf der schrecklichen uhr wahnsinnig wichtig sind, weil sie alles wieder gut machen können. oder noch kaputter.

"schallend lachen" ist körperverletzend und will körperverletzend sein: man trötet dem gegenüber mit voller kraft ins ohr, um ihn taubstumm zu machen. kinder werden traurig oder aggressiv, wenn man sie auslacht. sie wollen ernst genommen und verstanden werden. dann fangen sie keine kriege an und wissen, wie man andere tröstet.

es wär so simpel und wird doch dauernd übersehn.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

gareth

Mitglied
bluefin, ich hab jetzt bis hierher gelesen:

dass jemand, der sich daran aufhält, nicht gleich als verständnisloser ignorant angesehen werden muss, mag euch, liebe @flammarion und lieber @gareth...

und damit hat es sich jetzt erst mal für mich. Ich glaube, ich habe mich klar ausgedrückt und einfach keine Lust, immer wieder das Gleiche zu sagen, nur weil jemand nicht lesen will was da steht.
 
K

Kasper Grimm

Gast
Ach Gott, Bluefin, kann es sein, daß Du Dich aufgrund von Pseudokritik profilieren willst? Denn keines Deiner Argumente sticht bei mir. Vielmehr steigerst Du Deine Provokation - wohin?
Ich mag einfach nicht auf Deine Argumentation eingehen.
Es erweist sich, daß ein Autor ein Autor ist - aber nicht gleichzeitig ein guter Kritiker: bleib bei Deinen Texten: da überzeugst Du mich - im Gegensatz zu Deinen Krirtiken.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
so

brav, wie ich nun mal bin, habe ich jetzt auch die koms gelesen - es ist und bleibt eine geschichte über einen kinobesuch, wo sich am ende herausstellt, dass der "Barkeeper" der besitzer des kinos ist. sorry.
deine koms in meinem fall empfinde ich als wenig hilfreich.
aber die von dir erwähnte geschichte kenne ich, sie ist, wenn ich nicht irre, von wolfgang borchert. und dass du mich mit ihm misst, ehrt mich ja nun wieder . . .
lg
 
B

bluefin

Gast
da sieht man's mal wieder, wie schwierig es ist, sich zu verständigen.

ich hatte gehofft, mit

dass jemand, der sich daran (an der unreflektiertheit) aufhält, nicht gleich als verständnisloser ignorant angesehen werden muss, mag euch, liebe @flammarion und lieber @gareth, das nachfolgende beispiel zeigen - hier hat eine autorin das "lesen zwischen den zeilen" nicht nur gutwillig akzeptiert, sondern sogar mit humor genommen.

http://www.leselupe.de/lw/titel-Im-Programmkino-89078.htm
deutlich genug zum ausdruck gebracht zu haben, dass es mir nicht um die "kinogeschichte" eo ipso gehe, sondern um ihre rezension.

es mag sein, liebe @flammarion, dass dir der link und die art und weise, wie die (altbekannte) geschichte kommentiert wurde, persönlich nicht "weiterhelfen", wie du sagst. das ändert aber nichts daran, dass unreflektierte erzählungen wie jene oder die deine im sorgfältigen - und damit anspruchsvollen - leser einen zwiespalt dem autor gegenüber auslösen.

du verstehst immert noch nicht?

in der renzension der kinogeschichte hab ich gesagt:

deine geschichte ist gleichwohl außergewöhnlich, finde ich: weil die ihr innewohnende tragik weder von der autorin selbst noch vom publikum bemerkt wird.

der äußere schein trügt meist nur dann, wenn nicht genau genug hingeschaut wird. es ist wie im zirkus - alle lachen laut, während der clown heimlich weint.

nichts für ungut, liebe @justina - just my 2 cents. schreiben kannst du gut.
damit könnten wir es, glaube ich, bewenden lassen. vielleicht lässt du's mal ein bisschen in dir ruhen und kommst irgendwann wieder darauf zurück - unter umständen war der disput ja doch hilfreich - so oder so.

jedenfalls lernt man sich dabei (literarisch) kennen. und das ist ja auch schon mal was, nicht wahr?

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
uff,

ich sollte also aus den koms zu einer geschichte, die mit der meinen nichts gemein hat, einen suchen, der zu meiner geschichte passt?
damit hast du jetzt einen bleibenden eindruck hinterlassen!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Regulator
Zu unserem Mobiliar gehörte auch eine Standuhr. Ein fast zwei Meter hoher, schwarzer Schrein, in den die Zeit eingesargt war. Ich habe diese Uhr gehasst und geliebt. Gehasst, weil sie neben meinem Bett stand und ich sie unter Androhung schlimmster Strafe nicht berühren durfte, und ich habe sie geliebt für ihre Zuverlässigkeit, für ihren harmonischen Klang, wenn sie die Stunde schlug und für ihre schnörkelreichen Verzierungen.
Sie stand auf kleinen gedrechselten Säulenbeinen, es sah aus, als wären zwei dicke schwarze Perlen zwischen zwei dicke schwarze Würfel geklemmt worden. Darüber folgte das Glasteil, in dem man die gleichförmigen Bewegungen des goldenen Pendels verfolgen konnte, und man sah auch die Gewichte, die den Gang der Uhr regelten. Ihre Bewegungen waren erst nach Stunden festzustellen. Als ich in die romantische Phase des Backfischalters eintrat, waren diese Gewichte für mich Sinnbilder des Lebens: Wer hoch steigt, kann tief fallen, nur wer die tiefsten Tiefen durchmessen hat, weiß Freude und Glück zu schätzen, Freud und Leid halten sich oft die Waage, was dich drückt, kann dich einst erheben, usw.
In für mich ehrfurchtgebietender Höhe leuchtete das Zifferblatt mit seinen reich verzierten römischen Zahlen und den filigranen Zeigern. Wie unerbittliche Augen wirkten die zwei Öffnungen, durch welche man mit einem Spezialschlüssel die Uhr aufziehen konnte, damit sie alle Viertelstunden schlug. Bei einem Viertel tat sie ein Bing, bei zwei Vierteln zwei Bing, bei drei Vierteln drei Bing und bei der vollen Stunde tat sie zuerst vier Bing und dann so viele Bong, wie der kleine Zeiger bestimmte. Häufig hielt ich in meiner Beschäftigung inne, um diesem Klang zu lauschen. Jeder Gast unterbrach seine Rede, wenn unsere Uhr schlug.
Auf dem Gehäuse saßen zwischen hölzernen Ranken und Rosetten zwei kleine pausbackige Englein mit erhobenem Zeigefinger. Daher war ich als Dreijährige fest überzeugt, dass sie diese Harmonie von Schönheit, Zeit und Wohlklang erzeugten. Meine diesbezügliche Bemerkung wurde mit schallendem Gelächter honoriert. Aber das verletzte mich nicht. Ich freute mich, die Oma zum Lachen gebracht zu haben, denn nichts war schöner für mich, als frohe Menschen um mich zu haben.
Im zweiten Schuljahr lernten wir, die Uhrzeit zu erkennen. Das heißt, bei mir mühte sich die Lehrerin vergeblich. Ich begriff ihre Rede nicht. Ida fragte, warum ich eine 5 bekommen hatte und ich antwortete: "Ick weeß die Uhrzeit nich." Sie eilte in die Stube und sagte: "Det is zehn nach einzen, aba wat soll det deine Lehrerin jetz nützn?" Ich erklärte nun, dass in unserem Rechenbuch Uhren abgebildet sind und wir die Zeit auf diesen Uhren angeben sollten. Zufällig war Gerda gerade bei uns zu Besuch. Sie sah in das Buch und sagte: "Na, Mensch, det is doch janz einfach! Un det kannst de nich?" - "Nee.", erwiderte ich traurig. Sie sagte: "Na, ick muß jetz leida jehn. Du lernst det schon. Tschüß."
Mein Lehrbuch blieb offen auf dem Küchentisch liegen. Ida versuchte, mir die Uhr zu erklären, aber ihre Rede glich der der Lehrerin, ich verstand gar nichts. Grete L. kam, um etwas zu borgen. Ida erzählte ihr von dem neuen "Kumma mit die Jöre, die zu blöd is, det Einfachste zu bejreifn". Grete L. kam zu mir in die Stube und bemitleidete mich, daß ich die Uhr an einem römischen Zifferblatt lernen musste und brachte mir erst einmal bei, dass die drei Striche eben eine drei bedeuten und dass es dann viertel ist. Das war alles, was ich von ihrer wortreichen Erklärung begriff. Ich wurde schon selber ganz wütend darüber, dass ich die Uhr nicht lesen konnte. Für meine Mitschüler war es keine Kunst, die meisten von ihnen gingen selbständig zur Schule und wussten genau, zu welcher Uhrzeit sie von zu Hause losgehen mussten.
Endlich überließ Grete L. mich wieder mir selber. Ich stand vor der Uhr und blickte sie hasserfüllt an. Wie oft hatte ich schon begeistert zugesehen, wie der große Zeiger langsam von Ziffer zu Ziffer glitt! Ich wusste, daß die Uhrzeiger über hundert unterschiedliche Stellungen einnehmen konnten. Über hundert! Das war eine so große Zahl, dass ich mich außerstande fühlte, diese Stellungen jemals unterscheiden und verstehen zu können.
Irma kam nach Hause, begrüßte Ida in der Küche und wunderte sich, dass mein Lehrbuch aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Grete L. sagte: "Die doowe Krille bejreift die Uhr nich!"
Irma kam zu mir, legte einen Arm um mich und sagte: "Det gloob ick einfach nich, det du dazu zu deemlich sein sollst. Wir schtelln uns jetz ma hier hin un sehn der Uhr zu, denn wern wa schon dahintakomm, wat se uns saacht." Endlich rückte der große Zeiger einen Strich weiter. "Siehste", sagte Irma, "nu is eene Minute um." Ich nickte. "Der Abschtand von eem Schtrich zum andan is eene Minute", erklärte sie. "Jede Schtunde hat sechzich Minutn. Det heißt, det der jroße Zeija an eem Tach zwölfmal um det janze Ziffablatt muß, weil der Tach zwölf Schtundn hat. Wenn a eenma rum is, is eene Schtunde um. Janz oohm schteht die zwölf, danehm is die eins. Det macht nischt, dass det hier römische Zahln sind. Du kannst doch von eins bis zwölf zeehln, also weeßte ooch, uff welche Zahl der kleene Zeija jetz schteht." - "Uff jakeene!" - "Richtich, jetz schteht a zwischen zwee Zahln." So erklärte sie mir geduldig alles, und am nächsten Tag konnte ich die schlechte Zensur ausbügeln.
Als ich älter war, fragte ich Ida, warum sie die Uhr "Rejelata" nennt, sie regelt doch die Zeit nicht, sondern zeigt sie nur an? Da sagte sie unwirsch: "Du weeßt aba ooch allet bessa!"
Eines Tages tat es in der Uhr einen lauten Knacks, begleitet von einem disharmonischen Singen. Dem hundertjährigen Uhrwerk war eine Feder gebrochen, und niemand konnte sie ersetzen. So wurde das Familienerbstück zu Brennholz zerspellt. Die Metallteile kamen in den Müll. Gern wollte ich einen Zeiger als Andenken aufbewahren, aber Ida verbot es mit dem Bibelzitat: "Du sollst dein Herz nicht an eitlen Tand hängen!" Mit wehem Herzen sah ich aus dem Fenster zu, wie die Nachbarskinder die Zeiger aus der Mülltonne holten und mit ihnen spielten, bis die kleinen filigranen Kunstwerke nur noch unansehnliches Metall waren.
 



 
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