Der Regulator
Zu unserem Mobiliar gehörte auch eine Standuhr. Ein fast zwei Meter hoher, schwarzer Schrein, in den die Zeit eingesargt war. Ich habe diese Uhr gehasst und geliebt. Gehasst, weil sie neben meinem Bett stand und ich sie unter Androhung schlimmster Strafe nicht berühren durfte, und ich habe sie geliebt für ihre Zuverlässigkeit, für ihren harmonischen Klang, wenn sie die Stunde schlug und für ihre schnörkelreichen Verzierungen.
Sie stand auf kleinen gedrechselten Säulenbeinen, es sah aus, als wären zwei dicke schwarze Perlen zwischen zwei dicke schwarze Würfel geklemmt worden. Darüber folgte das Glasteil, in dem man die gleichförmigen Bewegungen des goldenen Pendels verfolgen konnte, und man sah auch die Gewichte, die den Gang der Uhr regelten. Ihre Bewegungen waren erst nach Stunden festzustellen. Als ich in die romantische Phase des Backfischalters eintrat, waren diese Gewichte für mich Sinnbilder des Lebens: Wer hoch steigt, kann tief fallen, nur wer die tiefsten Tiefen durchmessen hat, weiß Freude und Glück zu schätzen, Freud und Leid halten sich oft die Waage, was dich drückt, kann dich einst erheben, usw.
In für mich ehrfurchtgebietender Höhe leuchtete das Zifferblatt mit seinen reich verzierten römischen Zahlen und den filigranen Zeigern. Wie unerbittliche Augen wirkten die zwei Öffnungen, durch welche man mit einem Spezialschlüssel die Uhr aufziehen konnte, damit sie alle Viertelstunden schlug. Bei einem Viertel tat sie ein Bing, bei zwei Vierteln zwei Bing, bei drei Vierteln drei Bing und bei der vollen Stunde tat sie zuerst vier Bing und dann so viele Bong, wie der kleine Zeiger bestimmte. Häufig hielt ich in meiner Beschäftigung inne, um diesem Klang zu lauschen. Jeder Gast unterbrach seine Rede, wenn unsere Uhr schlug.
Auf dem Gehäuse saßen zwischen hölzernen Ranken und Rosetten zwei kleine pausbackige Englein mit erhobenem Zeigefinger. Daher war ich als Dreijährige fest überzeugt, dass sie diese Harmonie von Schönheit, Zeit und Wohlklang erzeugten. Meine diesbezügliche Bemerkung wurde mit schallendem Gelächter honoriert. Aber das verletzte mich nicht. Ich freute mich, die Oma zum Lachen gebracht zu haben, denn nichts war schöner für mich, als frohe Menschen um mich zu haben.
Im zweiten Schuljahr lernten wir, die Uhrzeit zu erkennen. Das heißt, bei mir mühte sich die Lehrerin vergeblich. Ich begriff ihre Rede nicht. Ida fragte, warum ich eine 5 bekommen hatte und ich antwortete: "Ick weeß die Uhrzeit nich." Sie eilte in die Stube und sagte: "Det is zehn nach einzen, aba wat soll det deine Lehrerin jetz nützn?" Ich erklärte nun, dass in unserem Rechenbuch Uhren abgebildet sind und wir die Zeit auf diesen Uhren angeben sollten. Zufällig war Gerda gerade bei uns zu Besuch. Sie sah in das Buch und sagte: "Na, Mensch, det is doch janz einfach! Un det kannst de nich?" - "Nee.", erwiderte ich traurig. Sie sagte: "Na, ick muß jetz leida jehn. Du lernst det schon. Tschüß."
Mein Lehrbuch blieb offen auf dem Küchentisch liegen. Ida versuchte, mir die Uhr zu erklären, aber ihre Rede glich der der Lehrerin, ich verstand gar nichts. Grete L. kam, um etwas zu borgen. Ida erzählte ihr von dem neuen "Kumma mit die Jöre, die zu blöd is, det Einfachste zu bejreifn". Grete L. kam zu mir in die Stube und bemitleidete mich, daß ich die Uhr an einem römischen Zifferblatt lernen musste und brachte mir erst einmal bei, dass die drei Striche eben eine drei bedeuten und dass es dann viertel ist. Das war alles, was ich von ihrer wortreichen Erklärung begriff. Ich wurde schon selber ganz wütend darüber, dass ich die Uhr nicht lesen konnte. Für meine Mitschüler war es keine Kunst, die meisten von ihnen gingen selbständig zur Schule und wussten genau, zu welcher Uhrzeit sie von zu Hause losgehen mussten.
Endlich überließ Grete L. mich wieder mir selber. Ich stand vor der Uhr und blickte sie hasserfüllt an. Wie oft hatte ich schon begeistert zugesehen, wie der große Zeiger langsam von Ziffer zu Ziffer glitt! Ich wusste, daß die Uhrzeiger über hundert unterschiedliche Stellungen einnehmen konnten. Über hundert! Das war eine so große Zahl, dass ich mich außerstande fühlte, diese Stellungen jemals unterscheiden und verstehen zu können.
Irma kam nach Hause, begrüßte Ida in der Küche und wunderte sich, dass mein Lehrbuch aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Grete L. sagte: "Die doowe Krille bejreift die Uhr nich!"
Irma kam zu mir, legte einen Arm um mich und sagte: "Det gloob ick einfach nich, det du dazu zu deemlich sein sollst. Wir schtelln uns jetz ma hier hin un sehn der Uhr zu, denn wern wa schon dahintakomm, wat se uns saacht." Endlich rückte der große Zeiger einen Strich weiter. "Siehste", sagte Irma, "nu is eene Minute um." Ich nickte. "Der Abschtand von eem Schtrich zum andan is eene Minute", erklärte sie. "Jede Schtunde hat sechzich Minutn. Det heißt, det der jroße Zeija an eem Tach zwölfmal um det janze Ziffablatt muß, weil der Tach zwölf Schtundn hat. Wenn a eenma rum is, is eene Schtunde um. Janz oohm schteht die zwölf, danehm is die eins. Det macht nischt, dass det hier römische Zahln sind. Du kannst doch von eins bis zwölf zeehln, also weeßte ooch, uff welche Zahl der kleene Zeija jetz schteht." - "Uff jakeene!" - "Richtich, jetz schteht a zwischen zwee Zahln." So erklärte sie mir geduldig alles, und am nächsten Tag konnte ich die schlechte Zensur ausbügeln.
Als ich älter war, fragte ich Ida, warum sie die Uhr "Rejelata" nennt, sie regelt doch die Zeit nicht, sondern zeigt sie nur an? Da sagte sie unwirsch: "Du weeßt aba ooch allet bessa!"
Eines Tages tat es in der Uhr einen lauten Knacks, begleitet von einem disharmonischen Singen. Dem hundertjährigen Uhrwerk war eine Feder gebrochen, und niemand konnte sie ersetzen. So wurde das Familienerbstück zu Brennholz zerspellt. Die Metallteile kamen in den Müll. Gern wollte ich einen Zeiger als Andenken aufbewahren, aber Ida verbot es mit dem Bibelzitat: "Du sollst dein Herz nicht an eitlen Tand hängen!" Mit wehem Herzen sah ich aus dem Fenster zu, wie die Nachbarskinder die Zeiger aus der Mülltonne holten und mit ihnen spielten, bis die kleinen filigranen Kunstwerke nur noch unansehnliches Metall waren.