Die wirklich trübe Zeit - Spaltvers-Sonett

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HerbertH

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Die wirklich trübe Zeit

Es ist noch viel zu warm, noch ist es viel zu hell.
Du siehst wohl ziemlich weit, doch manches bleibt verschwommen.
Die wirklich trübe Zeit, das Schwarz wird endlich kommen.
Am Himmel zieht ein Schwarm, die Schreie schrillen grell.
Es wächst die Dunkelheit, Du wirst schon ganz benommen.
Dein Herz schreit laut Alarm und Schmerz wird zum Skalpell,
ganz taub und lahm Dein Arm, Dein Puls schlägt rasend schnell.
Im Meer der Traurigkeit schwimmst Du, doch ganz beklommen.
Von tiefer Not gepackt hilft Dir kein Sonnenglanz,
blickt Leben nie zurück, nicht Poesie noch Lieben:
Du wirst bald eingesackt, man ruft zum letzten Tanz.
Bist Du ein gutes Stück vom Glauben abgetrieben,
vom Frommen abgehackt vor prächtigster Monstranz -
Vermisst Du nicht Dein Glück? Ist Dir ein Freund geblieben?
 

HerbertH

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Hab Dank, lieber Walther :)

Das Sonett korrespondiert zu Deinen Seelenliedern, obwohl ich die zum Schreibzeitpunkt noch nicht gelesen hatte.

Liebe Grüße

Herbert
 

Walther

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lb. herbert,

manchmal ergeben sich überlappungen. dein gedicht ist in form und inhalt wirklich herausragend. schade, daß sich bisher niemand weiteres meldet ...

lg w.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Walther,

ich bin noch guter Hoffnung. Ansonsten kann ich es ja zumindest in meinem immer dicker werdenden LLwerke.rtf mit gewissem Stolz einbringen. :)

Ich habe schon überlegt, ob ich die "gespaltenen" beiden Gedichte für die Leser noch dazustellen soll, die sich unter Spaltvers nicht so viel vorstellen können. Was meinst Du dazu?

Liebe Grüße

Herbert
 

Walther

Mitglied
hi herbert,

das wäre sicher eine gute idee. ich habe das in einem fall durch einen zeilenumbruch mit einrückung der zweiten zeilenhälfte und in einem anderen durch ein "/" zeichen gekennzeichnet.

lg w.
 

HerbertH

Mitglied
Die wirklich trübe Zeit - Spaltverse gespalten

Es ist noch viel zu warm // noch ist es viel zu hell.
Du siehst wohl ziemlich weit // doch manches bleibt verschwommen.
Die wirklich trübe Zeit // das Schwarz wird endlich kommen.
Am Himmel zieht ein Schwarm // die Schreie schrillen grell.
Es wächst die Dunkelheit // Du wirst schon ganz benommen.
Dein Herz schreit laut Alarm // und Schmerz wird zum Skalpell,
ganz taub und lahm Dein Arm // Dein Puls schlägt rasend schnell.
Im Meer der Traurigkeit // schwimmst Du, doch ganz beklommen.
Von tiefer Not gepackt // hilft Dir kein Sonnenglanz,
blickt Leben nie zurück // nicht Poesie noch Lieben:
Du wirst bald eingesackt // man ruft zum letzten Tanz.
Bist Du ein gutes Stück // vom Glauben abgetrieben,
vom Frommen abgehackt // vor prächtigster Monstranz -
Vermisst Du nicht Dein Glück? // Ist Dir ein Freund geblieben?

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Es ist noch viel zu warm,
Du siehst wohl ziemlich weit
Die wirklich trübe Zeit.
Am Himmel zieht ein Schwarm.
Es wächst die Dunkelheit,
Dein Herz schreit laut Alarm -
ganz taub und lahm Dein Arm.
Im Meer der Traurigkeit,
Von tiefer Not gepackt
blickt Leben nie zurück:
Du wirst bald eingesackt,
Bist Du ein gutes Stück
vom Frommen abgehackt -
Vermisst Du nicht Dein Glück?

---

Noch ist es viel zu hell,
Doch manches bleibt verschwommen:
Das Schwarz wird endlich kommen.
Die Schreie schrillen grell.
Du wirst schon ganz benommen
und Schmerz wird zum Skalpell -
Dein Puls schlägt rasend schnell.
Schwimmst Du, doch ganz beklommen,
Hilft Dir kein Sonnenglanz,
Nicht Poesie noch Lieben:
Man ruft zum letzten Tanz.
Vom Glauben abgetrieben,
Vor prächtigster Monstranz -
Ist Dir ein Freund geblieben?
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Man sieht hier deutlich, dass Alexandriner-Formen sich gut für Spaltverse eignen, weil sie ja in sich schon die Zäsur aufweisen.
 

Walther

Mitglied
hi bernd,

das ist richtig, allerdings wird dieser text genau ignoriert wie viele andere wirklich gelungene. schade drum!

lg w.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Walther, ich denke nicht, dass ein Gedicht ignoriert wird, wenn es gelesen wird.
Ich habe es mehrmals gelesen, aber im Moment fällt es mir schwer, etwas zu schreiben.
 

HerbertH

Mitglied
Ich danke Euch für Eure Gedanken zu diesem Gedicht. Es würde mich freuen, wenn es auch inhaltlich diskutiert würde.

Liebe Grüße

Herbert
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die wirklich trübe Zeit

Ein Titel, der meiner Stimmung entspricht. Es ist eine sehr merkwürdige Zeit, und es ist nicht das Wetter.



Es ist noch viel zu warm, noch ist es viel zu hell.

Eine schöne, vielseitige Metapher und Feststellung.
1. Es sollte kälter werden, dann würde es besser. Es sollte dunkler werden, dann würde es besser. Es entwickelt sich in diese Richtung.
"Noch ist es viel zu hell" deutet seine Negation an. "Zu" gibt den subjektiven Eindruck.
2. Vom Standpunkt des Neoliberalen muss es kälter werden. Nicht um die Leute zu quälen, sondern um egoistisch ein besseres eigenes Ergebnis zu erzielen. Dazu gehört ein Mindestmaß an Arbeitslosigkeit von ca. 5...8 %, das die Löhne niedrig hält (Angebot und Nachfrage). Dazu gehört die Verlogenheit, dass man bis 67 arbeiten soll. In Wahrheit wird man so früh, wie es möglich ist, gefeuert, wenn die Leistungsfähigkeit nachlässt. Es ist eine sarkastische Zeile.


Du siehst wohl ziemlich weit, doch manches bleibt verschwommen.
1. politisch - es gelingt nicht, die Zukunft vorherzusagen, aber man rührt schön im Kaffeesatz.
2. familiär: Familienplanung ist kaum langfristig möglich.


Die wirklich trübe Zeit, das Schwarz wird endlich kommen.
Aber: was auch kommt, es geht schlimmer.


Am Himmel zieht ein Schwarm, die Schreie schrillen grell.
Erinnert mich an die Vögel, die auf das Verenden der Tiere warten, um sich auf das Aas zu stürzen.
Auch der Film "die Vögel".
Irrationale Gefahr zieht auf.


Es wächst die Dunkelheit, Du wirst schon ganz benommen.
Die Gefahr wird größer, das Gleichgewicht gerät aus den Fugen.


Dein Herz schreit laut Alarm und Schmerz wird zum Skalpell,
Das Herz, der innere Motor, droht zu versagen. Überbelastet, überdreht.


ganz taub und lahm Dein Arm, Dein Puls schlägt rasend schnell.
der Schlaganfall droht (Ähnlich ist es bei Lungenembolie.)
Die Geschwindigkeit steigt, die Welt gerät aus dem Takt.
Vieles, was immer schneller wird, wird sinnlos.


Im Meer der Traurigkeit schwimmst Du, doch ganz beklommen.
Das Dunkel, die Depression ergreift Besitz, ist da, wird ständiger Begleiter.


Von tiefer Not gepackt hilft Dir kein Sonnenglanz,
Ein Ausweg ist nicht in Sicht.

blickt Leben nie zurück, nicht Poesie noch Lieben:
Verzicht auf die Vergangenheit, Verzicht auf das Erinnern bedeuten baldigen Tod.


Du wirst bald eingesackt, man ruft zum letzten Tanz.
Das wiederholt es, direkter.
Persönlich und gesellschaftlich am Ende.

Bist Du ein gutes Stück vom Glauben abgetrieben,
Der Glauben an die Marktwirdschaft und ihre Freuden ist erloschen.

vom Frommen abgehackt vor prächtigster Monstranz -
man verliert die Verbindung selbst zu den bösen alten Geistern. Bedauern schwingt mit.

Vermisst Du nicht Dein Glück? Ist Dir ein Freund geblieben?
Und alles ist fort. Vom ganzen Scheinwohlstand ist nichts geblieben. Der Neoliberalismus ist umgekippt, hat die Familien zerstört, auseinandergetrieben. Vor lauter Arbeit, zu der man gezwungen schien, ist nichts geblieben. Die Kontakte sind zerbrochen.
Ein schönes Abbild unserer Gesellschaft im Zeitalter der Agenda 2010 Schröders, der Freundschaft und Gemeinsamkeit negiert.
Ein Blick kurz vor dem resultierenden Tod.
Ohne Hoffnung, ein düsteres Gedicht.
Und ich gehe zur Psychotherapie..
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Bernd,

die Grundstimmung hast Du wirklich sehr treffend beschrieben.
Es ist halt "die wirklich trübe Zeit".

Durch den sozialkritischen Ansatz hast Du dem Ganzen einen ganz eigenen Deutungszusammenhang geschaffen, der das Gedicht in die heutige Zeit holt.

Vielen Dank für die sehr originelle Interpretation des Gedichts.

Liebe Grüße

Herbert
 



 
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