Die Zeit der Glühwürmchen
Die Schatten waren länger geworden. Sie hatten sich langsam über die niedrige Brustwehr geschoben und reichten jetzt bereits weit in den flachen Graben hinein. Erst hatten sie nur Pauls Füße, dann seine Oberschenkel und später auch Bauch und Brustkorb bedeckt. Nun, wo sie endlich auf seinen Kopf fielen, wurden sie von einem schwachen Aufatmen empfangen. Paul spürte, wie sich auch noch ein feiner Lufthauch zu dem Schatten gesellte, und wie beide vereint etwas von der ersehnten Kühlung brachten. Nur den quälenden Durst vermochten sie nicht zu mildern. Der saß nach wie vor schmerzhaft dörrend in der Kehle, hatte die Zunge in der trockenen Mundhöhle immer mehr verpelzen lassen und beherrschte seit Stunden Pauls ganzes Sein.
Langsam drehte er sich zur Seite, suchte mit beiden Händen nach der Feldflasche und begann sie mit verzweifelter Hartnäckigkeit zu schütteln.
„Leer!“ Er hätte nicht sagen können, wie oft in den vergangenen Stunden diese vernichtende Feststellung schon über seine aufgeplatzten Lippen gekommen war. Zuerst sachlich quittierend, dann wütend herausschreiend und schließlich nur noch dumpf resignierend.
Sein verstörter Blick fiel auf den toten Tom.
„Hast mir alles weggesoffen, Bruder. Und wozu? Nur, um dann doch zu sterben.“
Paul lachte wütend in das von einem langen Todeskampf entstellte und nun zur Fratze erstarrte Gesicht des Kameraden. Es war ein kurzes, trockenes Lachen, das schließlich in einem Hustenanfall mündete. Ihm war, als zöge jemand Stacheldraht durch seine Luftröhre.
„Du hast es genau gewusst und trotzdem immer wieder um Wasser gebettelt. Ich hätte dir nichts geben sollen. War doch klar, dass Du mit deinem zerfetzten Bauch drauf gehen würdest.“
Mit einem scheuen Blick streifte er dieses klumpige Gemisch aus schwarz geronnenem Blut, herausquellenden Eingeweiden und Uniformfetzen, das einmal Toms Unterleib gewesen war. ‚Kaum zu glauben, dass so eine winzige Granate ein solch großes Loch reißen kann’, dachte er und besaß Mühe, eine aufkommende Übelkeit zu überwinden.
Anfangs hatten sie sich noch lustig gemacht über das schwach tastende Feuer des „Kirschkernspuckers“, wie sie den kleinen und total veralteten Granatwerfer des Gegners verächtlich nannten. Und dann plötzlich das dumpfe Bersten mitten im Graben. Die Druckwelle hatte Paul gegen die Brustwehr geschleudert. Betäubt und von lockerem Sand überschüttet, hatte er eine ganze Weile reglos dagelegen, um Luft gerungen und Staub gehustet. Viel später erst hörte er Toms gellende Schreie. Paul wusste sofort, dem war nicht mehr zu helfen, doch er ahnte nicht, wie schwer Tom sterben würde. Das nur von Angst und Schmerz bestimmte Brüllen war zwar rasch schwächer geworden, aber es wurde zu einem auf- und abschwellendes Stöhnen, das sich über Stunden hinzog. Nun lag er ganz still. In den gebrochenen Augen schien eine einzige Frage festgeschrieben zu sein: WARUM?
Paul riss sich von dem Anblick los, der ihm zusätzliche Angst einflößte. Angst um das eigene Schicksal. Wann würden sie im Bataillonsstab endlich bemerken, dass ihr vorgeschobener Posten praktisch ausgeschaltet war? Wann würden sie kommen, um ihn hier raus zu holen? Würden sie überhaupt kommen?
„Scheiße! Verdammte Scheiße! Wo bleibt ihr denn?“ hörte er sich brüllen. In Wirklichkeit drang sein heiseres Krächzen kaum über den Rand der Sandmulde hinaus.
Paul griff sich stöhnend an die Stirn. Vorsichtig befingerte er den durchgebluteten Notverband, bevor er sich ächzend wieder in die Rückenlage fallen ließ.
„Oh verdammt!“ Diesmal war es wirklich nur ein Flüstern. In seinem Kopf tobte wieder hämmernder Schmerz. Er spürte nicht, wie sich seine Hände im Sand verkrallten und wie die in derben Schuhen steckenden Füße in hektischem Zucken tiefe Furchen in die Grabensohle wühlten. Er war sich auch der pendelnden Bewegungen seines Kopfes kaum bewußt, nahm nur wechselnde Bilder wahr, ohne sie wirklich in sich aufzunehmen.
Kopf nach links – ein steil in den Himmel ragender MG-Lauf, von dem klobigen Gurtkasten halb verdeckt.
Kopf gerade – ein langsam sich violett färbender Himmel.
Kopf nach links – der tote Tom.
Die Drehungen wurden rhythmischer, passten sich ungewollt dem Herzschlag an, besaßen plötzlich etwas von der Präzision eines Regulators. Ganz allmählich begann der Schmerz zu verdumpfen.
Irgendwann hielt er fröstelnd inne. Es war Nacht geworden. Mit ihr kam die Kälte. Das bis dahin verhaltene Gewittergrumeln schien allmählich näher zu kommen. Zuckendes Wetterleuchten ließ jeweils für Bruchteile von Sekunden die kalt flimmernden Sterne am pechschwarzen Firmament verblassen.
„Es wird bald regnen‘ dachte er. Mühsam, aber mit aufkeimender Hoffnung richtete er sich auf, stützte sich auf beide Ellenbogen und versuchte nach regenschwangeren Wolken Ausschau zu halten.
„Bald“, flüsterte er mit pfeifendem Atem. Als er den Kopf in den Nacken legte, erfaßte ihn ein wohltuendes Schwindelgefühl. Der Boden schien auf einmal zu wanken, die Grabenkanten fingen an, sich zu verwerfen, die Konturen lösten sich auf und dann begann alles um ihn langsam zu rotieren. Plötzlich hing Tom direkt über ihm, starrte mit höhnischem Grinsen auf ihn herab. In den toten Augen spiegelten sich die immer häufiger werdenden Blitze.
„Geh weg! Laß mich in Ruhe! Du hast es hinter dir!“
Und während sich sein Brustkorb in schmerzhaftem Keuchen hob und senkte, glaubte er den Toten röcheln zu hören.
Endlich verschwand das entstellte Gesicht aus seinem Blickfeld. Dafür drohte nun der Gurtkasten auf ihn zu stürzen. Die Hände schützend vor das Gesicht geworfen, sank Paul zurück. Sein Körper wand sich vergeblich, um wegzukommen – panische Angst ließ das Herz rasen, presste die ausgetrocknete Kehle zusammen und versperrte dem Angstschrei den Weg. Nur ein qualvolles Gurgeln entrang sich der Mundhöhle. Der schwere Kasten mit der gegurteten Munition polterte dicht an seinem Kopf vorbei.
Dem kurzen Aufatmen folgten neue Ängste. Was war das plötzlich für ein Geräusch? Es klang wie ein leises Zischen. Unwirklich, aber seltsam vertraut. Da war es wieder! Dieses eindringlich sanfte „Pssst“ - diesmal ganz dicht an seinem Ohr. Und noch einmal: „Pssst. Sei ganz ruhig. Kann es sein, dass Du schlecht geträumt hast?“
Ungläubiges Lauschen. Dann die zögernde Frage: “Maria?“
Seine verwirrten Blicke suchten in der Dunkelheit nach dem so nahen Gesicht der Geliebten. Und da waren sie, die wohlbekannten hellen Blauaugen. Langsam schälten sich nun auch die Konturen ihrer Züge aus der Nacht. Er sah ein warmes Lächeln auf schmalen Lippen, zwischen denen spielerisch ein Grashalm auf und ab wippte. Wieder ein Spuk, der ihn narren wollte? Oder gar Realität? Es musste ganz einfach wahr sein. Spürte er doch sogar einen Hauch von ihren unverkennbaren Duft. Ja, er brauchte nur die Hand auszustrecken, um seine Finger in ihrem dichten Haar zu vergraben.
Uff - er hatte tatsächlich nur geträumt.
„Maria.“
Eine unbeschreibliche Erleichterung durchflutete seinen Körper bis hinauf in die Haarwurzeln. Wirklich – alles nur ein verdammt böser Traum. In sein Lachen mischten sich Tränen.
„Habe ich lange geschlafen?“ fragte er schließlich zögernd. Irgendwie war es ihm schon peinlich, so sang und klanglos neben ihr eingepennt zu sein.
„Ja, lange. Tief und fest. Typisch Mann. Ein wenig Zärtlichkeit danach hätte mir ganz gut getan“, schmollte sie.
Oh, wie wohl das tat. Er wollte wenigstens zum Schein gegen den Vorwurf protestieren, ließ es aber dann. Viel zu sehr hielt ihn dieser schreckliche Traum immer noch gefangen. Viel zu sehr gab er sich der Erleichterung hin.
„Möchtest Du eine Zigarette?“ fragte Maria und ließ den Grashalm achtlos zu Boden schweben.
„Nein. Aber etwas zu Trinken. Ich habe wahnsinnigen Durst.“ Er spürte, wie der Traum zu verblassen begann.
„Tut mir leid. Aber damit kann ich nicht dienen. Alles restlos ausgepichelt.“
Er hörte ihr Lachen und lauschte diesen Tönen, die ihm nun auch den allerletzten Rest von Beklemmung nahmen.
„Laß uns gehen“, sagte er. „Es wird ohnehin bald regnen. Bei einem Gewitter sollte man auch nicht auf einer Wiese herum liegen.“
Besorgt schaute er zum Himmel, wo trotz der in der Ferne flammenden Blitze und dem heftigen Donnergrollen keine Wolke auszumachen war.
Plötzlich zuckte er zusammen. Ein feiner Leuchtpunkt zirpte irrsinnig schnell über seinen Kopf hinweg. Und da waren auf einmal noch mehr. Sie durchtobten, feine Linien in die Dunkelheit malend, den Raum zwischen seinem Gesicht und dem Firmament.
„Was ist das?“ fragte er verwirrt und glaubte, schon wieder in einen Traum verfallen zu sein. Doch da war Marias gurrende Stimme.
„Glühwürmchen. Schau doch nur – die vielen vielen Glühwürmchen!“
Er glaubte zu hören, wie sie begeistert in die Hände klatschte. „Noch nie habe ich so viele Glühwürmchen auf einmal gesehen!“
Paul stimmte in ihr befreiendes Lachen ein. Und er wunderte sich ein wenig mit ihr. Tatsächlich so viele Glühwürmchen auf einmal hatte er auch noch nie zu Gesicht bekommen.
„Rasch! Fang mir eins! Wenn es erst regnet, verschwinden sie.“
„Aber sie sind wahnsinnig schnell“, wagte er einzuwenden.
„Du schaffst das schon. Du musst dich nur geschickt anstellen. Bitte, Paul. Ich habe noch nie ein Glühwürmchen aus der Nähe gesehen, geschweige denn, in der Hand gehalten.“
Ihre Begeisterung wirkte ansteckend.
„Überredet“, brummte er schließlich und erhob sich taumelnd. Die Müdigkeit saß ihm doch noch arg in den Knochen.
‚Kein Wunder nach einem so ausgiebigen Liebesspiel auf weichgrüner Dämmerwiese‘, dachte er und lächelte in sich hinein.
„Warte. Ich versuche es.“ Mit zwei drei Schritten überwand er die kleine Bodenwelle, hinter der sie vor neugierigen Blicken geschützt, die letzten Stunden verbracht hatten. Gespannt blickte er nach vorn. Nichts zu sehen, außer den unablässig zuckenden Blitzen. Doch da! Ein ganzer Schwarm dieser geheimnisvollen Leuchtkäfer! Wie auf einer Perlenschnur aufgereiht, rasten sie direkt auf ihn zu. Noch ehe er reagieren konnte, huschten sie vorbei. Aber da näherte sich schon der nächste Pulk – auf unmittelbarer Augenhöhe sausten sie heran. Blitzschnell streckte er eine Hand aus. Ein ungewöhnlich harter Schlag. Krampfhaft schlossen sich die Finger. Die Freude über den Fang ließ den plötzlichen Schmerz in den Hintergrund treten.
„Ich habe eins! Ich habe eins!“ jubelte er. Damit drehte er sich um und trat stolz den Rückweg an. Da spürte er die Feuchtigkeit zwischen den Fingern.
‚Ich habe zu fest zugepackt‘, dachte er. ‚Nun ist das Käferchen nur noch Matsch.‘
Enttäuscht führte er die Faust dicht vor die Augen und öffnete die Finger. Eine klebrige Flüssigkeit quoll hervor und lief ihm warm den Unterarm hinab. Wie kam in ein solch kleines Insekt soviel Flüssigkeit...?
„Hast Du eins?“ hörte er Maria rufen. Wieso stand sie auf einmal direkt neben ihm?
„Ich habe es zerquetscht“, stammelte er. „Tut mir leid, aber ich versuche es gleich noch einmal.“
„Ja – fang es mir! Na los!“ Sie schlug ihm aufmunternd zwischen die Schulterblätter. Es schmerzte. Warum schlug Maria so hart? Ich geb mir doch Mühe. Warte – gleich....
Die feindlichen Soldaten, die im Morgengrauen die dünne Frontlinie durchbrachen, fanden Paul mit dem Gesicht nach unten über der Brustwehr hängen. Die Leuchtspurgeschosse hatten seinen Rücken zerfetzt.
Die Schatten waren länger geworden. Sie hatten sich langsam über die niedrige Brustwehr geschoben und reichten jetzt bereits weit in den flachen Graben hinein. Erst hatten sie nur Pauls Füße, dann seine Oberschenkel und später auch Bauch und Brustkorb bedeckt. Nun, wo sie endlich auf seinen Kopf fielen, wurden sie von einem schwachen Aufatmen empfangen. Paul spürte, wie sich auch noch ein feiner Lufthauch zu dem Schatten gesellte, und wie beide vereint etwas von der ersehnten Kühlung brachten. Nur den quälenden Durst vermochten sie nicht zu mildern. Der saß nach wie vor schmerzhaft dörrend in der Kehle, hatte die Zunge in der trockenen Mundhöhle immer mehr verpelzen lassen und beherrschte seit Stunden Pauls ganzes Sein.
Langsam drehte er sich zur Seite, suchte mit beiden Händen nach der Feldflasche und begann sie mit verzweifelter Hartnäckigkeit zu schütteln.
„Leer!“ Er hätte nicht sagen können, wie oft in den vergangenen Stunden diese vernichtende Feststellung schon über seine aufgeplatzten Lippen gekommen war. Zuerst sachlich quittierend, dann wütend herausschreiend und schließlich nur noch dumpf resignierend.
Sein verstörter Blick fiel auf den toten Tom.
„Hast mir alles weggesoffen, Bruder. Und wozu? Nur, um dann doch zu sterben.“
Paul lachte wütend in das von einem langen Todeskampf entstellte und nun zur Fratze erstarrte Gesicht des Kameraden. Es war ein kurzes, trockenes Lachen, das schließlich in einem Hustenanfall mündete. Ihm war, als zöge jemand Stacheldraht durch seine Luftröhre.
„Du hast es genau gewusst und trotzdem immer wieder um Wasser gebettelt. Ich hätte dir nichts geben sollen. War doch klar, dass Du mit deinem zerfetzten Bauch drauf gehen würdest.“
Mit einem scheuen Blick streifte er dieses klumpige Gemisch aus schwarz geronnenem Blut, herausquellenden Eingeweiden und Uniformfetzen, das einmal Toms Unterleib gewesen war. ‚Kaum zu glauben, dass so eine winzige Granate ein solch großes Loch reißen kann’, dachte er und besaß Mühe, eine aufkommende Übelkeit zu überwinden.
Anfangs hatten sie sich noch lustig gemacht über das schwach tastende Feuer des „Kirschkernspuckers“, wie sie den kleinen und total veralteten Granatwerfer des Gegners verächtlich nannten. Und dann plötzlich das dumpfe Bersten mitten im Graben. Die Druckwelle hatte Paul gegen die Brustwehr geschleudert. Betäubt und von lockerem Sand überschüttet, hatte er eine ganze Weile reglos dagelegen, um Luft gerungen und Staub gehustet. Viel später erst hörte er Toms gellende Schreie. Paul wusste sofort, dem war nicht mehr zu helfen, doch er ahnte nicht, wie schwer Tom sterben würde. Das nur von Angst und Schmerz bestimmte Brüllen war zwar rasch schwächer geworden, aber es wurde zu einem auf- und abschwellendes Stöhnen, das sich über Stunden hinzog. Nun lag er ganz still. In den gebrochenen Augen schien eine einzige Frage festgeschrieben zu sein: WARUM?
Paul riss sich von dem Anblick los, der ihm zusätzliche Angst einflößte. Angst um das eigene Schicksal. Wann würden sie im Bataillonsstab endlich bemerken, dass ihr vorgeschobener Posten praktisch ausgeschaltet war? Wann würden sie kommen, um ihn hier raus zu holen? Würden sie überhaupt kommen?
„Scheiße! Verdammte Scheiße! Wo bleibt ihr denn?“ hörte er sich brüllen. In Wirklichkeit drang sein heiseres Krächzen kaum über den Rand der Sandmulde hinaus.
Paul griff sich stöhnend an die Stirn. Vorsichtig befingerte er den durchgebluteten Notverband, bevor er sich ächzend wieder in die Rückenlage fallen ließ.
„Oh verdammt!“ Diesmal war es wirklich nur ein Flüstern. In seinem Kopf tobte wieder hämmernder Schmerz. Er spürte nicht, wie sich seine Hände im Sand verkrallten und wie die in derben Schuhen steckenden Füße in hektischem Zucken tiefe Furchen in die Grabensohle wühlten. Er war sich auch der pendelnden Bewegungen seines Kopfes kaum bewußt, nahm nur wechselnde Bilder wahr, ohne sie wirklich in sich aufzunehmen.
Kopf nach links – ein steil in den Himmel ragender MG-Lauf, von dem klobigen Gurtkasten halb verdeckt.
Kopf gerade – ein langsam sich violett färbender Himmel.
Kopf nach links – der tote Tom.
Die Drehungen wurden rhythmischer, passten sich ungewollt dem Herzschlag an, besaßen plötzlich etwas von der Präzision eines Regulators. Ganz allmählich begann der Schmerz zu verdumpfen.
Irgendwann hielt er fröstelnd inne. Es war Nacht geworden. Mit ihr kam die Kälte. Das bis dahin verhaltene Gewittergrumeln schien allmählich näher zu kommen. Zuckendes Wetterleuchten ließ jeweils für Bruchteile von Sekunden die kalt flimmernden Sterne am pechschwarzen Firmament verblassen.
„Es wird bald regnen‘ dachte er. Mühsam, aber mit aufkeimender Hoffnung richtete er sich auf, stützte sich auf beide Ellenbogen und versuchte nach regenschwangeren Wolken Ausschau zu halten.
„Bald“, flüsterte er mit pfeifendem Atem. Als er den Kopf in den Nacken legte, erfaßte ihn ein wohltuendes Schwindelgefühl. Der Boden schien auf einmal zu wanken, die Grabenkanten fingen an, sich zu verwerfen, die Konturen lösten sich auf und dann begann alles um ihn langsam zu rotieren. Plötzlich hing Tom direkt über ihm, starrte mit höhnischem Grinsen auf ihn herab. In den toten Augen spiegelten sich die immer häufiger werdenden Blitze.
„Geh weg! Laß mich in Ruhe! Du hast es hinter dir!“
Und während sich sein Brustkorb in schmerzhaftem Keuchen hob und senkte, glaubte er den Toten röcheln zu hören.
Endlich verschwand das entstellte Gesicht aus seinem Blickfeld. Dafür drohte nun der Gurtkasten auf ihn zu stürzen. Die Hände schützend vor das Gesicht geworfen, sank Paul zurück. Sein Körper wand sich vergeblich, um wegzukommen – panische Angst ließ das Herz rasen, presste die ausgetrocknete Kehle zusammen und versperrte dem Angstschrei den Weg. Nur ein qualvolles Gurgeln entrang sich der Mundhöhle. Der schwere Kasten mit der gegurteten Munition polterte dicht an seinem Kopf vorbei.
Dem kurzen Aufatmen folgten neue Ängste. Was war das plötzlich für ein Geräusch? Es klang wie ein leises Zischen. Unwirklich, aber seltsam vertraut. Da war es wieder! Dieses eindringlich sanfte „Pssst“ - diesmal ganz dicht an seinem Ohr. Und noch einmal: „Pssst. Sei ganz ruhig. Kann es sein, dass Du schlecht geträumt hast?“
Ungläubiges Lauschen. Dann die zögernde Frage: “Maria?“
Seine verwirrten Blicke suchten in der Dunkelheit nach dem so nahen Gesicht der Geliebten. Und da waren sie, die wohlbekannten hellen Blauaugen. Langsam schälten sich nun auch die Konturen ihrer Züge aus der Nacht. Er sah ein warmes Lächeln auf schmalen Lippen, zwischen denen spielerisch ein Grashalm auf und ab wippte. Wieder ein Spuk, der ihn narren wollte? Oder gar Realität? Es musste ganz einfach wahr sein. Spürte er doch sogar einen Hauch von ihren unverkennbaren Duft. Ja, er brauchte nur die Hand auszustrecken, um seine Finger in ihrem dichten Haar zu vergraben.
Uff - er hatte tatsächlich nur geträumt.
„Maria.“
Eine unbeschreibliche Erleichterung durchflutete seinen Körper bis hinauf in die Haarwurzeln. Wirklich – alles nur ein verdammt böser Traum. In sein Lachen mischten sich Tränen.
„Habe ich lange geschlafen?“ fragte er schließlich zögernd. Irgendwie war es ihm schon peinlich, so sang und klanglos neben ihr eingepennt zu sein.
„Ja, lange. Tief und fest. Typisch Mann. Ein wenig Zärtlichkeit danach hätte mir ganz gut getan“, schmollte sie.
Oh, wie wohl das tat. Er wollte wenigstens zum Schein gegen den Vorwurf protestieren, ließ es aber dann. Viel zu sehr hielt ihn dieser schreckliche Traum immer noch gefangen. Viel zu sehr gab er sich der Erleichterung hin.
„Möchtest Du eine Zigarette?“ fragte Maria und ließ den Grashalm achtlos zu Boden schweben.
„Nein. Aber etwas zu Trinken. Ich habe wahnsinnigen Durst.“ Er spürte, wie der Traum zu verblassen begann.
„Tut mir leid. Aber damit kann ich nicht dienen. Alles restlos ausgepichelt.“
Er hörte ihr Lachen und lauschte diesen Tönen, die ihm nun auch den allerletzten Rest von Beklemmung nahmen.
„Laß uns gehen“, sagte er. „Es wird ohnehin bald regnen. Bei einem Gewitter sollte man auch nicht auf einer Wiese herum liegen.“
Besorgt schaute er zum Himmel, wo trotz der in der Ferne flammenden Blitze und dem heftigen Donnergrollen keine Wolke auszumachen war.
Plötzlich zuckte er zusammen. Ein feiner Leuchtpunkt zirpte irrsinnig schnell über seinen Kopf hinweg. Und da waren auf einmal noch mehr. Sie durchtobten, feine Linien in die Dunkelheit malend, den Raum zwischen seinem Gesicht und dem Firmament.
„Was ist das?“ fragte er verwirrt und glaubte, schon wieder in einen Traum verfallen zu sein. Doch da war Marias gurrende Stimme.
„Glühwürmchen. Schau doch nur – die vielen vielen Glühwürmchen!“
Er glaubte zu hören, wie sie begeistert in die Hände klatschte. „Noch nie habe ich so viele Glühwürmchen auf einmal gesehen!“
Paul stimmte in ihr befreiendes Lachen ein. Und er wunderte sich ein wenig mit ihr. Tatsächlich so viele Glühwürmchen auf einmal hatte er auch noch nie zu Gesicht bekommen.
„Rasch! Fang mir eins! Wenn es erst regnet, verschwinden sie.“
„Aber sie sind wahnsinnig schnell“, wagte er einzuwenden.
„Du schaffst das schon. Du musst dich nur geschickt anstellen. Bitte, Paul. Ich habe noch nie ein Glühwürmchen aus der Nähe gesehen, geschweige denn, in der Hand gehalten.“
Ihre Begeisterung wirkte ansteckend.
„Überredet“, brummte er schließlich und erhob sich taumelnd. Die Müdigkeit saß ihm doch noch arg in den Knochen.
‚Kein Wunder nach einem so ausgiebigen Liebesspiel auf weichgrüner Dämmerwiese‘, dachte er und lächelte in sich hinein.
„Warte. Ich versuche es.“ Mit zwei drei Schritten überwand er die kleine Bodenwelle, hinter der sie vor neugierigen Blicken geschützt, die letzten Stunden verbracht hatten. Gespannt blickte er nach vorn. Nichts zu sehen, außer den unablässig zuckenden Blitzen. Doch da! Ein ganzer Schwarm dieser geheimnisvollen Leuchtkäfer! Wie auf einer Perlenschnur aufgereiht, rasten sie direkt auf ihn zu. Noch ehe er reagieren konnte, huschten sie vorbei. Aber da näherte sich schon der nächste Pulk – auf unmittelbarer Augenhöhe sausten sie heran. Blitzschnell streckte er eine Hand aus. Ein ungewöhnlich harter Schlag. Krampfhaft schlossen sich die Finger. Die Freude über den Fang ließ den plötzlichen Schmerz in den Hintergrund treten.
„Ich habe eins! Ich habe eins!“ jubelte er. Damit drehte er sich um und trat stolz den Rückweg an. Da spürte er die Feuchtigkeit zwischen den Fingern.
‚Ich habe zu fest zugepackt‘, dachte er. ‚Nun ist das Käferchen nur noch Matsch.‘
Enttäuscht führte er die Faust dicht vor die Augen und öffnete die Finger. Eine klebrige Flüssigkeit quoll hervor und lief ihm warm den Unterarm hinab. Wie kam in ein solch kleines Insekt soviel Flüssigkeit...?
„Hast Du eins?“ hörte er Maria rufen. Wieso stand sie auf einmal direkt neben ihm?
„Ich habe es zerquetscht“, stammelte er. „Tut mir leid, aber ich versuche es gleich noch einmal.“
„Ja – fang es mir! Na los!“ Sie schlug ihm aufmunternd zwischen die Schulterblätter. Es schmerzte. Warum schlug Maria so hart? Ich geb mir doch Mühe. Warte – gleich....
Die feindlichen Soldaten, die im Morgengrauen die dünne Frontlinie durchbrachen, fanden Paul mit dem Gesicht nach unten über der Brustwehr hängen. Die Leuchtspurgeschosse hatten seinen Rücken zerfetzt.