Hi DOSchreiber,
menschen, die sich intensiv mit dem sonett auseinandersetzen, haben bei mir einen stein im brett selbst dann, wenn sie sich in der materie noch nicht so richtig auskennen. gerade die sonettform - ebenso wie die des haiku - bedarf einiges an übung und befassung mit dem thema, auch in der geschichte der form sollte geforscht und sich sachkundig gemacht werden.
und natürlich sorgt das grundsätzliche wissen über eine form nicht für die absolute sicherheit, sie im zweifel beim schreiben eines texts in derselben wirklich sourverän umzusetzen. wer das glaubt, hat die rechnung ohne den wirt gemacht. daher ist es gut und richtig, immer wieder grundsätzliche kritik wie die deine zu erhalten. daher meine ganz herzlichen dank für deine zeit, die du in dieses sonett investiert hast!
zu beginn muß ich ein paar dinge richtigstellen, bei denen dein informationsstand nicht ganz auf der höhe der zeit ist. wenn man die sonettforschung richtig zusammenfaßt, dann ist nach aktueller mehrheitsmeinung das sonett am hof des stauferkaisers friedrich II in Sizilien vor fast exakt 1.000 jahren entstanden. der eine oder andere spricht davon, die form komme ursprünglich aus dem arabischen. genau weiß man das nicht mehr.
in der tat waren die ersten sonette lehr- und lerngedichte über die liebe zu gott und die zum liebsten menschen. sie hatten 14 zeilen, waren in fünfhebigen jamben ausgeführt. und sie waren bereits damals bereits dialogisch-diskursiv aufgebaut.
das obige sonett ist das, was man heute ein "Gryphius-Sonett" nennt. es entspricht in klang und rhythmik dem barocksonett, das sechs hebungen (statt fünf) hat und gelegentlich sogar den Alexandriner einsetzt, um das lange metrum etwas zu brechen. den bezug auf diese zeit und den klang dieser memento mori sonette nimmt auch der titel auf, der deshalb in anführungszeichen gesetzt ist.
vom reimklang ist bewußt darauf geachtet, daß die endreime in den quartetten eher dunkel und die in den terzetten eher hell sind. wer auf die idee kommt, bestimmte endreime für verbraucht zu halten, dem lege ich nahe, sich die frage zu stellen, welche reime denn noch nicht "verbraucht" sind. im übrigen würde das für alle sprachen gelten, in denen es eine formlyrik- und eine volks- und kirchliedtradition gibt, dieser hinweis ist also recht unreflektiert und in der tat ziemlicher bockmist, man verzeihe mir die deutliche einschätzung.
man kann in s3v1 den kunstgriff der verstärkung einer aussage durch eine quasidopplung für nicht tauglich halten, übersieht aber in diesem fall, daß diese formulierung ein spezifikum der demenzerkrankung beschreibt. nicht kennen und nicht wissen sind zwei unterschiedliche zustände, die nicht identisch sind, auch sprachlich schon nicht. ebenso ist ein großes neues haus keine unnötige verschwendung von adjektiven, in der tat ist das pflegeheim zugleich groß und neu; damit entsteht für einen menschen, der seine orientierung zug um zug verliert, eine doppelt verunsichernde umgebung (hier s1v3). deine detailkritik geht also an der zielrichtung inhaltlich völlig vorbei und übersieht, was der demenzerkrankung in besonderer form eigen ist.
nun zur entwicklung der sonettform bis ins 21. jahrhundert. was wirklich übrig blieb, ist das dialogische. reimform - englisch oder kontinental-romanisch -, die anzahl der verse (14), das versmaß sind nur noch ein äußerer rahmen, der vielfach gebrochen wurde und wird. was ein sonett eindeutig ausmacht, sind these-antithese oder innensicht-außensicht, eine überleitung und eine conclusio.
beim hier vorliegende sonett haben wir folgende elemente: sechshebiger jambus, wechselnde kadenzen bei den endreimen in der struktur abba baab cdc dcd. hier haben wir sozusagen eine technisch perfekte außenform, angelehnt und in der tradition des barocksonetts, deren getragene rhythmik durch die meist weiblichen kadenzen bis ins leiernde verstärkt wurde; daher auch der durchaus häufige einsatz des alexandriners, der dieses leiern verhindern helfen kann.
die innere form - s1 innensicht, s2 außensicht, s3 überleitung, s4 conclusio (letzter vers) - ist ebenfalls absolut korrekt umgesetzt.
zusammengefaßt: von deiner kritik bleibt sachlich-fachlich genau gar nichts übrig. nun heißt das noch lange nicht, daß dir dieser text daher zusagen müßte und daß er im auch nur entferntesten nicht besser gemacht werden könnte. natürlich kann er das, das ginge bei fast jedem text, und das könnte ich, da ich auch der autor bin, sowieso nicht entscheiden. als autor muß man seinen text, wenn man ihn veröffentlicht, gut genug finden, um ihn der kritischen leserschaft vorzulegen. wenn das nicht der fall wäre, sollte er nämlich besser in die hier ja vorhandene schreibwerkstatt gepostet werden, wo er dann richtig aufgehoben wäre.
ich hoffe, dir ein wenig beim sonetten geholfen zu haben, und freue mich auf weitere sonette von dir und gerne weiterer kritik bei den meinen. frohe und sonnige ostern wünsche ich dir, allen lupianerInnen und alle anderen selbstverständlich auch.
lieber gruß Walther