„Dunkel wird einst alle Ahnung“

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Walther

Mitglied
„Dunkel wird einst alle Ahnung“

Der Alte spricht nur noch von längst vergangnen Träumen.
Er sieht in sich hinein. Er schaut nicht mehr voraus.
Er fühlt sich fremd in diesem großen neuen Haus
Und sucht sich selbst in fast vergessnen frühen Räumen.

Am Morgen, es ist fünf, zieht er sich an und geht hinaus;
Er folgt den Spuren, die nur seine Blicke säumen,
Vorbei an Häusern, Kreuzungen und hohen Bäumen:
Er strebt zu sich zurück und findet nicht nach Haus.

An einer Haltestelle sitzt er, knetet seine Hände
Und schlägt sie plötzlich hart und fest auf sein Gesicht.
Er quält sich, wo er ist, sein Anfang hat kein Ende,

Auch seinen eignen Namen weiß und kennt er nicht.
Er weint und schluchzt. Er fleht, dass man ihm Heimat sende.
Das Dunkel in ihm selbst verwehrt ihm jede Sicht.
 

Label

Mitglied
Lieber Walther

wie du sicher weißt, gehören Sonette nicht zu meiner bevorzugten Gedichtform -aber dieses wow.
Sehr überzeugend führt das Gedicht feinfühlig in die Welt eines an Demenz Erkrankten.

Die Überschrift bildet mit seiner Prognose noch einmal einenen Höhepunkt und schließt den Kreis vom letzten Vers zu sich selbst zurück.

zutiefst beeindruckt
Label
 

Walther

Mitglied
Hi Label,
danke für deinen eintrag, dein lob und die wertung. war unterwegs, daher etwas verspätet meine antwort.
das gedicht reflektiert eigenes erleben in familie und beruf. es freut mich sehr, wenn ich diese erfahrung habe nachvollziehbar darstellen können. wegen des themas erschien das sechshebige versmaß in sonettform die richtige umgebung.
der titel greift die form und ihr herkommen auf. das gryphius-sonett aus dem barock ist "dunkel" - auch die sprache hat diese melancholie um sich, die der zeit geschuldet ist.
lg W.

lb. Anbas, danke fürs reinlesen und werten. lg W.
 

Tula

Mitglied
Hallo Walther

Sehr einfühlsam geschrieben, ohne Zweifel.

Rein "technisch" zwei Fragen bzw. Dinge, die mir als aufmerksamer Leser ins Auge dornten:
- die Wiederholung der Endreime, vor allem von ' Haus', aber auch 'Sicht' und Gesicht',
- zwei Zeilen haben 7 Hebungen anstatt 6.

Demenz ist hart, nicht zuletzt für die Angehörigen. Dafür ist das Gedicht beinah 'zu schön'.

Gern gelesen,

LG
Tula
 

Walther

Mitglied
„Dunkel wird einst alle Ahnung“

Der Alte spricht nur noch von längst vergangnen Träumen.
Er sieht in sich hinein. Er schaut nicht mehr voraus.
Er fühlt sich fremd in diesem großen neuen Haus
Und sucht sich selbst in fast vergessnen frühen Räumen.

Es ist kaum fünf, er zieht sich an und geht hinaus;
Er folgt den Spuren, die nur seine Blicke säumen,
Vorbei an Häusern, Kreuzungen und hohen Bäumen:
Er strebt zu sich zurück und findet nicht nach Haus.

Im alten Bahnhof sitzt er, knetet seine Hände
Und schlägt sie plötzlich hart und fest auf sein Gesicht.
Er quält sich, wo er ist, sein Anfang hat kein Ende,

Auch seinen eignen Namen weiß und kennt er nicht.
Er weint und schluchzt. Er fleht, dass man ihm Heimat sende.
Das Dunkel in ihm selbst verwehrt ihm jede Sicht.
 

Walther

Mitglied
Hi Tula,

danke fürs genaue nachlesen. Ich habe die beiden verse "repariert".

die reime sind "gleich", aber nicht die inhalte bzw. bedeutungen der verwandten wörter bzw. silben. daher ist das zulässig und verstärkt sogar den effekt, den ich damit erzielen wollte.

ob das gedicht zu schön ist für das sujet? die frage ist berechtigt. es gibt den begriff des schrecklich schönen und die morbide lust an der schönheit des schreckens. beides ist uns menschen eigen.

lg W.
 

Thylda

Mitglied
Lieber Walther

Technisch wie immer nix zu meckern.
Inhaltlich der Blick in tiefste Angst. Ohne Erinnerung verschwindet ein ganzes Leben, was bleibt ist nicht mal mehr die Hoffnung. Demenz ist eine grausame Kondition für alle Beteiligten. Dein Gedicht ist ein mentaler Griff an die Kehle. Spannend.
Gern gelesen

lg~

PS.: ich bin sehr froh, Dich wieder im grünen Hain lustwandeln zu sehen :)
 

Walther

Mitglied
Hi Thylda,

danke dafür:
Lieber Walther

Technisch wie immer nix zu meckern.
Inhaltlich der Blick in tiefste Angst. Ohne Erinnerung verschwindet ein ganzes Leben, was bleibt ist nicht mal mehr die Hoffnung. Demenz ist eine grausame Kondition für alle Beteiligten. Dein Gedicht ist ein mentaler Griff an die Kehle. Spannend.
Gern gelesen

lg~
- und für den willkommensgruß.

das muß man selbst erlebt haben, um zu verstehen, daß man diese krankheit und ihre wirkungen auf den kranken und die umwelt kaum in worte fassen kann. ich habe es bei einem aspekt versucht, natürlich unvollkommen, aber darum geht es bei dichtung: das leben zu verdichten, ohne je zu erreichen, es so darzustellen, wie es sich anfühlt. und trotzdem müssen wir es immer wieder versuchen, es könnte ja einmal gelingen.

lg W.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Walther,

schön, Dich wieder zu lesen.

Das Sonett ist grossartig, der Kunstgriff, die einzelnen Verse oft in kurze Teile mit Kommata gereiht zu teilen, bildet das Thema des Gedichtes sehr gut ein, vor allem beim lauten Lesen: Ein echter Walther :)

Herzliche Grüße

Herbert
 

Walther

Mitglied
Lieber Herbert,

danke für deine sehr freundliche besprechung meines etwas sperrigen sonetts. das thema ist schwergängig, und es bedurfte einiger bearbeitung, damit ich zufrieden war.

es freut mich sehr, daß der text dir als erfahrenem sonetter zusagt. und, ja, ich bin gerne wieder da. manchmal schafft die zeit es, hindernisse zu beseitigen, die unüberwindbar schienen.

lieber gruß W.
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Hallo,

bei aller Problematik deines Themas - es muss doch ein kritisches Auge auf die technische Umsetzung geworfen werden.

Warum die Sonett-Form?
Sonette sind zunächst einmal der Liebe vorbehalten. Wenn es nicht so ist, dann sollte es im Textverlauf zu einer positiven Wendung kommen. In deinem Fall begründet sich das Sonett nicht, drei kompakte Quartette hätten dem Thema ausreichend Platz geboten.

Träumen...Räumen...säumen...Bäumen

In den Literaturen wimmelt es von Warnhinweisen vor solchen Reimen! Gerade diese hier sind - mit Verlaub - besonders ausgelutscht. Sie tun deinem Text nicht gut!

Warum diese Endlosschlangen von Versen?

Du verwendest eine einfache Sprache, gut so! Aber vermurkse sie nicht durch unnötige Doppelungen oder Zusätze!
Zum Beispiel:

Er fühlt sich fremd in diesem großen neuen Haus

Er fühlt sich fremd in diesem Haus - würde ausreichen, da wir, die Leser, wissen, wo er sich befindet.

Im alten Bahnhof sitzt er, knetet seine Hände
Und schlägt sie plötzlich hart und fest auf sein Gesicht.

(Die beste Stelle in deinem Gedicht!)

Im Bahnhof sitzt er, knetet seine Hände
und schlägt sie plötzlich vors Gesicht - die Kälte des Ortes, die Unruhe in seinem Körper, die verzweifelte Geste...alles, was du sagen wolltest, steckt doch in diesen einfachen Sätzen, oder?


Auch seinen eignen Namen weiß und kennt er nicht.


Auch seinen Namen weiß er nicht - was spricht gegen diese klare Aussage?

Zum Titel sei noch gefragt, warum er in Anführung steht. Ist er ein Zitat?

Du hast den Mut gezeigt, ein besonderes Thema anzusprechen und dichterisch umzusetzen. Letzteres ist dir noch nicht gelungen. Mach' es!

Es grüßt
DOSchreiber
 

Walther

Mitglied
Hi DOSchreiber,

menschen, die sich intensiv mit dem sonett auseinandersetzen, haben bei mir einen stein im brett selbst dann, wenn sie sich in der materie noch nicht so richtig auskennen. gerade die sonettform - ebenso wie die des haiku - bedarf einiges an übung und befassung mit dem thema, auch in der geschichte der form sollte geforscht und sich sachkundig gemacht werden.

und natürlich sorgt das grundsätzliche wissen über eine form nicht für die absolute sicherheit, sie im zweifel beim schreiben eines texts in derselben wirklich sourverän umzusetzen. wer das glaubt, hat die rechnung ohne den wirt gemacht. daher ist es gut und richtig, immer wieder grundsätzliche kritik wie die deine zu erhalten. daher meine ganz herzlichen dank für deine zeit, die du in dieses sonett investiert hast!

zu beginn muß ich ein paar dinge richtigstellen, bei denen dein informationsstand nicht ganz auf der höhe der zeit ist. wenn man die sonettforschung richtig zusammenfaßt, dann ist nach aktueller mehrheitsmeinung das sonett am hof des stauferkaisers friedrich II in Sizilien vor fast exakt 1.000 jahren entstanden. der eine oder andere spricht davon, die form komme ursprünglich aus dem arabischen. genau weiß man das nicht mehr.

in der tat waren die ersten sonette lehr- und lerngedichte über die liebe zu gott und die zum liebsten menschen. sie hatten 14 zeilen, waren in fünfhebigen jamben ausgeführt. und sie waren bereits damals bereits dialogisch-diskursiv aufgebaut.

das obige sonett ist das, was man heute ein "Gryphius-Sonett" nennt. es entspricht in klang und rhythmik dem barocksonett, das sechs hebungen (statt fünf) hat und gelegentlich sogar den Alexandriner einsetzt, um das lange metrum etwas zu brechen. den bezug auf diese zeit und den klang dieser memento mori sonette nimmt auch der titel auf, der deshalb in anführungszeichen gesetzt ist.

vom reimklang ist bewußt darauf geachtet, daß die endreime in den quartetten eher dunkel und die in den terzetten eher hell sind. wer auf die idee kommt, bestimmte endreime für verbraucht zu halten, dem lege ich nahe, sich die frage zu stellen, welche reime denn noch nicht "verbraucht" sind. im übrigen würde das für alle sprachen gelten, in denen es eine formlyrik- und eine volks- und kirchliedtradition gibt, dieser hinweis ist also recht unreflektiert und in der tat ziemlicher bockmist, man verzeihe mir die deutliche einschätzung.

man kann in s3v1 den kunstgriff der verstärkung einer aussage durch eine quasidopplung für nicht tauglich halten, übersieht aber in diesem fall, daß diese formulierung ein spezifikum der demenzerkrankung beschreibt. nicht kennen und nicht wissen sind zwei unterschiedliche zustände, die nicht identisch sind, auch sprachlich schon nicht. ebenso ist ein großes neues haus keine unnötige verschwendung von adjektiven, in der tat ist das pflegeheim zugleich groß und neu; damit entsteht für einen menschen, der seine orientierung zug um zug verliert, eine doppelt verunsichernde umgebung (hier s1v3). deine detailkritik geht also an der zielrichtung inhaltlich völlig vorbei und übersieht, was der demenzerkrankung in besonderer form eigen ist.

nun zur entwicklung der sonettform bis ins 21. jahrhundert. was wirklich übrig blieb, ist das dialogische. reimform - englisch oder kontinental-romanisch -, die anzahl der verse (14), das versmaß sind nur noch ein äußerer rahmen, der vielfach gebrochen wurde und wird. was ein sonett eindeutig ausmacht, sind these-antithese oder innensicht-außensicht, eine überleitung und eine conclusio.

beim hier vorliegende sonett haben wir folgende elemente: sechshebiger jambus, wechselnde kadenzen bei den endreimen in der struktur abba baab cdc dcd. hier haben wir sozusagen eine technisch perfekte außenform, angelehnt und in der tradition des barocksonetts, deren getragene rhythmik durch die meist weiblichen kadenzen bis ins leiernde verstärkt wurde; daher auch der durchaus häufige einsatz des alexandriners, der dieses leiern verhindern helfen kann.

die innere form - s1 innensicht, s2 außensicht, s3 überleitung, s4 conclusio (letzter vers) - ist ebenfalls absolut korrekt umgesetzt.

zusammengefaßt: von deiner kritik bleibt sachlich-fachlich genau gar nichts übrig. nun heißt das noch lange nicht, daß dir dieser text daher zusagen müßte und daß er im auch nur entferntesten nicht besser gemacht werden könnte. natürlich kann er das, das ginge bei fast jedem text, und das könnte ich, da ich auch der autor bin, sowieso nicht entscheiden. als autor muß man seinen text, wenn man ihn veröffentlicht, gut genug finden, um ihn der kritischen leserschaft vorzulegen. wenn das nicht der fall wäre, sollte er nämlich besser in die hier ja vorhandene schreibwerkstatt gepostet werden, wo er dann richtig aufgehoben wäre.

ich hoffe, dir ein wenig beim sonetten geholfen zu haben, und freue mich auf weitere sonette von dir und gerne weiterer kritik bei den meinen. frohe und sonnige ostern wünsche ich dir, allen lupianerInnen und alle anderen selbstverständlich auch.

lieber gruß Walther
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Vorab: Beim - wie du schreibst - sonetten musst du mir nicht behilflich sein, ich bin studierter Germanist (MA), in meinem Bücherregal stehen ausreichend viele Quellen in Sachen Sonett. Gleichwohl bedanke ich mich für deine nicht sterben wollende Attitüde des Belehrens...was du mir da wieder in Erinnerung brachtest - einfach köstlich!

Nun zur Sache: Dein Gedicht ist ambitioniert geschrieben, weil es ein besonderes Thema behandelt. Und genau das ist der Fehler: Die besonderen Themen bedürfen einer kühlen, beinah distanzierten sprachlichen und klanglichen Umsetzung, die in deinem Gedicht fehlt. Im Gegenteil: Die barocke Hebungs/Senkungsstruktur führt ja gerade zu einem leiernden Ton, der deinem Thema nicht gerecht werden kann. Da hilft der Alexandriner auch nicht - du hast dich ohne Not in eine Sonettstruktur hineinbegeben und versuchst, alexandrinisch wieder da rauszukommen. Mit Verlaub: Was soll dieser Unfug?

Wenn du aus diesem Sonett nicht mehr herauskommst, was ich verstehen kann, dann rette wenigstens die bestürzende Bahnhofsszene und baue darum ein neues Gedicht auf. Darüber würde ich mich wirklich freuen!


Schöne Grüße von
DOSchreiber
 

Walther

Mitglied
Hi DOSchreiber,

es ist wunderbar, daß du ein ausgewiesener germanist bist, mit MA sogar. gratulation!

leider ist in meinem sonett kein einziger alexandriner enthalten gewesen. ich habe nur darauf hingewiesen, warum die großen sonettdichter im barock ihn beim sechshebigen metrum gelegentlich benutzt haben. vielleicht solltest du in sachen sonett doch etwas nacharbeiten; auch als fachmann in deutsch kann man schließlich nicht über alles bescheid wissen, was mit der deutschen sprache angestellt werden kann. also gräme dich nicht.

ich habe dir eine kleine brücke bauen wollen. du willst sie nicht betreten. das ist dein gutes recht.

in diesem sinne frohes dichten und werken.

lg W.
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Er sieht in sich hinein. Er schaut nicht mehr voraus.
Sechshebiger Jambus, Zäsur exakt mittig:
Diese Zeile ist doch wohl alexandrinisch!

Gleichwohl, ich habe alles gesagt und bleibe dabei: Dein Gedicht ist in fast allen Bereichen korrekturbedürftig, vor allen Dingen was Straffung und Sprachpräzision betrifft!


Es grüßt
DOSchreiber
 

Walther

Mitglied
lb DOSchreiber,

wenn das einer ist (was er ist :)), dann ist er ungeplant, also kein stilmittel. sonst gäbe es nämlich das ganze sonett hindurch alexandrinische verse.

es ist auch klar, warum diese zäsur gesetzt wurde. dir als deutschmeister muß ich das sicherlich nicht gesondert erklären, da du aus dem vollen schöpfen kannst.

ich darf dir in deiner analyse komplett widersprechen. du stehst mit deiner ansicht ziemlich allein auf weiter flur, aber ich nehme an, daß dir das herzlich egal ist.

in diesem fall laß uns darauf einigen, daß wir gemeinsam feststellen, unterschiedliche ansichten zu haben. für rechthabereien sollte uns die zeit zu schade sein.

in diesem sinne frohes dichten.

lg W.
 

Label

Mitglied
Gitano
war das nicht der selbstbekennende Germanistensonettfachmann,
wo ist der wohl abgeblieben?
Der fehlte jetzt :D
 

Walther

Mitglied
Hi Label,
gitano ist ohne zweifel ein hervorragender sonettfachmann, wie auch unser Bernd, und zwar ein besserer als ich. wie Bernd und ich jedoch kein germanist, sondern, wie ich immer wieder betone, ein autodidakt; in diesem falle eine ehre, denn sprachwissenschaftler sind selten gute autoren bzw. poeten, jedenfalls nicht signifikant häufiger als solche, die nicht die sprachen, ach, studiert haben. :D das gilt besonders für die neuzeit - aber durchaus nicht nur für diese.
lg W.
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Natürlich ging es mir nicht um Rechthaberei, dafür ist uns, wie du richtig anmerkst, die Zeit zu schade.
Das Subjektive ist ja nur an sich objektiv, hinter ihm treibt der Inhalt oft in alle Richtungen...

Alles Gute
DOSchreiber
 



 
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