Ein bisschen Glück

4,20 Stern(e) 6 Bewertungen

Ji Rina

Mitglied
Da stand sie wieder in der Schlange. Leicht gebückt, in diesen Lumpen und abgewetzten Schuhen, gestützt auf einem Gehstock. Sie wartete auf das Öffnen der Türen der Caputxins Kirche. Ein bisschen essen war alles was sie wollte.
Tamara beobachtete sie von der gegenüberliegenden Straßenseite. Sah sie zwischen den drängelnden Passanten und hupenden Autos. Auch heute war die alte Frau wieder allein. Sie sprach mit niemandem und richtete ihren Blick auf den Boden. Manchmal lächelte sie vor sich hin, so als lebe sie in einer anderen Zeit.

Soll ich? Soll ich nicht? Tamara war hin- und hergerissen. Jeden Tag wollte sie es tun, aber ihre immer wiederkehrenden Hemmungen und Zweifel verhinderten es. Wie würde die Frau reagieren? Sie kannte sie doch gar nicht. War es nicht ein Eindringen in ihr Leben? Würde sie sie damit überfordern? Diesmal schob sie all diese Gedanken zur Seite, gab sich einen Ruck, überquerte die Straße und blieb vor der alten Frau stehen.

Hier, sagte sie leise, und drückte ihr einen zusammengeknüllten 100-Euro- Schein in die Hand. Ich habe nicht viel Geld, aber das hier gehört heute Ihnen. Die alte Frau senkte den Kopf und blickte auf den Schein. Dann schaute sie Tamara in die Augen. Sie war verwirrt und ihr Kopf zitterte leicht. Sie wollte etwas sagen und suchte nach Worten. Tamaras Herz schlug heftiger. Verstand die alte Frau sie denn nicht? Ein kleiner Junge, der ebenfalls mit seiner Mutter in der Schlange wartete, trat jetzt einen Schritt heran und sah sie beide abwechselnd an. Ich habe nicht viel, wiederholte Tamara, aber heute gehört dies Ihnen. Die alte Frau starrte wieder auf den Schein, lächelte ein wenig, während ihr Kopf noch immer zitterte. Und als sie endlich die Hand um den Schein schloss, drehte Tamara sich um und verschwand.

Sie setzte ihren Weg fort und erinnerte sich an einen Spaziergang mit ihrer Mutter am Strand. Sie war noch ein kleines Kind und es waren harte Zeiten. Ihr Vater war in ein anderes Land gezogen und sie hatten kaum Geld. An jenem Nachmittag trottete Tamara hinter ihrer Mutter her, sammelte Muscheln und Steine und kleine bunte Glasscherben.

Hier! Schau mal!, rief ihre Mutter plötzlich und hob eine Münze in die Luft. Habe ich gerade gefunden! Hiermit können wir Brot und Milch kaufen!

Gefunden?, rief Tamara erstaunt.

Ja!, lachte ihre Mutter, ein bisschen Glück gehabt!

Tamaras Mutter war vor Jahren gestorben. Und immer wieder dachte sie gern an diese Zeit zurück. Diese Zeit, die auch ihre Glücksmomente hatte. Damals war es nur eine Münze. Doch die alte Frau in der Schlange würde jetzt sehr viel mehr kaufen können als nur ein Brot. Sehr viel mehr als Brot und Milch. Wenigstens heute würde sie fast den halben Supermarkt kaufen können. Tamara überquerte die Straße, blinzelte gegen den Himmel und zwinkerte ihrer Mutter zu.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ji,

Ich habe ein kleines Verständnisproblem:

Sie wartete auf das Öffnen der Türen der Caputxins Kirche. Ein bisschen essen war alles was sie wollte.
Doch die alte Frau in der Schlange würde jetzt sehr viel mehr kaufen können als nur ein Brot. Sehr viel mehr als Brot und Milch. Wenigstens heute würde sie fast den halben Supermarkt kaufen können.
Hier verwirrt mich die Kirche, denn zum Schluss sprichst du von einem Supermarkt.

Das ist aber nur ein nebensächliches Problem. Ich betreibe keine Erbsenzählerei, sondern für mich zählt vor allem der Inhalt.
Es wäre eine bessere Welt, gäbe es mehr Tamaras, die sich darin erinnern, dass es ihnen selbst einmal schlecht gegangen ist.

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Manfred
 
Hier, sagte sie leise, und drückte ihr einen zusammengeknüllten 100-Euro- Schein in die Hand. Ich habe nicht viel Geld, aber das hier gehört heute Ihnen.

Ich habe nicht viel, wiederholte Tamara, aber heute gehört dies Ihnen

Hier! Schau mal!, rief ihre Mutter plötzlich und hob eine Münze in die Luft. Habe ich gerade gefunden! Hiermit können wir Brot und Milch kaufen!

Gefunden?, rief Tamara erstaunt.

Ja!, lachte ihre Mutter, ein bisschen Glück gehabt!
Warum fehlen überall, wo wörtliche Rede steht, die Anführungszeichen?
 

molly

Mitglied
Liebe JI,

wahrscheinlich gibt es in der Kirche "Essen für Bedürftige, aber mit dem 100€ Schein konnte die Dame richtig gut im Supermarkt einkaufen - alles, was sie wollte. Sie musste einmal nicht nehmen, was es für alle gab.

"Gänsefüßchen" kann man gut einsetzen, für mich zählt zuerst auch der Inhalt einer Geschichte, daann die Fehler in Satzzeichensetzung, Rechtschreibung ...

Schönen Sonntag und liebe Grüße
molly
 
daann die Fehler in Satzzeichensetzung, Rechtschreibung ...
Ich weiß nicht, ob es ein Fehler ist. Vielleicht ist es Absicht und damit ein Stilmittel? Deswegen meine Frage "Warum" und nicht direkt "Das ist falsch" (obwohl es mich persönlich eher stört). Ich habe ein Buch, in dem der Autor das Gleiche macht und es mich so außerordentlich gestört hat, dass ich mir keines mehr von ihm kaufen werde.
Aber wie gesagt: Ich wüsste gerne, aus welchem Grund das gemacht wird. Dass Ji Rina hier etwas übersehen hat bzw. Fehler gemacht hat, glaube ich nämlich nicht.

LG SilberneDelfine
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es erfordert auf jeden Fall eine erhöhte Konzentration beim Lesen.
Ich bin da auch gespannt auf die Antwort von Ji.

Liebe Grüße
Manfred
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Ji,
Ich habe ein kleines Verständnisproblem:
Hier verwirrt mich die Kirche, denn zum Schluss sprichst du von einem Supermarkt.
Das ist aber nur ein nebensächliches Problem. Ich betreibe keine Erbsenzählerei, sondern für mich zählt vor allem der Inhalt.
Es wäre eine bessere Welt, gäbe es mehr Tamaras, die sich darin erinnern, dass es ihnen selbst einmal schlecht gegangen ist.
Sehr gerne gelesen!
Liebe Grüße
Manfred
Hallo Manfred,
Die Caputxins Kirche ist hier bei uns eine kleine Kirche mit einer Einrichtung, wo Essen an Bedürftige ausgeteilt wird. Sie bekommen am Eingang eine Tüte, mit ein paar Lebensmittel. Ich weiss nicht, wie man so etwas in Deutschland nennt. Ich glaube bei der Tafel, kann man sich alles selber aussuchen. Ich dachte, mit der Erwähnung einer Kirche/ alle in Schlange stehend/ auf etwas Essen wartend, würde man es verstehen. Aber wenn es unklar bleibt, muss ich es ändern.
Der Supermarkt hat mit der Kirche nichts zu tun. Da wird nur erwähnt, die alte Frau könne mit dem Geld heute einmal viel einkaufen.
für mich zählt vor allem der Inhalt.
Diese Meinung teile ich übrigens auch, wenn ich hier Texte lese.
Ich bedanke mich und freue mich, dass du immer meine Sachen liest.
Gruss, Ji
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
Warum fehlen überall, wo wörtliche Rede steht, die Anführungszeichen?
Ich wollte es mal ausprobieren. So habe ich es bei einiges Autoren gesehen (Zum Beispiel, bei Judith Hermann) und es hat mir gefallen. Irgendwie wirkte der Dialog entspannter auf mich, floss mit dem Text zusammen. Bei längeren Texten oder gar einem Roman würde ich es nie machen. Aber bei diesem kleinen Mini-Textchen, mit fünf Dialog-Zeilen, wollte ich es mal ausprobieren.
Gruss, Ji
 

Ji Rina

Mitglied
Liebe JI,

wahrscheinlich gibt es in der Kirche "Essen für Bedürftige, aber mit dem 100€ Schein konnte die Dame richtig gut im Supermarkt einkaufen - alles, was sie wollte. Sie musste einmal nicht nehmen, was es für alle gab.
Liebe molly, du hast es gut zusammengefasst. mehr wollte ich nicht sagen. Ausser, dass auch Aussenstehende manchmal Hemmungen haben.
"Gänsefüßchen" kann man gut einsetzen, für mich zählt zuerst auch der Inhalt einer Geschichte, daann die Fehler in Satzzeichensetzung, Rechtschreibung ...
Für mich ist es auch so...
Ich freue mich immer und bedanke mich, dass du meine Geschichten liest, die ja mit Kindergeschichten nicht viel gemeinsam haben....;)

Gruss, Ji
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Liebe Ji Rina,

deine Geschichte strahlt Wärme aus und hat mich letztlich mit einem Lächeln aus der Lektüre entlassen. Gleichsam bin ich der Meinung, dass der Text noch eine intensivere Wirkung erzielen könnte, wenn er an der ein oder anderen Stelle noch kompakter gestaltet wäre. Aber Schritt für Schritt:

Der Text beginnt mit der Beobachtung einer alten Dame, die augenscheinlich bedürftig ist und bei der Protagonistin Tamara Mitleid erregt. Da dabei auch explizit von einer Beobachtung die Rede ist, ist es aber in meinen Augen ungeeignet, eine auktoriale Erzählperspektive einzunehmen. Ich würde strikt aus der Sicht Tamaras schreiben und demzufolge Sätze wie
Sie wartete auf das Öffnen der Türen der Caputxins Kirche. Ein bisschen essen war alles was sie wollte.
entweder dieser Perspektive anpassen oder gänzlich streichen. Denn die Protagonisten kann ja keinesfalls wissen, dass die alte Dame in dieser Situation nur daran interessiert ist, Essen zu erhalten. Vielleicht sucht sie auch ein Gespräch? Oder möchte jemanden treffen?
Wenn es dann am Ende des ersten Absatzes heißt:
Manchmal lächelte sie vor sich hin, so als lebe sie in einer anderen Zeit.
, wird deutlich, dass das Changieren zwischen dem auktorialen und personalen Erzähler beim Leser zu Schwierigkeiten führen kann, weil eine solche Uneinheitlichkeit die Immersionskraft des Textes blockiert.

Ein weiteres Problem, welches die Wirkung der Geschichte in meinen Augen schwächt, ist eine mangelnde Verdichtung. Dieser Mangel entsteht hier durch zum Teil beliebig wirkende Adjektive und meiner Meinung nach auch durch unnötige erklärende Einschübe. Nehmen wir nur die ersten beiden Zeilen des Textes, wird dieses Problem schon sichtbar. Ich markiere die Stellen, an denen ich als Leser das Gefühl mangelnder Verdichtung hatte:
Da stand sie wieder in der Schlange. Leicht gebückt, in diesen Lumpen und abgewetzten Schuhen, gestützt auf einem Gehstock. Sie wartete auf das Öffnen der Türen der Caputxins Kirche. Ein bisschen essen war alles was sie wollte.
So frage ich mich z.B., warum die Dame nur leicht gebückt da steht oder warum es gerade diese Lumpen sind, die sie trägt? Das Bild, welches der Text zu erzeugen versucht, wird durch solche Einschübe meiner Ansicht nach nicht konkreter, sondern letztlich sogar verwässert. Wäre es demzufolge nicht ratsamer, aus der personalen Perspektive Tamaras zunächst die Situation so direkt wie möglich, damit aber auch noch deutlich intensiver, zu schildern? Wenn ich mir erlauben darf, die ersten Zeilen etwas umzugestalten, würde ich dies in etwa so tun:

Sie stand in der Schlange vor der Essensausgabe in der Caputxins Kirche. Tamara wusste nicht, weshalb gerade die zerlumpte und buckelige Gestalt dieser alten Frau ihren Blick so fesselte, aber...
Natürlich ist das nur eine Idee und es gibt sicherlich tausende andere Möglichkeiten, aber es geht mir hier vor allem darum zu zeigen, dass eine höhere Verdichtung des Textes unnötige Spannungskiller eliminieren kann. Wenn so z.B. geschildert wird, dass es in der Kirche eine Essensausgabe gibt, braucht es nicht mehr die Erklärung, dass die alte Dame gern etwas zu Essen möchte. Dies ist nämlich so schon im Subtext enthalten und fügt sich im Kopf des Lesers zu einem stimmigen Bild zusammen.

Aber dies ist nicht immer so. Wenn es dann nämlich heißt
Tamara beobachtete sie von der gegenüberliegenden Straßenseite.
, dann möchte ich als Leser gern wissen, wer Tamara ist und was sie auf der anderen Straßenseite macht. Auch hier würde aber schon eine kleine Information reichen, um die Szenerie hinlänglich zu erklären. Tamara könnte z.B. dort in einem Café arbeiten und täglich sehen, wie an der Kirche eine Dame ihr Essen abholt. Dann könnte es z.B. so weitergehen:

Sie stand in der Schlange vor der Essensausgabe in der Caputxins Kirche. Tamara, die Kellnerin aus dem Café gegenüber, wusste nicht, weshalb gerade die zerlumpte und buckelige Gestalt dieser alten Frau ihren Blick so fesselte, aber sie starrte immer wieder...
Wenden wir uns nun dem zweiten Absatz zu, Meiner Meinung nach wird hier nun die Handlung sehr schnell voran getrieben. Freilich - es wird im Text noch erklärt, weshalb Tamara das unbedingte Bedürfnis hat, Geld zu verschenken, aber der innere Konflikt, den die Protagonistin im zweiten Absatz austrägt, kommt für mich ziemlich überraschend und stilistisch auch zu erklärend daher. Die zweifelnden Fragen, die sich Tamara stellt, würde ich deshalb vielleicht der Fantasie des Lesers überlassen. Dies ist auch von Bedeutung, weil die Protagonistin an dieser Stelle selbst noch nicht zu wissen scheint, woher ihr Bedürfnis der Schenkung rührt. Erst durch die Tat erlebt sie eine innere Erkenntnis, die sie letztlich dazu befähigt, Erinnerungen wieder aufsteigen zu lassen. Demzufolge ist es in meinen Augen sinnvoller, einen erzählenden Stil beizubehalten und den inneren Konflikt der Protagonisten nicht weiter auszuschmücken. Vielleicht könnte es dann in etwa so heißen:

... Sie fragte sich, warum es gerade diese Frau war, die ihr so leid tat, immerhin warteten vor der Kirche noch ein Dutzend mehr Bedürftige auf eine Mahlzeit. Aber Tamara wollte ihr helfen, nur ihr. Sie fürchtete sich vor der Reaktion der alten Dame, aber sie hatte sich entschieden: ...
Im dritten Absatz finden sich wieder die Probleme, die schon im ersten Abschnitt sichtbar waren, also die Erzählperspektive und die unnötigen Worte, die z.T. sogar beliebig wirken. Beispielhaft dafür wäre der zusammengeknüllte 100 € Schein. Es ist freilich schon überraschend genug, dass die Protagonisten 100 € einfach so parat hat, aber warum ist dieser Schein zusammengeknüllt? Und warum sind es genau 100 €? Meiner Meinung nach wird die Motivation für genau diese (hohe) Summe nicht deutlich genug. Es wirkt sehr willkürlich. Und Willkür ist meiner Meinung nach der Tod eines Textes, weil das intuitive Verstehen der Geschichte durch den Leser dadurch nicht mehr funktioniert. Genauso verhält es sich auch mit dem kleinen Jungen. Dessen Aufgabe ist es, die beiden Gesprächspartnerinnen abwechselnd anzuschauen? An dieser Stelle ist es in meinen Augen schwierig, als Leser noch am Ball zu bleiben, weil der Text nun sehr beliebig zu werden droht. Dies erkennt man daran, dass man die Situation mit dem Jungen ohne Verlust vollständig aus dem Text streichen könnte. Oder man ersetzt den Jungen durch ein Mädchen, oder man lässt sich etwas ganz anderes einfallen, es wäre alles egal. Und das darf keinesfalls passieren, denn egal ist das letzte, was man über seine Geschichte hören möchte.

Leider ist der dritte Abschnitt des Textes voll von solchen Momenten, sodass es hier meiner Meinung nach nicht gelingt, eine fühlbare Atmosphäre zu erzeugen. Ein letztes Beispiel dafür ist folgende Situation:

Und als sie endlich die Hand um den Schein schloss, drehte Tamara sich um und verschwand.
Hier stellt sich mir die Frage, weshalb die Protagonistin sich umdreht und verschwindet? Ja, freilich kann man sich das notgedrungen irgendwie zusammenreimen, aber aus dem Text heraus wird es keinesfalls deutlich. Es geschieht einfach, weil die Autorin es so bestimmt hat. Und auch dass schreckt, zumindest mich, sehr ab. Denn mich verlangt es danach, aus dem Gewebe der Geschichte heraus deren einzelne Bestandteile verstehen zu können. Das heißt, dass ich begreifen muss, wie einzelne Entscheidungen der Handlungsträger motiviert sind. Aber weder bei dem Jungen, noch bei Tamara und auch nicht so wirklich bei der alten Dame kann ich das Verhalten sinnvoll nachvollziehen.

In Abschnitt 4 bekommt die Geschichte nun eine Metaebene. Die Motivation hinter der Aktion der Protagonistin wird sichtbar. Aber die angesprochenen Probleme des Stils setzen sich fort. Erneut wirkt es beliebig, wenn es heißt:

Sie setzte ihren Weg fort
Sicherlich, ein als Kurzprosa gekennzeichneter Text darf oder sollte sogar manchmal auch im Vagen bleiben. Aber diese Stelle ist in meinen Augen zu vage. Sie setzte ihren Weg fort ist eher eine Phrase, wie sie in einem Märchen stehen könnte, als ein geeigneter Satz für diese Geschichte. Als Leser stelle ich mir unweigerlich die Frage: Welcher Weg? Wo geht sie hin? Zumal die Protagonistin im Satz zuvor ja auch einfach verschwunden ist und am Ende des Textes auf einmal wieder die Straße überquert. Diese abrupt wechselnden lokalen Angaben verhindern eine stärkere Kohärenz des Textes.

Diese ist auch bedroht durch eine zu starke Einfachheit der Wortwahl. So ist es für mich nur schwer möglich, gedankliche Anknüpfungspunkte zu finden, wenn in der Geschichte nun von harten Zeiten die Rede ist oder wenn die Familie nur wenig Geld hat und nun Brot und Milch (von einer Münze?) kaufen kann. Mit einer solchen Wortwahl entfernt sich der Text meiner Ansicht nach von literarischen Ansprüchen und wird alltäglich. Letztlich steht hier nur: Ja, wir hatten wenig Geld, es waren harte Zeiten, dann hatten wir ein bisschen Glück und konnten uns etwas zu essen kaufen. - aber das ist mehr ein banaler Bericht denn eine literarische Ausarbeitung dieser tragischen Erinnerung. In Ansätzen geschieht dies ja bei der Schilderung des Spaziergangs, aber in meinen Augen reicht dies nicht aus, um die Probleme der Wortwahl zu kaschieren.

Dies setzt sich bis in den letzten Abschnitt fort.

Tamaras Mutter war vor Jahren gestorben. Und immer wieder dachte sie gern an diese Zeit zurück. Diese Zeit, die auch ihre Glücksmomente hatte.
Wenn ich es sehr streng ausdrücken soll, würde ich hier von Plattitüden sprechen: Es war eine harte Zeit, aber ich denke gern daran zurück, weil es ja auch viel Gutes gab. Leider haben solche Phrasen keinerlei Tiefgang und zerstören deshalb deine Geschichte, weil sie ihr durch ihr nichtssagendes Gepräge die literarischen Momente nehmen. Einen solchen Moment zu erzeugen ist aber die Kunst, um die es geht. Die Frage ist nur, wie? In meinen Augen eine gute Variante ist es, die eigentliche Aussage durch rhetorische Mittel zum Ausdruck zu bringen. Der triviale Satz Und immer wieder dachte sie gern an diese Zeit zurück könnte z.B. durch eine Allegorie veranschaulicht werden. Wenn ich an jemanden zurückdenke, dann blättere ich z.B. in einem Fotoalbum, oder ich besuche einen Ort, den ich mit der Person verbinde etc. Ich bin mir sicher, dass dein Text viel griffiger wäre, wenn du in diesem Sinne deine Aussagen mit mehr Tiefgang versehen würdest.

Tatsächlich anrührend finde ich aber das Ende deiner Geschichte, der Gruß in den Himmel hat mich lächeln lassen.

Herzliche Grüße
Frodomir

PS: Ich möchte am Ende noch erwähnen, dass ich mich doch wundere, wieso ich immer wieder lesen muss, dass der Inhalt wichtiger sei als die Form? Beides bedingt einander und kann ohne das andere nicht funktionieren. Um einen Inhalt in der Kunst so zu vermitteln, wie man es sich im Idealfall vorstellt, bedarf es der Fähigkeit, die Vermittlungsformen einzuüben. In der Literatur gehört dazu auch die Rechtschreibung. Oder wie würdet ihr reagieren, wenn ein Musiker sein Instrument nicht richtig beherrscht und es ganz furchtbar klingt? Und auf eure Kritik hin würde er sagen, ja, dass ist nicht so schlimm, wichtig ist, dass der Inhalt stimmt! Das würde nicht funktionieren.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

Ji Rina

Mitglied
Lieber Frodomir,

Es hat mich sehr gefreut, einen so langen Kommentar mit Verbesserungs-Vorschlägen zu bekommen. Bekommt man ja eher selten ;) Einiges von Dir kann ich gut nachvollziehen – anderes nicht so sehr. Oder um es besser zu formulieren: Ich verstehe nicht, was damit gemeint ist. Und so muss auch ich Schritt für Schritt vorgehen, um dir eine Antwort geben zu können:

FRODOMIR SCHRIEB:
Der Text beginnt mit der Beobachtung einer alten Dame, die augenscheinlich bedürftig ist und bei der Protagonistin Tamara Mitleid erregt. Da dabei auch explizit von einer Beobachtung die Rede ist, ist es aber in meinen Augen ungeeignet, eine auktoriale Erzählperspektive einzunehmen. Ich würde strikt aus der Sicht Tamaras schreiben und demzufolge Sätze wie
Sie wartete auf das Öffnen der Türen der Caputxins Kirche. Ein bisschen essen war alles was sie wollte.

Aus der ich Perspektive zu schreiben ist eine gute Idee! Ursprünglich hatte ich ihn auch in der Perspektive, aber dunkle Gedanken, liessen es mich dann abändern.

FRODOMIR SCHRIEB:
entweder dieser Perspektive anpassen oder gänzlich streichen. Denn die Protagonisten kann ja keinesfalls wissen, dass die alte Dame in dieser Situation nur daran interessiert ist, Essen zu erhalten. Vielleicht sucht sie auch ein Gespräch? Oder möchte jemanden treffen?

Die Prot. hat diese Frau schon öfters beobachtet. Deshalb schrieb ich “da stand sie wieder” und als auktorialer Erzähler sage ich dem Leser: Ein bisschen Essen war alles was sie wollte. Da sie öfters dort steht, um ihre Tüte mit Essen zu bekommen. Das jedenfalls hat Tamara öfters beobachtet.

FRODOMIR SCHRIEB:

Wenn es dann am Ende des ersten Absatzes heißt:
Manchmal lächelte sie vor sich hin, so als lebe sie in einer anderen Zeit.
wird deutlich, dass das Changieren zwischen dem auktorialen und personalen Erzähler beim Leser zu Schwierigkeiten führen kann, weil eine solche Uneinheitlichkeit die Immersionskraft des Textes blockiert.
----à Auch heute war die alte Frau wieder allein. Sie sprach mit niemandem und richtete ihren Blick auf den Boden. Manchmal lächelte sie vor sich hin, so als lebe sie in einer anderen Zeit.
Hier wird nur über die alte Frau berichtet. Ich verstehe beim besten Willen nicht, was du meinst.

FRODOMIR SCHRIEB:
Ein weiteres Problem, welches die Wirkung der Geschichte in meinen Augen schwächt, ist eine mangelnde Verdichtung. Dieser Mangel entsteht hier durch zum Teil beliebig wirkende Adjektive und meiner Meinung nach auch durch unnötige erklärende Einschübe. Nehmen wir nur die ersten beiden Zeilen des Textes, wird dieses Problem schon sichtbar. Ich markiere die Stellen, an denen ich als Leser das Gefühl mangelnder Verdichtung hatte:

Da stand sie wieder in der Schlange. Leicht gebückt, in diesen Lumpen und abgewetzten Schuhen, gestützt auf einem Gehstock. Sie wartete auf das Öffnen der Türen der Caputxins Kirche. Ein bisschen essen war alles was sie wollte.

So frage ich mich z.B., warum die Dame nur leicht gebückt da steht oder warum es gerade diese Lumpen sind, die sie trägt? Das Bild, welches der Text zu erzeugen versucht, wird durch solche Einschübe meiner Ansicht nach nicht konkreter, sondern letztlich sogar verwässert. Wäre es demzufolge nicht ratsamer, aus der personalen Perspektive Tamaras zunächst die Situation so direkt wie möglich, damit aber auch noch deutlich intensiver, zu schildern? Wenn ich mir erlauben darf, die ersten Zeilen etwas umzugestalten, würde ich dies in etwa so tun:

FRODOMIRS BEISPIEL:
Sie stand in der Schlange vor der Essensausgabe in der Caputxins Kirche. Tamara wusste nicht, weshalb gerade die zerlumpte und buckelige Gestalt dieser alten Frau ihren Blick so fesselte, aber...

Dieser Satz mach ja eigentlich den ganzen Plot kaputt. Tamara hat Hemmungen dieser Frau das Geld zu geben. Oft hat sie sie beobachtet und will ihr Geld geben. Traut sich aber nicht. Es ist ja nicht so, dass Tamara die Frau sieht und denkt: Oh, der gebe ich heute Geld….Ausserdem hat die Frau keinen Buckel, sondern geht nach vorn gebeugt. Nun weiss ich nicht, ob meine Beschreibung (leicht gebückt?) dazu korrekt war. Wenn ich jedoch “leicht gebückt” bei Google Images eingebe, bekomme ich das exakte Foto dieser Frau: Leicht gebückt, an einem Stock gehend.

FRODOMIR SCHRIEB:

Wenn so z.B. geschildert wird, dass es in der Kirche eine Essensausgabe gibt, braucht es nicht mehr die Erklärung, dass die alte Dame gern etwas zu Essen möchte.

Das ist richtig. So könnte man es schreiben.


FRODOMIR SCHRIEB:

Aber dies ist nicht immer so. Wenn es dann nämlich heißt

Tamara beobachtete sie von der gegenüberliegenden Straßenseite.

dann möchte ich als Leser gern wissen, wer Tamara ist und was sie auf der anderen Straßenseite macht. Auch hier würde aber schon eine kleine Information reichen, um die Szenerie hinlänglich zu erklären. Tamara könnte z.B. dort in einem Café arbeiten und täglich sehen, wie an der Kirche eine Dame ihr Essen abholt. Dann könnte es z.B. so weitergehen:
Sie stand in der Schlange vor der Essensausgabe in der Caputxins Kirche. Tamara, die Kellnerin aus dem Café gegenüber, wusste nicht, weshalb gerade die zerlumpte und buckelige Gestalt dieser alten Frau ihren Blick so fesselte, aber sie starrte immer wieder...

Tamara arbeitet aber in keinem Café ….Sondern steht ganz einfach (wie so oft zuvor) auf der anderen Strassenseite und beobachtet diese Frau zum X Mal. Der Fokus richtet sich auf ihren Entschluss, es endlich zu wagen, dieser Frau Geld zu geben. Ich finde es da nicht so wichtig, wer Tamara ist. Freilich, könnte man es sehr gut hinzufügen. Aber mir ging es nur um diese Tat. Wenn dies ein grosser Störfaktor ist, ändere ich es natürlich.

FRODOMIR SCHRIEB:

Wenden wir uns nun dem zweiten Absatz zu, Meiner Meinung nach wird hier nun die Handlung sehr schnell voran getrieben. Freilich - es wird im Text noch erklärt, weshalb Tamara das unbedingte Bedürfnis hat, Geld zu verschenken, aber der innere Konflikt, den die Protagonistin im zweiten Absatz austrägt, kommt für mich ziemlich überraschend (Dies geschieht drei und halb Zeilen später! Warum ist es dann so überraschend?) und stilistisch auch zu erklärend daher. Die zweifelnden Fragen, die sich Tamara stellt, würde ich deshalb vielleicht der Fantasie des Lesers überlassen (Wie soll der Leser denn ahnen, dass sie Hemmungen hat die Frau anzusprechen/ Geld zu geben?) . Dies ist auch von Bedeutung, weil die Protagonistin an dieser Stelle selbst noch nicht zu wissen scheint, woher ihr Bedürfnis der Schenkung rührt (Das weiss sie sehr wohl. Meine Frage hier ist deshalb: Muss der Auktoriale Erzähler alle Hintergründe bereits im selben Augenblick des Geschehens erklären?) . Erst durch die Tat erlebt sie eine innere Erkenntnis, die sie letztlich dazu befähigt, Erinnerungen wieder aufsteigen zu lassen. Demzufolge ist es in meinen Augen sinnvoller, einen erzählenden Stil beizubehalten und den inneren Konflikt der Protagonisten nicht weiter auszuschmücken. Vielleicht könnte es dann in etwa so heißen:

... Sie fragte sich, warum es gerade diese Frau war, die ihr so leid tat, immerhin warteten vor der Kirche noch ein Dutzend mehr Bedürftige auf eine Mahlzeit. Tamara wollte ihr helfen, nur ihr. Sie fürchtete sich vor der Reaktion der alten Dame, aber sie hatte sich entschieden: ...

FRODOMIR SCHRIEB:

Im dritten Absatz finden sich wieder die Probleme, die schon im ersten Abschnitt sichtbar waren, also die Erzählperspektive und die unnötigen Worte, die z.T. sogar beliebig wirken. Beispielhaft dafür wäre der zusammengeknüllte 100 € Schein. Es ist freilich schon überraschend genug, dass die Protagonisten 100 € einfach so parat hat (Ich glaube dies sprengt ein wenig den Rahmen der Textanalyse….;)Ich kenne tatsächlich Menschen, die solche Summen an arme geben) aber warum ist dieser Schein zusammengeknüllt? (Der Schein ist zusammengeknüllt, weil sie ihn der Frau so unauffällig wie möglich zukommen lassen will. Es wird ja erklärt, dass sie Hemmungen hat, dies zu tun). Und warum sind es genau 100 €? (Es sind 100 Euro, weil Tamara sich gedacht hat, das Hundert Euro eine angemessene Summe sei. ) Meiner Meinung nach wird die Motivation für genau diese (hohe) Summe nicht deutlich genug. (Sie wird doch am Ende des Textes deutlich: Heute kann die alte Frau sehr viel mehr als ein Brot und Milch kaufen. Im Gegensatz zu Tamara, die sich das damals nicht leisten konnte) ) Es wirkt sehr willkürlich. Und Willkür ist meiner Meinung nach der Tod eines Textes, weil das intuitive Verstehen der Geschichte durch den Leser dadurch nicht mehr funktioniert (Aber was hast du denn gedacht, als am Ende des Textes genau erklärt wird: Dass dieses Geld für sehr viel mehr als Brot und Milch reicht? Ein Leser könnte denken: Achso! Deshalb 100 Euro. Aber vielleicht erwarte ich da auch zuviel von dem Leser. Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.). Genauso verhält es sich auch mit dem kleinen Jungen. Dessen Aufgabe ist es, die beiden Gesprächspartnerinnen abwechselnd anzuschauen? An dieser Stelle ist es in meinen Augen schwierig, als Leser noch am Ball zu bleiben, weil der Text nun sehr beliebig zu werden droht. Dies erkennt man daran, dass man die Situation mit dem Jungen ohne Verlust vollständig aus dem Text streichen könnte. (Ja, den Satz könnte man tatsächlich streichen. In der Szene ist Tamara sehr nervös. Sie hält der alten Frau das Geld hin und die Frau reagiert nicht. Hinzu kommt der kleine Junge, der beide anschaut. Tamara ignoriert ihn und wiederholt ihren Satz noch einmal, in der Hoffnung die alte Frau würde endlich reagieren- Wenn dies den Leser überfordert, kann ich den Satz streichen, da er nicht umbedingt notwendig ist). Oder man ersetzt den Jungen durch ein Mädchen (Wo ist denn der Unterschied ob da ein Junge oder ein Mädchen steht?) , oder man lässt sich etwas ganz anderes einfallen, es wäre alles egal. Und das darf keinesfalls passieren, denn egal ist das letzte, was man über seine Geschichte hören möchte. (Wie kommst du auf dieses egal? Ich habe mir ja was dabei gedacht, als ich es schrieb).

FRODOMIR SCHRIEB:

Leider ist der dritte Abschnitt des Textes voll von solchen Momenten, sodass es hier meiner Meinung nach nicht gelingt, eine fühlbare Atmosphäre zu erzeugen. Ein letztes Beispiel dafür ist folgende Situation:

Und als sie endlich die Hand um den Schein schloss, drehte Tamara sich um und verschwand.

Hier stellt sich mir die Frage, weshalb die Protagonistin sich umdreht und verschwindet? Ja, freilich kann man sich das notgedrungen irgendwie zusammenreimen, aber aus dem Text heraus wird es keinesfalls deutlich. ( Nein, es wird nicht deutlich gesagt, weil ich dachte, ein Leser kónne die Zusammenhänge erkennen: Tamara hat Hemmungen, dass wird vorher gesagt, dass wird deutlich, während sie mit der alten spricht und sie hofft nur noch, dass die alte Frau das Geld nimmt. Und als dies geschieht, verschwindet sie.) Hätte ich geschrieben:

Tamara lächelte die alte Frau an und klopfte ihr ermunternd auf die Schulter.
“Ich würde mich freuen, wenn Sie mich mal besuchen würden”….etc..etc
Daraufhin drehte sie sich um und verschwand.

Könnte ich Dein Argument verstehen. Aber sie will doch nur das Geld geben. Sie wiederholt doch zweimal ihren Satz und wartet nur darauf, dass die Frau es endlich kapiert.

FRODOMIR SCHRIEB:

In Abschnitt 4 bekommt die Geschichte nun eine Metaebene. Die Motivation hinter der Aktion der Protagonistin wird sichtbar. Aber die angesprochenen Probleme des Stils setzen sich fort. Erneut wirkt es beliebig, wenn es heißt:
Sie setzte ihren Weg fort.

Sicherlich, ein als Kurzprosa gekennzeichneter Text darf oder sollte sogar manchmal auch im Vagen bleiben. Aber diese Stelle ist in meinen Augen zu vage. Sie setzte ihren Weg fort ist eher eine Phrase, wie sie in einem Märchen stehen könnte , als ein geeigneter Satz für diese Geschichte. Als Leser stelle ich mir unweigerlich die Frage: Welcher Weg? Wo geht sie hin? Zumal die Protagonistin im Satz zuvor ja auch einfach verschwunden ist und am Ende des Textes auf einmal wieder die Straße überquert.

Ja, das werde ich ausbessern und schreiben: Wo Tamara hinging, bevor sie von der Strasse aus die alte Frau sah. Um dann ihren Weg fort zu setzen.

Diese ist auch bedroht durch eine zu starke Einfachheit der WortwahlSo ist es für mich nur schwer möglich, gedankliche Anknüpfungspunkte zu finden, wenn in der Geschichte nun von harten Zeiten die Rede ist ( Hier könnte ich tatsächlich eine Einleitung schreiben, was alles die harten Zeiten ausmachten. oder wenn die Familie nur wenig Geld hat und nun Brot und Milch (von einer Münze?) (Wenn wir eine Münze nennen, könnte es eine zwei Euro Münze sein. Ein Liter Milch kostet bei Aldi 78 Cent. Ein Golden Butter Toast bei Edeka bekommt man für 75 Cent ).

FRODOMIR SCHRIEB:

Dies setzt sich bis in den letzten Abschnitt fort.

Tamaras Mutter war vor Jahren gestorben. Und immer wieder dachte sie gern an diese Zeit zurück. Diese Zeit, die auch ihre Glücksmomente hatte.

Wenn ich es sehr streng ausdrücken soll, würde ich hier von Plattitüden sprechen: Es war eine harte Zeit, aber ich denke gern daran zurück, weil es ja auch viel Gutes gab. Leider haben solche Phrasen keinerlei Tiefgang und zerstören deshalb deine Geschichte, weil sie ihr durch ihr nichtssagendes Gepräge die literarischen Momente nehmen. Einen solchen Moment zu erzeugen ist aber die Kunst, um die es geht. Die Frage ist nur, wie? In meinen Augen eine gute Variante ist es, die eigentliche Aussage durch rhetorische Mittel zum Ausdruck zu bringen. Der triviale Satz Und immer wieder dachte sie gern an diese Zeit zurück könnte z.B. durch eine Allegorie veranschaulicht werden. Wenn ich an jemanden zurückdenke, dann blättere ich z.B. in einem Fotoalbum, oder ich besuche einen Ort, den ich mit der Person verbinde etc.

(Ja, da gebe ich dir recht: Ich hätte es mit mehreren Beispielen ausschmücken können, ein bisschen mehr Text hinzufügen.)

FRODOMIR SCHRIEB:

PS: Ich möchte am Ende noch erwähnen, dass ich mich doch wundere, wieso ich immer wieder lesen muss, dass der Inhalt wichtiger sei als die Form? Beides bedingt einander und kann ohne das andere nicht funktionieren. Um einen Inhalt in der Kunst so zu vermitteln, wie man es sich im Idealfall vorstellt, bedarf es der Fähigkeit, die Vermittlungsformen einzuüben. In der Literatur gehört dazu auch die Rechtschreibung. Oder wie würdet ihr reagieren, wenn ein Musiker sein Instrument nicht richtig beherrscht und es ganz furchtbar klingt? Und auf eure Kritik hin würde er sagen, ja, dass ist nicht so schlimm, wichtig ist, dass der Inhalt stimmt! Das würde nicht funktionieren.

Dies kann ich Dir nur aus meiner Sicht erklären:
Wenn ich ein Buchladen betrete, ein Buch kaufe und dafür bezahle, erwarte ich ein perfektes Buch. Hier aber sind wir auf der leselupe (Hier arbeiten Sie handwerklich an Ihren Texten oder an Ihrem Stil.) Somit kann ich nicht erwarten, das jeder hier agierende Autor ein pefekten Text hinlegt und muss damit rechnen, dass dieser Text Fehler enthält, sei es in der Sprache, in der Form, in der Grammatik, oder was immer….Es nützt mir also nichts immer draufzuhauen und dem Autoren vorzuwerfen, er habe nicht perfekte Arbeit geleistet – denn dann müsste es bei der Lupe heissen: Stellen Sie ihren Text ein, beachten Sie jedoch, dass dieser in Stil Sprache, Form etc. perfekt präsentiert sein muss.

Vielleicht versteht man es so: Wenn ein Autor hier etwas einstellt, dann hat er sicherlich das beste gegeben, jedenfalls so, wie er konnte.

Wenn ich also unter diesen Voraussetzungen hier einen Text lese, der zwar nicht perfekt ist, der Inhalt aber schon mal sehr gut klingt, bewerte ich dies als sehr positiv. Denn letztendlich ist für mich der Inhalt einer Idee wertvoller und deshalb beachtenwerter, als fehlende Kommas oder hier und da ein Rechtschreibefehler.

Aber Achtung! Damit will ich nicht behaupten, dass Sprache, Grammatik, und alles andere, nicht auch äusserst wichtig ist. Oder ganz anders gesagt: Die Ideen von Raymond Carver, als Beispiel, sind für mich Einzigartig. Und er ist deshalb weltberühmt geworden. Aber auch ein Raymond Carver musste seine Texte in ein Lektorat und ein Korrektorat schicken.

Um abzuschliessen, denke ich, dass dieser Text für dich die totale Katastrophe sein muss.
Das tur mir leid. Und ich sage es ohne jegliche Ironie. Mehr kann ich dazu auch nicht sagen...
Die von Dir erwähnten Stellen (die ich verstehe), werde ich selbstverständlich nochmal unter die Lupe nehmen.
Ich bedanke mich für all diese Kommentare zu dem kurzen Text.
Mit Gruss,
Ji
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Liebe Ji Rina,

dein Text ist in meinen Augen keine Katastrophe, denn er hat eine berührende Grundidee und einen sinnvollen Aufbau. Ich denke nur, dass du das, was du mit der Geschichte vermitteln wolltest, durch einige Anpassungen und Veränderungen noch nachhaltiger an den Mann bzw. an die Frau bringen könntest. In diese Richtung zielt meine Kritik, denn wenn ein Text bei mir nicht die erhoffte Wirkung entfaltet, frage ich mich in der Regel, woran dies im Detail liegen mag.

In deiner Antwort auf meinen Beitrag erklärst du nun in erster Linie, was deine Intentionen beim Schreiben des Textes waren und diese sind selbstverständlich sehr wichtig und sollen von mir nicht angetastet werden. Aber alles gut gemeinte Bestreben nützt am Ende wenig, wenn es an der Umsetzung dessen hapert. Denn es ist ja wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass der Leser die Intention nicht lesen kann, er kann nur eines: sein Weltwissen mit dem im Text angebotenen Informationsgehalt zu verknüpfen. Zu einem literarischen Erlebnis wird es dann, wenn diese Verknüpfung durch die Kunst des Schreibers so gut gelingt, dass es beim Lesenden Gefühle der Immersion oder sonstige intellektuelle oder emotionale Momente hervorruft.

Auf einzelne Punkte, die du in deiner Antwort angesprochen hast, möchte ich eingehen.

Aus der ich Perspektive zu schreiben ist eine gute Idee! Ursprünglich hatte ich ihn auch in der Perspektive, aber dunkle Gedanken, liessen es mich dann abändern.
Die Ich-Perspektive hatte ich gar nicht erwähnt, aber ich denke, bei deinem Text würde sie dennoch gut passen. Alternativ wäre es in meinen Augen am besten, aus der Perspektive Tamaras zu schreiben, auktorial würde ich hier nicht vorgehen.

Die Prot. hat diese Frau schon öfters beobachtet. Deshalb schrieb ich “da stand sie wieder” und als auktorialer Erzähler sage ich dem Leser: Ein bisschen Essen war alles was sie wollte. Da sie öfters dort steht, um ihre Tüte mit Essen zu bekommen. Das jedenfalls hat Tamara öfters beobachtet.
Es ist mir schon klar, dass das Wort wieder ausdrücken soll, dass Tamara die Dame schon öfter beobachtet hat. Ich hatte das markiert, weil mir persönlich die Einleitung der Story nicht so gut gefallen hat und ich die zeitliche Dimension anders ausgedrückt hätte. Aber das ist nicht sonderlich objektiv, da habe ich etwas über das Ziel hinaus geschossen. Zur Erzählperspektive habe ich mich schon geäußert, der auktoriale Erzähler wirkt hier meiner Meinung nach nicht geschickt.

Hier wird nur über die alte Frau berichtet. Ich verstehe beim besten Willen nicht, was du meinst.
Da kannst du auch nicht viel verstehen, weil ich mich an dieser Stelle geirrt habe. Ich verstehe beim besten Willen auch nicht, wo ich hier die auktoriale Perspektive gesehen habe, denn in dieser Passage wird eindeutig aus einer beobachtenden Sicht geschrieben.

Dieser Satz mach ja eigentlich den ganzen Plot kaputt. Tamara hat Hemmungen dieser Frau das Geld zu geben. Oft hat sie sie beobachtet und will ihr Geld geben. Traut sich aber nicht. Es ist ja nicht so, dass Tamara die Frau sieht und denkt: Oh, der gebe ich heute Geld….Ausserdem hat die Frau keinen Buckel, sondern geht nach vorn gebeugt. Nun weiss ich nicht, ob meine Beschreibung (leicht gebückt?) dazu korrekt war. Wenn ich jedoch “leicht gebückt” bei Google Images eingebe, bekomme ich das exakte Foto dieser Frau: Leicht gebückt, an einem Stock gehend.
Meiner Meinung nach wird der Plot hier nicht zerstört, weil ich die Hemmungen und die Tatsache, dass die Protagonistin die Dame schon öfter gesehen habe, gar nicht gestrichen habe. Ich denke nur, dass diese Informationen später im Text immer noch kommen können (da ich ja nicht deinen Text neu schreiben möchte, habe ich nach meinem Vorschlag drei Punkte gemacht, an denen man wieder anknüpfen kann) und es zunächst einmal wichtig ist, die grundlegenden Informationen zum Ort und den handelnden Personen so zu vermitteln, dass ich als Leser auf irgendeiner Ebene in den Text gezogen werden kann. Deshalb hatte ich das Beispiel mit der Kellnerin gebracht. Ansonsten habe ich nämlich über die Protagonistin so wenige Informationen, dass es mir nicht möglich ist, irgendeinen Ankerpunkt zu finden, welcher mich im Text hält. Den inneren Konflikt Tamaras kann man doch immer noch zeigen.

Zum Thema des Buckels: Kann es sein, dass sich dein Text sehr stark an einer wirklichen Begebenheit orientiert? Ich habe nämlich den Eindruck, du vergleichst meine Kritik und meine Vorschläge mit der Realität und wunderst dich dann, dass dies nicht zusammenpasst. Zumindest ging es mir in meinem Vorschlag nicht darum, dir einen perfekten Satz zu konstruieren, der anstelle deines eigenen Satzes in deinen Text eingefügt werden sollte. Es ging mir darum, dir zu zeigen, wie man mit einer verdichteten Sprache eine stärkere Wirkung erzielen kann (ob mir dies gelungen ist, steht auf einem anderen Papier). Die korrekte Anatomie der Frau ist mir als Leser wahrscheinlich nicht so wichtig wie dir als Autorin.

Tamara arbeitet aber in keinem Café ….Sondern steht ganz einfach (wie so oft zuvor) auf der anderen Strassenseite und beobachtet diese Frau zum X Mal. Der Fokus richtet sich auf ihren Entschluss, es endlich zu wagen, dieser Frau Geld zu geben. Ich finde es da nicht so wichtig, wer Tamara ist. Freilich, könnte man es sehr gut hinzufügen. Aber mir ging es nur um diese Tat. Wenn dies ein grosser Störfaktor ist, ändere ich es natürlich.
Wie gesagt, das Café war nur ein Vorschlag. Aber dieser Vorschlag führt zu Immersion. Mit dem Ort entsteht ein Bild im Kopf des Lesers. Einfach nur zu schreiben: auf der anderen Straßenseite - welches Bild soll da entstehen? Es ist doch keine Schande, die erfahrene Realität in einer Geschichte so zu verändern, dass sie eine stärkere Wirkung erzielt. Es ist also egal, ob Tamara eine Kellnerin ist oder nicht - Hauptsache sie ist eine Person, mit der ich als Leser in emotionalen Kontakt treten kann. Und das kann ich mehr, wenn sie nicht nur auf der anderen Straßenseite herumsteht. Um die Interaktion mit der alten Dame in eine Story einzubetten, die mich abholt, braucht es meiner Meinung nach solche Informationen.

(Das weiss sie sehr wohl. Meine Frage hier ist deshalb: Muss der Auktoriale Erzähler alle Hintergründe bereits im selben Augenblick des Geschehens erklären?
Wenn du bei dieser Perspektive bleiben möchtest und auch im Allgemeinen würde ich sagen: Nein, muss er nicht.

(Der Schein ist zusammengeknüllt, weil sie ihn der Frau so unauffällig wie möglich zukommen lassen will. Es wird ja erklärt, dass sie Hemmungen hat, dies zu tun).
Meiner Meinung nach wird dies durch das Adjektiv nicht richtig deutlich. Hier wäre es vielleicht besser, die Situation einzuleiten, also z.B.: Tamara griff in ihr Portemonnaie und zog einen grünen Geldschein heraus. Unauffällig faltete sie ihn zusammen...

Es sind 100 Euro, weil Tamara sich gedacht hat, das Hundert Euro eine angemessene Summe sei.
Aber woher soll ich wissen, was Tamara sich denkt?

(Aber was hast du denn gedacht, als am Ende des Textes genau erklärt wird: Dass dieses Geld für sehr viel mehr als Brot und Milch reicht? Ein Leser könnte denken: Achso! Deshalb 100 Euro. Aber vielleicht erwarte ich da auch zuviel von dem Leser. Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.)
Natürlich habe ich am Ende auch gedacht, ah, gut, eine hohe Summe, die ein bisschen was bringt. Aber dass es eben genau 100 € sind, dass wirkt in meinen Augen willkürlich. Meiner Meinung nach erwartest du vom Leser zuviel, und zwar in der Hinsicht, dass du teilweise verlangst, man wüsste, was im Kopf der handelnden Personen vor sich geht. Aber das kann niemand wissen. Deshalb ist es ja so wichtig, genügend Informationen zu vermitteln und auch, die Dinge (wie z.B. das Geld) nicht einfach so erscheinen zu lassen, sondern die Erscheinung auch zu zeigen.

Wo ist denn der Unterschied ob da ein Junge oder ein Mädchen steht?
Eben - es gibt keinen. Deshalb ist es ja so beliebig.

Wie kommst du auf dieses egal? Ich habe mir ja was dabei gedacht, als ich es schrieb
Ein Satz, oder ein Wort, oder eine Phrase - wenn man es ersatzlos streichen oder beliebig verändern kann, welchen Wert hat es dann in einem Text?

Nein, es wird nicht deutlich gesagt, weil ich dachte, ein Leser kónne die Zusammenhänge erkennen: Tamara hat Hemmungen, dass wird vorher gesagt, dass wird deutlich, während sie mit der alten spricht und sie hofft nur noch, dass die alte Frau das Geld nimmt. Und als dies geschieht, verschwindet sie.
Der Leser kann nur die Zusammenhänge erkennen, die du ihm als Autorin mit auf den Weg gibst. Und natürlich: Irgendwie kann ich mir schon denken, dass der Protagonistin die ganze Show irgendwie unangenehm ist und sie deshalb am Ende lieber das Weite sucht. Aber ich will es mir nicht irgendwie denken müssen, ich möchte es im Text besser begründet wissen. Oft reichen dafür schon kleine Veränderung. Diesbezüglich wäre die Frage angebracht, welche Worte drücken geschickt aus, wie ein Mensch aus einer peinlichen Lage entkommt?

Herzliche Grüße
Frodomir

PS: Nein, Draufhauen (ich hoffe sehr, du hast meine Kritik nicht als eine solche Gewalttat empfunden, denn das täte mir sehr leid) nützt nichts und du hast in meinen Augen auch Recht damit, dass es ein Unterschied In der Anspruchshaltung zwischen Texten in einem Internetforum und einem verlegten Buch bestehen sollte. Dennoch ist es meiner Ansicht nach, egal aus welcher Richtung man sich dem Thema des Schreibens nähert, eine Fehleinschätzung, den Inhalt über die Form zu stellen. Dazu gehören ja nicht nur die Rechtschreibung und die Grammatik (ohne die ein Text auch niemals funktionieren würde), sondern auch stilistische Mittel, Metaphern, Allegorien etc. pp. Und je besser man diese Formmittel beherrscht, umso wirkungsvoller kann man seinen Text gestalten.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

Ji Rina

Mitglied
Hallo Frodomir,

Ich habe Deine Rätschläge nochmal gründlich durchgelesen und sie zusammengefasst:

Aus Tamaras Perspektive erzählen.
Tamara als Prot präsentieren (Wer ist sie?)
Warum steht sie dort an der Strasse/ Wo geht sie später hin?
Die alte Frau hat einen Buckel / oder sonstwie besser beschreiben
Beschreiben: Tamara öffnet ihr Portmonnaie und holt einen Schein heraus, den sie zusammenfaltet.
Tamara erklären lassen, warum sie der Frau Geld geben will und warum exakt 100 Euro.
Erklären, warum Tamara sich so schnell wieder auf den Weg macht, nachdem sie den Schein überreicht hat.

Für mich ( so sehe ich es) sin des keine Korrekturen mehr, die man schnell in Angriff nimmt. Sondern die Geschichte neu schreiben. Deshalb werde ich den Text löschen (jetzt muss ich als erstes die Korrekturen von Ben Vart in der Erzählung Mercedes durchführen). Dann werde ich (sobald es mich packt) diesen Text neu schreiben.

FRODOMIR SCHRIEB:
PS: Nein, Draufhauen (ich hoffe sehr, du hast meine Kritik nicht als eine solche Gewalttat empfunden, denn das täte mir sehr leid) nützt nichts und du hast in meinen Augen auch Recht damit, dass es ein Unterschied In der Anspruchshaltung zwischen Texten in einem Internetforum und einem verlegten Buch bestehen sollte.


Nein, natürlich bezog sich mein Kommentar nicht auf dich. Sondern war generell gemeint. Ich denke, auch dein Kommentar war generell gemeint.

Dir nochmal herzlichen Dank für die Ratschläge, all deine investierte Zeit und den intensive Austausch.

Mit Gruss, Ji
 

molly

Mitglied
Liebe Ji,
Ich möchte doch noch etwas zu Deiner Geschichte sagen:

"Da stand sie wieder in der Schlange. Leicht gebückt, in diesen Lumpen und abgewetzten Schuhen, gestützt auf einem Gehstock. Sie wartete auf das Öffnen der Türen der Caputxins Kirche. Ein bisschen essen war alles was sie wollte.
Tamara beobachtete sie von der gegenüberliegenden Straßenseite. Sah sie zwischen den drängelnden Passanten und hupenden Autos. Auch heute war die alte Frau wieder allein. Sie sprach mit niemandem und richtete ihren Blick auf den Boden. Manchmal lächelte sie vor sich hin, so als lebe sie in einer anderen Zeit."

Da sind alle Informatonene drin, dass die Frau Essen will. Warum stünde sie sonst in der Schlange, schweigend, armselig. Du brauchst an Deiner Geschichte kaum etwas ändern, höchstens das, was Franke irritiert hat. Für mich war von Anfang an alles klar.

Grüßle
molly
 



 
Oben Unten