Man sollte sich beim Kommentieren auf das beziehen, was im Text zu finden ist. Sofern man sich genötigt sieht, Erklärungen nachzuschieben, was richtigerweise gemeint war, bedeutet dies zugleich ein Eingeständnis sprachlicher oder anderer Mängel.
Es geht mir nach wie vor darum, auf sprachliche und inhaltliche Mängel des vorliegenden Sonetts hinzuweisen, nicht auf Fehler.
"ihm gut zuhörst und verstehst":
Hier bestätigen mir Walthers "Übersetzungshilfen" nur, dass in V2 etwas faul ist, bzw. so schlecht formuliert, dass selbst der Autor hier "Irritationen" einräumt. Ich verzichte daher auf weitere Ausführungen.
"weise machen":
Niemand hat bestritten, dass Lebenserfahrung zur Erlangung von Weisheit notwendig ist. Aber sie ist nicht hinreichend, sonst wäre die Weisheit wohl häufiger anzutreffen, nach einer gewissen Lebensspanne sogar unvermeidlich. Doch ohne die aktive nachfolgende Verarbeitung von Erfahrungen zu tieferer Einsicht und zur Erkenntnis wird es nichts mit der Weisheit. Sofern man sich nicht mit Konditionierungen zufrieden gibt, bleibt das Lernen ein aktiver Vorgang selbst dort, wo das Leben uns etwas lehrt.
Zweifellos passt "machen" eigentlich "irgendwie" immer, ist nicht falsch, aber sprachlich so unpräzise und so oberflächlich, dass es in klugen Gedichten nichts verloren hat.
"Glut"
Dass ein Feuer Distanz zu sich selbst benötigt, wäre mir neu. Meistens bedarf es seiner eigenen Nähe zum Brand.

Was Glut mit Distanz zu sich selbst tun hat, bleibt mir schleierhaft. Eine Selbstentfachung wäre gerade dort am wahrscheinlichsten, wo sich etwas konzentriert um sein eigenes Ego dreht.
So schlecht wie Feuer und Distanz zusammenpassen, so wenig passt das Bild der Glut zur Weisheit. Glut steht zumeist für schwer zu kontrollierende innere Antriebe, für starke Emotionen wie Hass oder Liebe, deren Brand das Ich antreibt und zugleich bedroht. Im Zusammenhang mit Besonnenheit, Nachdenklichkeit und Ruhe sollte man besser von "Wärme" sprechen.
"Weisheit als Liebe"
Das Kumulieren von Klugheit, Wissen und Erfahrung muss sich nicht zwangsläufig zur Weisheit entwickeln, auch dann noch nicht, wenn das Ego überwunden wird. Auch ein Misanthrop hat sein Ego überwunden, aber sich zugleich von den Menschen abgekehrt. So klug und tiefblickend er auch sein mag, zur Weisheit wir er's nicht bringen. Dazu fehlt ihm die Menschenliebe als Ausdruck eines Humanismus, der mit der Wärme besser zum Ausdruck gebracht wird, als mit Glut. Dieser humanistische Gedanke ist ja im "Lehrer" bereits enthalten, auch wenn man sich darüber oft nicht im Klaren ist. Für ein Gedicht, wäre dies eine große Chance, die hier leider verpasst wurde.
"Selbstentzündung"
Altruismus, Zuhören, Verstehen, Besonnenheit, Offenheit, Loslassen, Mut sind alles wunderbare Tugenden, doch berühren sie den Kern der Weisheit nicht. Sie entzünden auch keine Weisheit. Mit ihnen könnte sich wahrscheinlich noch jeder IS-Kandidat identifizieren. Der Kern der sokratischen Weisheit beruht auf der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit: Ich weiß, dass ich nicht weiß.
Grüße
JB