ThomasQu
Mitglied
Ein ungewöhnliches Erlebnis
Ich öffnete die Tür und betrat die kleine Bar. Dort hinten im Eck saß er, zusammengekauert hinter seinem Bierglas - mein alter Freund Norbert, von dem ich seit vielen Jahren nichts mehr gehört hatte.
Ich ging auf ihn zu, wir reichten uns die Hände und ich setzte mich zu ihm an den Tisch.
„Schön, dass du gekommen bist“, ergriff er das Wort, „bin froh, dass ich diese Telefonnummer von dir gefunden hab.“ Er trank aus und bestellte per Handzeichen zwei weitere Gläser Bier. „Ich hab dich um dieses Treffen gebeten, weil mir was auf der Seele brennt, das ich keinem anderen erzählen kann.“
„Na, da bin ich neugierig. Aber - wie geht´s dir denn? Was hast du denn gemacht in all der Zeit?“
„Na ja …“, er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Seitdem das vor ein paar Jahren mit Elke zu Ende gegangen war, lebe ich nur noch im Wohnmobil, ständig unterwegs. Und du? Bist du noch mit Bettina verheiratet?“
„Natürlich, ja. Wir haben drei Kinder, Reihenhäuschen, Job passt auch, wir können nicht klagen. Aber warum wolltest du denn nicht zu uns nach Hause kommen? Warum in diese Kneipe?“
„Weil es ein Vieraugengespräch sein soll. Also, pass auf, vor ein paar Wochen war ich auf einem Campingplatz im Bayerischen Voralpenland, du erinnerst dich, als wir diese Hitzewelle hatten. Eines Morgens, gleich nach Sonnenaufgang, bin ich hinaus auf den See geschwommen. Plötzlich wurde mir übel und ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Ufer im Gras auf ´ner Trage, ´ne Menge Leute um mich herum. Der Notarzt erzählte mir später, dass er ´ne dreiviertel Stunde verzweifelt versucht hatte, mich zu reanimieren und dass er überhaupt nicht begreifen kann, dass ich noch lebe. Die Sanis hatten schon ein Tuch über mein Gesicht gezogen und wollten mich gerade abtransportieren, als sie bemerkten, dass sich darunter plötzlich was bewegte und sich mein Brustkorb zu heben begann.“
„Oh Gott, was für eine Geschichte. Da hast du ja wirklich Glück gehabt. Hättest doch mal Bescheid geben können.“
„Ja, aber das ist es nicht, was mich so aufwühlt, sondern das, was ich während meiner Ohnmacht erlebt habe.“
Die Bedienung kam und stellte uns mit einem „Zum Wohl“ das bestellte Bier auf den Tisch.
Wir nahmen die Gläser und stießen an.
„Du hast doch bestimmt schon Erzählungen über Nahtoderfahrungen gehört“, fuhr er fort und sah mich mit zusammengekniffenen Lippen an. „So ähnlich war das auch bei mir. Zuerst schwebte ich drei Meter über meinem leblosen Körper, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Dann stieg ich auf, immer höher und eine seltsame Ruhe erfasste mich.“ Er machte eine kurze Pause, betrachtete sein Glas und massierte sich Gesicht und Schläfen. „Dann plötzlich dieses Licht, auf das ich zusteuerte. Ich fühlte mich federleicht und glücklich. Die Farbe des Lichtes änderte sich nun von einem dunklen Orange in ein sehr helles Grau, als würde ich in Wolken schweben. Als die sich auflösten stand ich plötzlich in einer Säulenhalle. Vor mir ein altes Männchen, vielleicht einen Meter groß. Langer weißer Bart, schlohweißes Haar … Verdammt noch mal, ich weiß selber, wie idiotisch das klingt.“ Norbert schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wie im Märchenfilm, der volle Kitsch, aber - ich werd´ wahnsinnig, es war so!“
Er hatte sich richtig in Rage geredet und versuchte, ein paarmal durchzuschnaufen und sich zu beruhigen.
„Das Männchen hatte rubinrote Augen und sah mich mit zusammengekniffenen Brauen an. `Soso, also wieder versagt!´ Er stieß seinen Stock so zornig auf den Boden, dass der zerbrach. `Du hast die Gesetze nicht befolgt! Wieder nicht!´ Ich wollte wissen, welche Gesetze denn, aber er schrie `Die Gesetze, die in euren alten Büchern stehen! Du wirst jetzt in einem anderen Körper ein neues Leben führen müssen, und das so oft, bis du sie einhältst!´ Ja, und dann bin ich aufgewacht. In meinem alten Körper. Irgendwas muss da schiefgelaufen sein, ich kann es mir nicht anders erklären.“
„Noch ein Bier?“ Die Bedienung riss uns aus unseren Gedanken. Wir bestellten und ich versuchte, das Erzählte ein wenig in mir wirken zu lassen.
Nach einer Weile meinte Norbert: „Was sind denn das für Aussichten, wenn man jedes Mal nach dem Tod irgendein neues Leben führen muss? Man weiß ja nicht, als was man wiederkommt. Die halbe Menschheit lebt in Armut und ob ich nochmal das Glück habe, Mitteleuropäer sein zu dürfen? Oder Mensch? Vielleicht bin ich dann Ratte, Stinktier oder Mistkäfer. Und was war das für ein Männchen? Gott? Oder einer seiner Stellvertreter? Und von welchem Buch ist die Rede? Vom Koran? Der Bibel? Dem Talmud?“ Norbert ließ resigniert die Hände auf den Tisch fallen und griff erneut nach seinem Glas.
„Sag mal, könnte es nicht sein, dass du bei der Lösung der ältesten Menschheitsfrage einen Schritt weitergekommen bist? Was geschieht mit uns nach dem Tod?“
„Aber wer glaubt mir denn das? Die halten mich doch alle für einen Spinner!“ Norbert pustete durch. „Ich bin der Meinung, dass wir hier auf dem Planeten in so einer Art Hölle leben. Die ach so schöne Welt, von wegen! Die Natur ist unerbittlich. Denk nur an die panische Angst der Beutetiere vor ihren Räubern - und auch die finden ein unrühmliches, schmerzhaftes Ende. Warum muss das so sein? All die Angst, all die Qual? Ist das nicht ein grausamer Gott, der sich das ausgedacht hat? Dabei ist es nicht mal die Angst vor dem Sterben oder dem Tod, sondern die Angst vor der Wiedergeburt, die mich belastet.“
Wir bestellten noch einige Runden und Norberts Stimmung wandelte sich von Verzweiflung hin zum Sarkasmus. „Wäre interessant zu wissen, ob es bei den Mistkäfern auch alte Bücher gibt, an deren Regeln sie sich halten müssen.“
Erst als die Bedienung anfing, Stühle hochzustellen, wurde uns bewusst, wie spät es war. Wir verabredeten uns für den nächsten Abend, wieder in dieser Kneipe und Norbert bestellte ein Taxi, das ihn zu seinem Wohnmobil bringen sollte. Ich erwischte die letzte Straßenbahn.
Bettina lag schon im Bett, als ich zuhause ankam und ich umriss ihr kurz, worum es in unserem Gespräch ging.
„Ach, das ist doch alles Quatsch, ich glaub, das Gehirn spiegelt Einem allerhand Nonsens vor, wenn man in so einer Situation ist. Du, Tobi hat mich heute ganz schön auf Trab gehalten. Sein Husten ist noch schlimmer geworden, aber jetzt schläft er, Gott sei Dank. Und ich bin KO.“
Den ganzen nächsten Tag dachte ich darüber nach, wie ich meinem Freund helfen könnte und als ich am Abend die Bar betrat, hatte ich mir was vorgenommen. Ich sah schon einige Striche auf seinem Bierfilz, als ich mich zu ihm an den Tisch setzte. Er sah müde und abgespannt aus.
„Also, ich hab das alles sacken lassen und mir meine Gedanken gemacht, und - ich finde, du solltest dich mal ein bisschen zusammenreißen. Hast du dir mal überlegt, dass alles nur Illusion, nur Phantasie gewesen sein könnte? Nur ein komischer Traum? Bettina vermutet das übrigens auch.“
„Nein! Dafür war das viel zu intensiv und realistisch.“
„Also gut, dann gehen wir davon aus, dass es wirklich so war, wie du erzählst. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so ein Möchtegerngott, der irgendwas Unverständliches von alten Büchern faselt, zwar unser Universum und die Galaxien erschaffen haben will, aber nicht in der Lage ist, dein Bewusstsein oder dein “Ich“ in den vorgesehenen Körper zu verpflanzen.“
„Sowas lässt sich doch nicht mit menschlicher Logik erklären.“
„Aber bei deinen Schlussfolgerungen in Sachen Wiedergeburt hältst du dich an die menschliche Logik, oder? Egal … Mal angenommen, du hast mit deinen Befürchtungen recht, was kannst du denn machen? Gar nichts! Und so hast du für deine unmittelbare Zukunft zwei Möglichkeiten: Entweder verbunkerst du dich für den Rest deiner Tage in einer Klosterzelle und durchforstest alle erdenklichen alten Bücher, um an diese ominösen Weisheiten zu gelangen - Bücher, deren Sprache du nicht verstehst und deren Schrift du nicht lesen kannst. Oder du pfeifst auf dieses himmlische Gesindel und genießt dein Leben. Soll doch kommen, was will. Du bist kein Verbrecher, der ´ne Menge auf dem Kerbholz hat. Wenn diese göttlichen Gerichtsbarkeiten nicht einverstanden sind, so wie du bist und lebst, dann sind sie es mit keinem. Vielleicht noch mit Mutter Teresa, mit der aber nur ausnahmsweise.“
Jetzt musste selbst Norbert grinsen und seine Züge entspannten sich ein wenig.
„Denk daran, deine Gefühle werden von deinen Gedanken gesteuert. Und wenn du ewig in dieser Verzweiflungsschleife hängst, hast du doch schon jetzt die Hölle auf Erden, nicht erst im nächsten Leben. Darum, genieße deine Zeit und lass dich nicht von so ´nem debilen Tattergreis einschüchtern. Am Ende bist du bei deinem Trip ins “Off“ zufällig in der Alzheimerstation des göttlichen Kreiskrankenhauses gelandet, bist dort an irgendeinen Patienten geraten und denkst zwanzig Jahre lang über den Sinn seines Gebrabbels nach.“
Wir unterhielten uns den Rest des Abends mehr über die Welt, als über Gott und prosteten uns fleißig zu. Norbert bemerkte, dass er wohl doch den anstehenden Herbst und den Winter in Südspanien verbringen wolle, dort sei es bestimmt angenehmer als in einer Klosterzelle.
Erst, als die Bedienung fragte, ob sie wieder ein Taxi bestellen soll, wussten wir, dass es Zeit war. Wir umarmten uns und er versprach, in Zukunft häufiger von sich hören zu lassen.
Beschwingt und voller Freude, dass ich meinem Freund helfen und ihn aufmuntern konnte, machte ich mich auf den Weg und erwischte gerade noch die letzte Straßenbahn.
Als ich an der Endhaltestelle ausstieg, begann es ein wenig zu nieseln. Ich hatte zehn Minuten Fußmarsch vor mir und mein Weg führte durch einen Park mit altem Baumbestand.
Da schoss ein Blitz vom Himmel und spaltete mit ohrenbetäubendem Krachen eine Buche, fünf Schritte neben mir. Die Druckwelle schleuderte mich zu Boden und ich landete in einem aufgeschütteten Haufen vertrockneter, abgefallener Blätter. Ich sah noch, wie kleine blaue Flämmchen an der Spaltkante den Stamm hinauf- und hinunterzüngelten - und erloschen.
Benommen raffte ich mich auf. Außer dem Schrecken war mir nichts passiert.
Doch nach und nach beschlich mich ein recht uncharmantes Gefühl: Könnte für diesen Anschlag ein kleines, weißhaariges Männchen verantwortlich gewesen sein? Hab ich am Ende etwas zu dick aufgetragen, die himmlischen Gemüter zu sehr erzürnt? Mir war jetzt ganz schön blümerant zumute und ich war auf einmal nicht mehr überzeugt von den Argumenten, die ich zwei Stunden zuvor Norbert gegenüber vertreten hatte. Zaghaft und verunsichert klopfte ich mir den Schmutz aus den Kleidern und machte ich mich auf den Heimweg.
Die Schlafzimmertür war angelehnt und ich hörte Bettinas regelmäßige Atemzüge. Somit beschloss ich, ihr erst morgen von dem Blitzschlag zu erzählen. Aber für mich war nach diesem Erlebnis an Schlaf nicht zu denken, viel zu aufgewühlt war ich.
Ich klappte meinen Laptop auf, um über Blitzeinschläge nachzulesen, doch anstatt des üblichen Startbildes sah ich eine Gruppe illustrer Menschen, die leger um einen Tisch herumsaßen, als wären sie auf einer Party. Wie auf Kommando wandten sie sich in meine Richtung und applaudierten mir.
Eine Frau in einem schicken Lederkostüm stand auf und kam auf mich zu. „Hey, Junge …“, sie hatte lange, blonde Haare und eine tiefe, rauchige Stimme. „Das war ja großes Kino vorhin in dieser Kneipe. Hast uns aus der Seele gesprochen mit diesen Tattergreisen und Möchtegerngöttern, was haben wir uns amüsiert“. Jetzt war sie mir so nahe, dass ich alle Einzelheiten ihres Gesichtes erkennen konnte und ich sah, dass sie als Ohrringe umgedrehte Kreuze trug. „Falls du mal einen Gefallen brauchst - den hast du gut bei uns, du kannst dich immer an uns wenden.“ Dabei lächelte sie verführerisch.
Ich spürte, wie mir das Blut im Rhythmus der Herzschläge durch den Kopf schoss. Waren das nun die Mädels und Jungs von der Konkurrenz? Was hab ich da nur losgetreten? Ich hob den Laptop auf, der mir von den Schenkeln hinab auf den Teppich gerutscht war, doch jetzt ließ sich nur noch das normale Startbild erkennen.
Ich öffnete die Tür und betrat die kleine Bar. Dort hinten im Eck saß er, zusammengekauert hinter seinem Bierglas - mein alter Freund Norbert, von dem ich seit vielen Jahren nichts mehr gehört hatte.
Ich ging auf ihn zu, wir reichten uns die Hände und ich setzte mich zu ihm an den Tisch.
„Schön, dass du gekommen bist“, ergriff er das Wort, „bin froh, dass ich diese Telefonnummer von dir gefunden hab.“ Er trank aus und bestellte per Handzeichen zwei weitere Gläser Bier. „Ich hab dich um dieses Treffen gebeten, weil mir was auf der Seele brennt, das ich keinem anderen erzählen kann.“
„Na, da bin ich neugierig. Aber - wie geht´s dir denn? Was hast du denn gemacht in all der Zeit?“
„Na ja …“, er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Seitdem das vor ein paar Jahren mit Elke zu Ende gegangen war, lebe ich nur noch im Wohnmobil, ständig unterwegs. Und du? Bist du noch mit Bettina verheiratet?“
„Natürlich, ja. Wir haben drei Kinder, Reihenhäuschen, Job passt auch, wir können nicht klagen. Aber warum wolltest du denn nicht zu uns nach Hause kommen? Warum in diese Kneipe?“
„Weil es ein Vieraugengespräch sein soll. Also, pass auf, vor ein paar Wochen war ich auf einem Campingplatz im Bayerischen Voralpenland, du erinnerst dich, als wir diese Hitzewelle hatten. Eines Morgens, gleich nach Sonnenaufgang, bin ich hinaus auf den See geschwommen. Plötzlich wurde mir übel und ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Ufer im Gras auf ´ner Trage, ´ne Menge Leute um mich herum. Der Notarzt erzählte mir später, dass er ´ne dreiviertel Stunde verzweifelt versucht hatte, mich zu reanimieren und dass er überhaupt nicht begreifen kann, dass ich noch lebe. Die Sanis hatten schon ein Tuch über mein Gesicht gezogen und wollten mich gerade abtransportieren, als sie bemerkten, dass sich darunter plötzlich was bewegte und sich mein Brustkorb zu heben begann.“
„Oh Gott, was für eine Geschichte. Da hast du ja wirklich Glück gehabt. Hättest doch mal Bescheid geben können.“
„Ja, aber das ist es nicht, was mich so aufwühlt, sondern das, was ich während meiner Ohnmacht erlebt habe.“
Die Bedienung kam und stellte uns mit einem „Zum Wohl“ das bestellte Bier auf den Tisch.
Wir nahmen die Gläser und stießen an.
„Du hast doch bestimmt schon Erzählungen über Nahtoderfahrungen gehört“, fuhr er fort und sah mich mit zusammengekniffenen Lippen an. „So ähnlich war das auch bei mir. Zuerst schwebte ich drei Meter über meinem leblosen Körper, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Dann stieg ich auf, immer höher und eine seltsame Ruhe erfasste mich.“ Er machte eine kurze Pause, betrachtete sein Glas und massierte sich Gesicht und Schläfen. „Dann plötzlich dieses Licht, auf das ich zusteuerte. Ich fühlte mich federleicht und glücklich. Die Farbe des Lichtes änderte sich nun von einem dunklen Orange in ein sehr helles Grau, als würde ich in Wolken schweben. Als die sich auflösten stand ich plötzlich in einer Säulenhalle. Vor mir ein altes Männchen, vielleicht einen Meter groß. Langer weißer Bart, schlohweißes Haar … Verdammt noch mal, ich weiß selber, wie idiotisch das klingt.“ Norbert schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wie im Märchenfilm, der volle Kitsch, aber - ich werd´ wahnsinnig, es war so!“
Er hatte sich richtig in Rage geredet und versuchte, ein paarmal durchzuschnaufen und sich zu beruhigen.
„Das Männchen hatte rubinrote Augen und sah mich mit zusammengekniffenen Brauen an. `Soso, also wieder versagt!´ Er stieß seinen Stock so zornig auf den Boden, dass der zerbrach. `Du hast die Gesetze nicht befolgt! Wieder nicht!´ Ich wollte wissen, welche Gesetze denn, aber er schrie `Die Gesetze, die in euren alten Büchern stehen! Du wirst jetzt in einem anderen Körper ein neues Leben führen müssen, und das so oft, bis du sie einhältst!´ Ja, und dann bin ich aufgewacht. In meinem alten Körper. Irgendwas muss da schiefgelaufen sein, ich kann es mir nicht anders erklären.“
„Noch ein Bier?“ Die Bedienung riss uns aus unseren Gedanken. Wir bestellten und ich versuchte, das Erzählte ein wenig in mir wirken zu lassen.
Nach einer Weile meinte Norbert: „Was sind denn das für Aussichten, wenn man jedes Mal nach dem Tod irgendein neues Leben führen muss? Man weiß ja nicht, als was man wiederkommt. Die halbe Menschheit lebt in Armut und ob ich nochmal das Glück habe, Mitteleuropäer sein zu dürfen? Oder Mensch? Vielleicht bin ich dann Ratte, Stinktier oder Mistkäfer. Und was war das für ein Männchen? Gott? Oder einer seiner Stellvertreter? Und von welchem Buch ist die Rede? Vom Koran? Der Bibel? Dem Talmud?“ Norbert ließ resigniert die Hände auf den Tisch fallen und griff erneut nach seinem Glas.
„Sag mal, könnte es nicht sein, dass du bei der Lösung der ältesten Menschheitsfrage einen Schritt weitergekommen bist? Was geschieht mit uns nach dem Tod?“
„Aber wer glaubt mir denn das? Die halten mich doch alle für einen Spinner!“ Norbert pustete durch. „Ich bin der Meinung, dass wir hier auf dem Planeten in so einer Art Hölle leben. Die ach so schöne Welt, von wegen! Die Natur ist unerbittlich. Denk nur an die panische Angst der Beutetiere vor ihren Räubern - und auch die finden ein unrühmliches, schmerzhaftes Ende. Warum muss das so sein? All die Angst, all die Qual? Ist das nicht ein grausamer Gott, der sich das ausgedacht hat? Dabei ist es nicht mal die Angst vor dem Sterben oder dem Tod, sondern die Angst vor der Wiedergeburt, die mich belastet.“
Wir bestellten noch einige Runden und Norberts Stimmung wandelte sich von Verzweiflung hin zum Sarkasmus. „Wäre interessant zu wissen, ob es bei den Mistkäfern auch alte Bücher gibt, an deren Regeln sie sich halten müssen.“
Erst als die Bedienung anfing, Stühle hochzustellen, wurde uns bewusst, wie spät es war. Wir verabredeten uns für den nächsten Abend, wieder in dieser Kneipe und Norbert bestellte ein Taxi, das ihn zu seinem Wohnmobil bringen sollte. Ich erwischte die letzte Straßenbahn.
Bettina lag schon im Bett, als ich zuhause ankam und ich umriss ihr kurz, worum es in unserem Gespräch ging.
„Ach, das ist doch alles Quatsch, ich glaub, das Gehirn spiegelt Einem allerhand Nonsens vor, wenn man in so einer Situation ist. Du, Tobi hat mich heute ganz schön auf Trab gehalten. Sein Husten ist noch schlimmer geworden, aber jetzt schläft er, Gott sei Dank. Und ich bin KO.“
Den ganzen nächsten Tag dachte ich darüber nach, wie ich meinem Freund helfen könnte und als ich am Abend die Bar betrat, hatte ich mir was vorgenommen. Ich sah schon einige Striche auf seinem Bierfilz, als ich mich zu ihm an den Tisch setzte. Er sah müde und abgespannt aus.
„Also, ich hab das alles sacken lassen und mir meine Gedanken gemacht, und - ich finde, du solltest dich mal ein bisschen zusammenreißen. Hast du dir mal überlegt, dass alles nur Illusion, nur Phantasie gewesen sein könnte? Nur ein komischer Traum? Bettina vermutet das übrigens auch.“
„Nein! Dafür war das viel zu intensiv und realistisch.“
„Also gut, dann gehen wir davon aus, dass es wirklich so war, wie du erzählst. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so ein Möchtegerngott, der irgendwas Unverständliches von alten Büchern faselt, zwar unser Universum und die Galaxien erschaffen haben will, aber nicht in der Lage ist, dein Bewusstsein oder dein “Ich“ in den vorgesehenen Körper zu verpflanzen.“
„Sowas lässt sich doch nicht mit menschlicher Logik erklären.“
„Aber bei deinen Schlussfolgerungen in Sachen Wiedergeburt hältst du dich an die menschliche Logik, oder? Egal … Mal angenommen, du hast mit deinen Befürchtungen recht, was kannst du denn machen? Gar nichts! Und so hast du für deine unmittelbare Zukunft zwei Möglichkeiten: Entweder verbunkerst du dich für den Rest deiner Tage in einer Klosterzelle und durchforstest alle erdenklichen alten Bücher, um an diese ominösen Weisheiten zu gelangen - Bücher, deren Sprache du nicht verstehst und deren Schrift du nicht lesen kannst. Oder du pfeifst auf dieses himmlische Gesindel und genießt dein Leben. Soll doch kommen, was will. Du bist kein Verbrecher, der ´ne Menge auf dem Kerbholz hat. Wenn diese göttlichen Gerichtsbarkeiten nicht einverstanden sind, so wie du bist und lebst, dann sind sie es mit keinem. Vielleicht noch mit Mutter Teresa, mit der aber nur ausnahmsweise.“
Jetzt musste selbst Norbert grinsen und seine Züge entspannten sich ein wenig.
„Denk daran, deine Gefühle werden von deinen Gedanken gesteuert. Und wenn du ewig in dieser Verzweiflungsschleife hängst, hast du doch schon jetzt die Hölle auf Erden, nicht erst im nächsten Leben. Darum, genieße deine Zeit und lass dich nicht von so ´nem debilen Tattergreis einschüchtern. Am Ende bist du bei deinem Trip ins “Off“ zufällig in der Alzheimerstation des göttlichen Kreiskrankenhauses gelandet, bist dort an irgendeinen Patienten geraten und denkst zwanzig Jahre lang über den Sinn seines Gebrabbels nach.“
Wir unterhielten uns den Rest des Abends mehr über die Welt, als über Gott und prosteten uns fleißig zu. Norbert bemerkte, dass er wohl doch den anstehenden Herbst und den Winter in Südspanien verbringen wolle, dort sei es bestimmt angenehmer als in einer Klosterzelle.
Erst, als die Bedienung fragte, ob sie wieder ein Taxi bestellen soll, wussten wir, dass es Zeit war. Wir umarmten uns und er versprach, in Zukunft häufiger von sich hören zu lassen.
Beschwingt und voller Freude, dass ich meinem Freund helfen und ihn aufmuntern konnte, machte ich mich auf den Weg und erwischte gerade noch die letzte Straßenbahn.
Als ich an der Endhaltestelle ausstieg, begann es ein wenig zu nieseln. Ich hatte zehn Minuten Fußmarsch vor mir und mein Weg führte durch einen Park mit altem Baumbestand.
Da schoss ein Blitz vom Himmel und spaltete mit ohrenbetäubendem Krachen eine Buche, fünf Schritte neben mir. Die Druckwelle schleuderte mich zu Boden und ich landete in einem aufgeschütteten Haufen vertrockneter, abgefallener Blätter. Ich sah noch, wie kleine blaue Flämmchen an der Spaltkante den Stamm hinauf- und hinunterzüngelten - und erloschen.
Benommen raffte ich mich auf. Außer dem Schrecken war mir nichts passiert.
Doch nach und nach beschlich mich ein recht uncharmantes Gefühl: Könnte für diesen Anschlag ein kleines, weißhaariges Männchen verantwortlich gewesen sein? Hab ich am Ende etwas zu dick aufgetragen, die himmlischen Gemüter zu sehr erzürnt? Mir war jetzt ganz schön blümerant zumute und ich war auf einmal nicht mehr überzeugt von den Argumenten, die ich zwei Stunden zuvor Norbert gegenüber vertreten hatte. Zaghaft und verunsichert klopfte ich mir den Schmutz aus den Kleidern und machte ich mich auf den Heimweg.
Die Schlafzimmertür war angelehnt und ich hörte Bettinas regelmäßige Atemzüge. Somit beschloss ich, ihr erst morgen von dem Blitzschlag zu erzählen. Aber für mich war nach diesem Erlebnis an Schlaf nicht zu denken, viel zu aufgewühlt war ich.
Ich klappte meinen Laptop auf, um über Blitzeinschläge nachzulesen, doch anstatt des üblichen Startbildes sah ich eine Gruppe illustrer Menschen, die leger um einen Tisch herumsaßen, als wären sie auf einer Party. Wie auf Kommando wandten sie sich in meine Richtung und applaudierten mir.
Eine Frau in einem schicken Lederkostüm stand auf und kam auf mich zu. „Hey, Junge …“, sie hatte lange, blonde Haare und eine tiefe, rauchige Stimme. „Das war ja großes Kino vorhin in dieser Kneipe. Hast uns aus der Seele gesprochen mit diesen Tattergreisen und Möchtegerngöttern, was haben wir uns amüsiert“. Jetzt war sie mir so nahe, dass ich alle Einzelheiten ihres Gesichtes erkennen konnte und ich sah, dass sie als Ohrringe umgedrehte Kreuze trug. „Falls du mal einen Gefallen brauchst - den hast du gut bei uns, du kannst dich immer an uns wenden.“ Dabei lächelte sie verführerisch.
Ich spürte, wie mir das Blut im Rhythmus der Herzschläge durch den Kopf schoss. Waren das nun die Mädels und Jungs von der Konkurrenz? Was hab ich da nur losgetreten? Ich hob den Laptop auf, der mir von den Schenkeln hinab auf den Teppich gerutscht war, doch jetzt ließ sich nur noch das normale Startbild erkennen.
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