Eine Sekunde Ewigkeit (Haiku)

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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo, Arcus,
da es ein Haiku ist, beschreibt es einen konkreten Moment.

Es ist ein Moment, in dem die Ich-Erzählerin oder der Ich-Erzähler ein Bild sieht, entweder Foto oder im Spiegel, aber konkret, nicht in Gedanken.
Es ist eine Sekunde lang zu sehen, aber es wird niemand mit Uhr dabeistehen. Die Sekunde ist umgangssprachlich für einen Moment. Eine Sekunde taucht die Ich-Person in die Ewigkeit.
Ich denke dabei an Wasser, in dem das Spiegelbild zu sehen ist. Ewigkeit bezieht sich hier auf das Dauerhafte. Tauchen ist konkret, also keine Metapher, da wir ein Haiku haben.
In die Ewigkeit ist eine Art Haiku-Moment, denn wie kurz das Tauchen auch ist, es währt im gegebenen Moment, in der Sekunde, ewig.

Viele Grüße von Bernd
 

Arcos

Mitglied
Vielen Dank Bernd für die schöne Interpretation, die meine Absicht beschreibt.
Es ist ein flüchtiger Blick in ein Gefühl, das der Ewigkeit gleicht. Oder dieses Gefühl soll für die Ewigkeit gelten.
Im Grunde gibt es nur die Ewigkeit, nur bedeckt mit einem imaginären Schleier, unserem Verstand oder Gedanken, die diese Ewigkeit vielleicht nicht kennen oder nie erlebt haben. Und dann gibt es diese Momente, ein Fenster im Schleier, das nur kurz zu sehen ist und die Ewigkeit erblicken lässt.
Dann kommt vielleicht die Erkenntnis, dass unsere Welt und alles darin nur vorübergehend ist. Und das eigentlich alles gut ist.

Viele Grüße
Arcos
 

Agnete

Mitglied
Ich sehe eher, lieber Bernd, den Widerspruch, eine Sekunde Ewigkeit. Ein Bild also, das nicht bleibt, obwohl es ewig ist. Ein Blick der nicht bleibt.
Etwas, das zerbricht oder schon zerbrochen ist.
lG von Agnete
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Leute,

ich kann alle drei Positionen gut nachvollziehen - auch die von Mondnein, wenn auch ohne das vernichtende Urteil.

Meine Gedanken dazu: Wenn es keine Metapher beim Haiku geben darf (da redet der Blinde von der Farbe, sorry), dann ist Ewigkeit in dem Kontext nicht richtig, denn hier kann es sich nur um eine Metapher handeln für das individuelle Zeitempfinden des LyrIs - oder liege ich da falsch?

In diesem Kontext geht es um tiefe Gefühle, das Innerste, vielleicht durch den Verlust hervorgerufen wie Agnete es sieht.
Die Verwendung von der Ewigkeit ist für meine Begriffe einer schwärmerischen Überhöhung des Gefühls - oder der Sekunde - geschuldet, und nicht jedermanns Geschmack.
MIr ist es auch zuviel, weil es versucht, die zeitliche Begrenzung des Menschseins 'auszutricksen' (ein bisschen derbe gesprochen), als seien diese Gefühle in der Lage, unser Sein zu überdauern, bis in alle Ewigkeit. Das kann man so sehen -- oder sich wünschen.

Liebe Grüße
Petra
 

mondnein

Mitglied
wenn auch ohne das vernichtende Urteil.
nein nein, wir sind doch erst am Anfang, und die Werturteile vermeiden wir, solange es geht, und wenn wir sie äußern, wir Kommentatoren, dann nur als vorläufige Schlüsse, die auf Entgegnung gespannt sind und bleiben.
Manchmal entgegnen wir Kommentatoren und Leserinnenzungen uns selbst, wie das ja auch im Denken eines jeden bewußten Wesens permanent zu geschehen pflegt.

den Widerspruch, eine Sekunde Ewigkeit.
Das ist vielleicht kein Haiku, schon des "Ich sehe ..." wegen, auch mit der "Ewigkeit" als Schluß-Pointe, aber das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit ist schon einer Erwägung wert:

Zeitliches erscheint null- bis eindimensional, als Strecke vom ewigen Jetztpunkt in die Vergangenheits- oder Erinnerungsdimension zurück, und Ewigkeit steht gewissermaßen senkrecht zu ihr, wie eine andere Dimension.
Dafür ein Bild zu finden, ist poetisch reizvoll, wie auch sonst für scheinbar Widersprüchliches, z.B. durch die poetischen und rhetorischen Figuren der Antithesen, Oxymora, Adynata, maßlosen Hyperbeln usw.,
Aber es ist nicht so fruchtbar, poetische und rhetorische Bild-Versuche durch die abstrakte Behauptung solch einer Widersprüchlichkeit zu ersetzen, - das wäre wohl "falsch herum" gedacht. Dichterinnenmünder suchen und versuchen ein Bild für Unsagbares zu sagen, für Unvorstellbares zu imaginieren, also das entsprechende Bild zu formulieren.
Wissenschaftler andererseits versuchen, das scheinbar Unmögliche aufzubrechen, das scheinbar Undenkliche kommunikativ verständlich zu machen, so daß es nicht mehr "unmöglich", sondern logisch geklärt wird.
Sprachmagier nutzen aber lieber die dynamische Spannung der Antithesen, Oxymora, Adynata, maßlosen Hyperbeln usw., s.o.

(Wobei im Haiku kein "Bild für etwas" formuliert werden sollte, schon gar nicht für Abstraktes, sondern ein pures Sichzeigen von Wirklichkeit, wenn auch mit Überraschung und akuter "Jetzheit".)

Ein Bild für das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit könnte z.B. die Beobachtung eines Feldes sein, an dem man vorbeifährt: Durch die Pflanzenreihen hindurch sieht man in die Ferne bis zum Fluchtpunkt am Horizont hin - und man sieht immer auf die eine einzige Stelle, auf den Fluchtpunkt eben, aus dem die parallelen Reihen sich hervorspreizen, deren erscheinende Gegenwart vorne vorbeirauscht, und nur der Punkt in der Ferne bleibt, genau senkrecht zur Erscheinungsfront der vom fernen Unendlichen (vom Fluchtpunkt am Horizont) in die Gegenwart nach vorne breit aufgefächerten Gemüse-Furchen, die doch parallel angelegt sind (bei einem ordentlichen Bauern).

grusz, hansz
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Sehr interessante Erläuterungen, hansz, das kann man sich bei Deinen Kürzest-Kommentaren leider nicht dazudenken. 'Inhaltsleer' klngt für mich nicht nach einem Gesprächsangebot, aber vielleicht lernen wir noch 'Hänszisch'.

Liebe Grüße
Petra
 

mondnein

Mitglied
'Inhaltsleer' klngt für mich nicht nach einem Gesprächsangebot
es ging oben um die Substantiv-Pointe "Ewigkeit".
nun ja, welchen Inhalt hat diese "Ewigkeit"?
Könnte man als eine Dimension quer zur Erscheinungs-Zeit verstehen, wie die Y-Achse zur X-Achse, aber haben pure Dimensionen im Unendlichen (z.B. des Fluchtpunkts im Horizont) einen Inhalt?

Bei genauer Überlegung ist es durchaus sowas wie ein "Inhalt an sich", wenn man logische, mathematische, geometrische oder sonst abstrakt-gedankliche Beziehungen durchdenkt oder bis in ihre Beweise oder Grundsätze hinab auslotet. Der Reiz des reinen Logischen. Die euklidische Kugelformel z.B., wunderbar, ein Gedicht an sich, kurz, rätselhaft, absolut wahr.
Oder das Lügnerparadoxon, der "Kreter". herrlich! Pure Posesie.

Nur kein Haiku. Und kein Inhalt über seinen Ansich-Inhalt (das nominose "nooumenon" in Kants Kritik der reinen Vernunft) hinaus.

grusz, hansz
 



 
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