Ji Rina
Mitglied
Eines Tages verlor er seine Arbeit. Man teilte es ihm in einem Brief mit, in zwei, drei knappen Sätzen, die er zuerst nicht begreifen wollte: Die Firma sei pleite und sie könne sich kein Personal mehr leisten, es täte ihnen unendlich leid, aber er müsse Verständnis haben. Fassungslos saß er am Tisch und starrte an die Wand.
Als er es an diesem Abend seiner Freundin erzählte, reagierte sie zunächst besser, als er erwartet hätte. Sie las den Brief langsam durch und sagte ihm, er solle sich nicht sorgen. Irgendwas Neues würde sich schon noch finden. Sie habe ja ihre Arbeit und verdiene genug, davon könnten sie beide erst mal leben. Im Laufe des Abends nahm sie ihn in die Arme und sagte: »Wir sind doch ein Paar! Wir halten zusammen.«
Es folgten einige unruhige Tage, an denen er nicht so recht wusste, was er tun sollte. Er war mit dem Auto mehrmals in die Stadt gefahren, hatte stundenlang in Cafés gesessen, die Menschen beobachtet und vor sich hin gegrübelt. Zunächst genoss er diese neue Freiheit, doch sehr bald schon blieb er zu Hause. Er sah sich langweilige Sendungen im Fernsehen an, ordnete die Anzüge in seinem Schrank und hoffte auf eine neue Arbeit. Er tat einige der Dinge, für die er sonst nie Zeit fand, und wartete abends auf seine Freundin.
Die ersten Tage gingen sie mehrmals aus. Sie besuchten Kinos und gingen einmal ins Theater, zweimal noch gingen sie in ein gutes Restaurant, doch dann beschlossen sie, nicht mehr auszugehen und lieber zu Hause zu bleiben, auch um ein wenig zu sparen. Jeden Morgen kaufte er die Zeitung, nahm sich einen Bleistift und machte kleine Kreuzchen bei den Anzeigen, die für ihn infrage kamen. Er schrieb ordentliche Bewerbungen, ließ ein gutes Foto von sich machen, klebte es hinein und ging damit zur Post. Irgendwas würde sich schon noch finden, da hatte seine Freundin recht, und auch er fühlte sich eigentlich recht zuversichtlich. Morgens um sieben ging er runter in den kleinen Lebensmittelladen, wo Frau Martinez die Kunden bediente. Sie war eine große, kräftige und sehr selbstsichere Frau.
Jeden Morgen reichte sie ihm seine Tüte Brötchen und fragte:
»Schon was gefunden?«
Er verneinte die Frage mit einem hoffnungsvollen Lächeln und erklärte, dass er mehrere Bewerbungen abgeschickt habe und jetzt nur noch auf die Antworten warte. Er sagte: »Irgendwas wird sich schon noch finden. Ich mache mir da keine Sorgen.«
Aber es schien sich nichts zu finden. Zwei Monate waren jetzt vergangen, und niemand meldete sich. Bewarb er sich per Telefon, sagte man ihm, die Stelle sei schon vergeben. Andere sagten ihm, er sei zu alt oder er wohne zu weit weg oder sei nicht geeignet – oder sie sagten gar nichts, nahmen seine Daten auf, meldeten sich aber nicht zurück. Hatte er am Anfang noch die Firmen angeschrieben, die seinem wirklichen Beruf entsprachen (Angestellter einer großen Trockenreinigung), so bewarb er sich jetzt für alles Mögliche: zuerst als Portier für ein kleines Hotel, dann als Chauffeur, schließlich als Telefonist, dann als Taxifahrer und Gärtner und zum Schluss als Tellerwäscher in einem griechischen Restaurant.
Doch nichts geschah. Man brauchte ihn nicht. Anscheinend wollte man nichts von ihm wissen, auch nicht als Gärtner oder Tellerwäscher.
Seine Freundin besuchte ihn meistens abends, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war. Schon an der Haustür, wenn er jetzt etwas steif und abweisend vor ihr stand, strich sie ihm über das Haar, gab ihm einen Kuss und redete ihm gut zu, er solle nicht aufgeben, es würde sich schon noch was finden, früher oder später, sagte sie, müsse es ja passieren.
Dazu sagte er nichts. Jetzt nämlich bezahlte sie schon seine Miete, aber auch ihr Geld wurde knapper. Er merkte es an kurzen Worten und an kleinen Bemerkungen, die sie hier und da fallen ließ: Lass uns heute lieber zu Hause bleiben, Liebling, und nicht ins Kino gehen, wir können ja auch fernsehen. Oder: Ich habe Milch statt Sahne mitgebracht, ist ein bisschen billiger … Ist das okay? Oder: Lass uns doch mit dem Bus fahren, der Sprit ist gerade so teuer.
Mit der Zeit wurde er noch steifer und noch abweisender, er wurde verschlossener. Die wenigen Freunde, die er hatte, erkannten ihn kaum wieder. Sie sagten, er sei nicht mehr der Gleiche, irgendetwas habe sich an ihm verändert; letztendlich wichen sie ihm aus. Rechnungen häuften sich auf seinem Schreibtisch. Mahnungen trafen ein; Zahlungsaufforderungen des Kreditinstituts für die Wohnung, seinen Wagen, den Kühlschrank und den neuen Fernseher ....Briefe, die er ungelesen in eine Ecke warf. Er begann morgens länger im Bett zu bleiben, dann auch mittags und schließlich auch abends, wenn seine Freundin kam. Doch auch sie hatte sich inzwischen verändert. Ihre Augen waren jetzt matter, Lockerheit und Fröhlichkeit waren aus ihrem Gesicht gewichen. Sie wurde ernster und lachte nur noch selten, und die Spontaneität, die er so sehr an ihr bewunderte, blieb plötzlich aus. Sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen, saßen nur noch steif und stumm in der Wohnung. Kleinere Diskussionen gehörten plötzlich zum Alltag, und schließlich gerieten sie in einen Streit, bei dem sie ihm erklärte, dass es so nicht weiterginge, dass sie nun alles in einem anderen Licht sähe. So genau, sagte sie, wüsste sie auch nicht, was los sei, aber die Lage habe sich verändert. Und zwei Tage später steigerte sie sich in etwas hinein, wobei sie immer lauter wurde und dann auch wütend. Schließlich wurde sie persönlich und sagte, er würde sich kaum noch duschen; er würde sich nicht mehr rasieren und seine Haare nicht mehr schneiden lassen. Er sei nicht mehr der Mann, in den sie sich einst verliebt hätte, und dann sagte sie, dass sie Zeit brauche, Zeit würde alles entscheiden. Sie wolle sich erst mal ein wenig distanzieren, sich zurückziehen, um zu versuchen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Doch dann, drei Wochen später, meldete sie sich am Telefon, und sagte, sie glaube ihn nicht mehr zu lieben, so genau wüsste sie es auch nicht, aber eine Trennung, sei wohl erst mal das Beste. Es täte ihr alles so leid, aber er könne trotzdem jederzeit zu ihr kommen, denn – das müsse er wissen – es wäre schön, so sagte sie, wenn sie wenigstens noch Freunde blieben.
Jetzt war er ein gebrochener Mann.
Zweimal noch ging er morgens in den Laden, um sich Brötchen zu holen. Er hoffte, dass Frau Martinez beschäftigt sei und ihn nicht sähe, doch da irrte er sich. Frau Martinez, die sich auf ihren schwarzen, schweren Dutt täglich eine rote Blume steckte, strahlte ihn in ihrem makellosen, schneeweißen Kittel schon von der Kasse aus an, und noch bevor er irgendwas sagen konnte, fragte sie über aller Köpfe hinweg:
»Na? Schon was gefunden?«
Nein, sagte er zerknirscht, nein, das habe er noch nicht, aber es würde sich schon noch was finden. Manche Dinge, so sagte er ihr, bräuchten nun mal ihre Zeit.
Im Herbst verschlechterte sich seine Lage um einiges. Die Zusage auf Arbeitslosengeld ließ auf sich warten. Gas, Strom und Telefon waren längst abgestellt, und auf dem Tisch lag die Räumungsklage. Auch die Wohnung selbst war nur noch ein Durcheinander von herumliegender Wäsche, schmutzigem Geschirr, alten Zeitungen und Aschenbechern voller Kippen.
Er aß nichts mehr, rauchte und trank billigen Wein. Er war blass und krank und stark abgemagert und trug jetzt einen langen Bart. Seine Haare standen ihm wie Drähte vom Kopf und sein Blick war wirr. Nachbarn tuschelten morgens im Treppenhaus und machten Witze. Wenn er die Treppe herunterkam, wichen sie ihm aus. Sie sagten, er sähe wie Robinson Crusoe aus. Die Anzeigen las er nur noch im Schein einer Kerze, die Kreuzchen machte er nur noch im Liegen, denn selbst dafür war er schon zu schwach.
Eines Abends, lag er im Bett und starrte gedankenlos an die Decke. Mit einem Lächeln auf den Lippen wurde ihm jetzt sein ganzes Schicksal bewusst: Er hatte einen Beruf gehabt, und man hatte ihn ihm genommen. Er hatte eine Freundin gehabt, und man hatte sie ihm genommen, er hatte eine Wohnung, und auch diese würde man ihm jetzt nehmen, Gas und Strom, Auto und Telefon, Tag für Tag, jedes Mal ein bisschen und schließlich alles auf einmal, nahm man ihm jetzt weg. Er hatte nichts. Nichts war alles, was er noch besaß. Und dann begann er auch darüber nachzudenken: Was, wenn er auch dieses „Nichts“ verlieren sollte? Denn man würde ihm auch das wegnehmen wollen. Und plötzlich sah er dieses Stück Nichts vor sich im Dunklen an der Decke seines Zimmers hängen. Es hing da, wie ein vertrockneter Pfannkuchen über dem Fenster. Er steckte sich eine Kippe zwischen die Lippen, verschränkte die Arme unter dem Nacken und betrachtete es. Und kam dann zu dem Entschluss, dass er sich von diesem Stück Nichts besser noch eine kleine Scheibe abschneiden sollte, als Vorsichtsmaßnahme sozusagen, nur zur Sicherheit. Vielleicht könnte er es dann noch durch drei teilen, oder in mehrere kleine Stückchen. Er könnte versuchen, das letzte Fitzelchen Nichts zu verstecken und solange wie möglich bei sich zu halten. Aber irgendwann müsste er auch dieses hergeben! Nun, wenn es so weit wäre, könnte er sich ganz heimlich ein provisorisches Nichts zulegen. Dieses dann mit ein paar Hoffnungen und Illusionen ein wenig aufpeppen, ein wenig schmücken, bis irgendjemand auch an diesem provisorischen Nichts zerren würde. Denn daran hatte er keine Zweifel, sie würden so lange daran rütteln und reißen und ziehen, bis er es hergeben müsste, oder bis es letztendlich kaputt wäre, eins von beidem. Er müsste also die Zähne fletschen, genau wie ein bissiger Hund über seinem Knochen, es mit Zähnen und Krallen verteidigen als handele es sich um sein Leben. Aber auch dieses, da war er sich inzwischen sicher, würde man ihm irgendwann nehmen. Und dann?
Mit flackernden Augenlidern und zutiefst besorgt schlief er an diesem Abend ein.
Drei Tage später entdeckte er zufällig im Inneren seiner Jackentasche eine Münze. Er überlegte lange, was er damit noch kaufen könnte, dann ging er runter in den Laden, um sich das allerletzte Mal ein Brötchen zu holen. Frau Martinez stand ganz hinten in einer Ecke und unterhielt sich gerade mit einer Kundin, aber als sie ihn sah, ließ sie die Kundin stehen und kam auf ihn zu.
Sie nahm sich die Brille ab und musterte ihn ein wenig besorgt, jedoch auch amüsiert und sagte: »Na, jetzt haben wir uns aber lange nicht gesehen!« Er beobachtete, wie sich ihre Gesichtszüge ganz langsam in ein breites Grinsen verwandelten, als sie fragte: »Schon was gefunden?«
Er wich ihrem Blick aus, legte seine Münze neben die Kasse und klemmte sich die Tüte mit dem Brötchen unter den Arm. Er wollte einfach hinausgehen, doch Frau Martinez stand dort, noch immer auf eine Antwort wartend, und er wollte nicht unhöflich wirken. Nein, sagte er sehr leise, fast flüsternd, er habe noch nichts gefunden. Na ja, es würde sich schon noch was finden, sagte sie, wär doch ’n Witz, wenn er nichts mehr finden sollte. Er blieb stehen und sah sie aus rot entzündeten Augen an. Nein, das glaube er nicht, sagte er, er glaube nicht, jemals noch etwas zu finden. Er sagte dies sehr trocken und verbittert.
Daraufhin verließ er den Laden und wunderte sich über diese neue Situation: Er stand da, mitten auf der Straße und war noch immer am Leben, und um ihn herum war immer noch das Nichts.
Und dieses Nichts, völlig ruhig und gelassen, lächelte ihm jetzt sogar freundlich zu.
Es folgte ihm durch die Straße – und begleitete ihn zurück in die Wohnung.
Als er es an diesem Abend seiner Freundin erzählte, reagierte sie zunächst besser, als er erwartet hätte. Sie las den Brief langsam durch und sagte ihm, er solle sich nicht sorgen. Irgendwas Neues würde sich schon noch finden. Sie habe ja ihre Arbeit und verdiene genug, davon könnten sie beide erst mal leben. Im Laufe des Abends nahm sie ihn in die Arme und sagte: »Wir sind doch ein Paar! Wir halten zusammen.«
Es folgten einige unruhige Tage, an denen er nicht so recht wusste, was er tun sollte. Er war mit dem Auto mehrmals in die Stadt gefahren, hatte stundenlang in Cafés gesessen, die Menschen beobachtet und vor sich hin gegrübelt. Zunächst genoss er diese neue Freiheit, doch sehr bald schon blieb er zu Hause. Er sah sich langweilige Sendungen im Fernsehen an, ordnete die Anzüge in seinem Schrank und hoffte auf eine neue Arbeit. Er tat einige der Dinge, für die er sonst nie Zeit fand, und wartete abends auf seine Freundin.
Die ersten Tage gingen sie mehrmals aus. Sie besuchten Kinos und gingen einmal ins Theater, zweimal noch gingen sie in ein gutes Restaurant, doch dann beschlossen sie, nicht mehr auszugehen und lieber zu Hause zu bleiben, auch um ein wenig zu sparen. Jeden Morgen kaufte er die Zeitung, nahm sich einen Bleistift und machte kleine Kreuzchen bei den Anzeigen, die für ihn infrage kamen. Er schrieb ordentliche Bewerbungen, ließ ein gutes Foto von sich machen, klebte es hinein und ging damit zur Post. Irgendwas würde sich schon noch finden, da hatte seine Freundin recht, und auch er fühlte sich eigentlich recht zuversichtlich. Morgens um sieben ging er runter in den kleinen Lebensmittelladen, wo Frau Martinez die Kunden bediente. Sie war eine große, kräftige und sehr selbstsichere Frau.
Jeden Morgen reichte sie ihm seine Tüte Brötchen und fragte:
»Schon was gefunden?«
Er verneinte die Frage mit einem hoffnungsvollen Lächeln und erklärte, dass er mehrere Bewerbungen abgeschickt habe und jetzt nur noch auf die Antworten warte. Er sagte: »Irgendwas wird sich schon noch finden. Ich mache mir da keine Sorgen.«
Aber es schien sich nichts zu finden. Zwei Monate waren jetzt vergangen, und niemand meldete sich. Bewarb er sich per Telefon, sagte man ihm, die Stelle sei schon vergeben. Andere sagten ihm, er sei zu alt oder er wohne zu weit weg oder sei nicht geeignet – oder sie sagten gar nichts, nahmen seine Daten auf, meldeten sich aber nicht zurück. Hatte er am Anfang noch die Firmen angeschrieben, die seinem wirklichen Beruf entsprachen (Angestellter einer großen Trockenreinigung), so bewarb er sich jetzt für alles Mögliche: zuerst als Portier für ein kleines Hotel, dann als Chauffeur, schließlich als Telefonist, dann als Taxifahrer und Gärtner und zum Schluss als Tellerwäscher in einem griechischen Restaurant.
Doch nichts geschah. Man brauchte ihn nicht. Anscheinend wollte man nichts von ihm wissen, auch nicht als Gärtner oder Tellerwäscher.
Seine Freundin besuchte ihn meistens abends, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war. Schon an der Haustür, wenn er jetzt etwas steif und abweisend vor ihr stand, strich sie ihm über das Haar, gab ihm einen Kuss und redete ihm gut zu, er solle nicht aufgeben, es würde sich schon noch was finden, früher oder später, sagte sie, müsse es ja passieren.
Dazu sagte er nichts. Jetzt nämlich bezahlte sie schon seine Miete, aber auch ihr Geld wurde knapper. Er merkte es an kurzen Worten und an kleinen Bemerkungen, die sie hier und da fallen ließ: Lass uns heute lieber zu Hause bleiben, Liebling, und nicht ins Kino gehen, wir können ja auch fernsehen. Oder: Ich habe Milch statt Sahne mitgebracht, ist ein bisschen billiger … Ist das okay? Oder: Lass uns doch mit dem Bus fahren, der Sprit ist gerade so teuer.
Mit der Zeit wurde er noch steifer und noch abweisender, er wurde verschlossener. Die wenigen Freunde, die er hatte, erkannten ihn kaum wieder. Sie sagten, er sei nicht mehr der Gleiche, irgendetwas habe sich an ihm verändert; letztendlich wichen sie ihm aus. Rechnungen häuften sich auf seinem Schreibtisch. Mahnungen trafen ein; Zahlungsaufforderungen des Kreditinstituts für die Wohnung, seinen Wagen, den Kühlschrank und den neuen Fernseher ....Briefe, die er ungelesen in eine Ecke warf. Er begann morgens länger im Bett zu bleiben, dann auch mittags und schließlich auch abends, wenn seine Freundin kam. Doch auch sie hatte sich inzwischen verändert. Ihre Augen waren jetzt matter, Lockerheit und Fröhlichkeit waren aus ihrem Gesicht gewichen. Sie wurde ernster und lachte nur noch selten, und die Spontaneität, die er so sehr an ihr bewunderte, blieb plötzlich aus. Sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen, saßen nur noch steif und stumm in der Wohnung. Kleinere Diskussionen gehörten plötzlich zum Alltag, und schließlich gerieten sie in einen Streit, bei dem sie ihm erklärte, dass es so nicht weiterginge, dass sie nun alles in einem anderen Licht sähe. So genau, sagte sie, wüsste sie auch nicht, was los sei, aber die Lage habe sich verändert. Und zwei Tage später steigerte sie sich in etwas hinein, wobei sie immer lauter wurde und dann auch wütend. Schließlich wurde sie persönlich und sagte, er würde sich kaum noch duschen; er würde sich nicht mehr rasieren und seine Haare nicht mehr schneiden lassen. Er sei nicht mehr der Mann, in den sie sich einst verliebt hätte, und dann sagte sie, dass sie Zeit brauche, Zeit würde alles entscheiden. Sie wolle sich erst mal ein wenig distanzieren, sich zurückziehen, um zu versuchen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Doch dann, drei Wochen später, meldete sie sich am Telefon, und sagte, sie glaube ihn nicht mehr zu lieben, so genau wüsste sie es auch nicht, aber eine Trennung, sei wohl erst mal das Beste. Es täte ihr alles so leid, aber er könne trotzdem jederzeit zu ihr kommen, denn – das müsse er wissen – es wäre schön, so sagte sie, wenn sie wenigstens noch Freunde blieben.
Jetzt war er ein gebrochener Mann.
Zweimal noch ging er morgens in den Laden, um sich Brötchen zu holen. Er hoffte, dass Frau Martinez beschäftigt sei und ihn nicht sähe, doch da irrte er sich. Frau Martinez, die sich auf ihren schwarzen, schweren Dutt täglich eine rote Blume steckte, strahlte ihn in ihrem makellosen, schneeweißen Kittel schon von der Kasse aus an, und noch bevor er irgendwas sagen konnte, fragte sie über aller Köpfe hinweg:
»Na? Schon was gefunden?«
Nein, sagte er zerknirscht, nein, das habe er noch nicht, aber es würde sich schon noch was finden. Manche Dinge, so sagte er ihr, bräuchten nun mal ihre Zeit.
Im Herbst verschlechterte sich seine Lage um einiges. Die Zusage auf Arbeitslosengeld ließ auf sich warten. Gas, Strom und Telefon waren längst abgestellt, und auf dem Tisch lag die Räumungsklage. Auch die Wohnung selbst war nur noch ein Durcheinander von herumliegender Wäsche, schmutzigem Geschirr, alten Zeitungen und Aschenbechern voller Kippen.
Er aß nichts mehr, rauchte und trank billigen Wein. Er war blass und krank und stark abgemagert und trug jetzt einen langen Bart. Seine Haare standen ihm wie Drähte vom Kopf und sein Blick war wirr. Nachbarn tuschelten morgens im Treppenhaus und machten Witze. Wenn er die Treppe herunterkam, wichen sie ihm aus. Sie sagten, er sähe wie Robinson Crusoe aus. Die Anzeigen las er nur noch im Schein einer Kerze, die Kreuzchen machte er nur noch im Liegen, denn selbst dafür war er schon zu schwach.
Eines Abends, lag er im Bett und starrte gedankenlos an die Decke. Mit einem Lächeln auf den Lippen wurde ihm jetzt sein ganzes Schicksal bewusst: Er hatte einen Beruf gehabt, und man hatte ihn ihm genommen. Er hatte eine Freundin gehabt, und man hatte sie ihm genommen, er hatte eine Wohnung, und auch diese würde man ihm jetzt nehmen, Gas und Strom, Auto und Telefon, Tag für Tag, jedes Mal ein bisschen und schließlich alles auf einmal, nahm man ihm jetzt weg. Er hatte nichts. Nichts war alles, was er noch besaß. Und dann begann er auch darüber nachzudenken: Was, wenn er auch dieses „Nichts“ verlieren sollte? Denn man würde ihm auch das wegnehmen wollen. Und plötzlich sah er dieses Stück Nichts vor sich im Dunklen an der Decke seines Zimmers hängen. Es hing da, wie ein vertrockneter Pfannkuchen über dem Fenster. Er steckte sich eine Kippe zwischen die Lippen, verschränkte die Arme unter dem Nacken und betrachtete es. Und kam dann zu dem Entschluss, dass er sich von diesem Stück Nichts besser noch eine kleine Scheibe abschneiden sollte, als Vorsichtsmaßnahme sozusagen, nur zur Sicherheit. Vielleicht könnte er es dann noch durch drei teilen, oder in mehrere kleine Stückchen. Er könnte versuchen, das letzte Fitzelchen Nichts zu verstecken und solange wie möglich bei sich zu halten. Aber irgendwann müsste er auch dieses hergeben! Nun, wenn es so weit wäre, könnte er sich ganz heimlich ein provisorisches Nichts zulegen. Dieses dann mit ein paar Hoffnungen und Illusionen ein wenig aufpeppen, ein wenig schmücken, bis irgendjemand auch an diesem provisorischen Nichts zerren würde. Denn daran hatte er keine Zweifel, sie würden so lange daran rütteln und reißen und ziehen, bis er es hergeben müsste, oder bis es letztendlich kaputt wäre, eins von beidem. Er müsste also die Zähne fletschen, genau wie ein bissiger Hund über seinem Knochen, es mit Zähnen und Krallen verteidigen als handele es sich um sein Leben. Aber auch dieses, da war er sich inzwischen sicher, würde man ihm irgendwann nehmen. Und dann?
Mit flackernden Augenlidern und zutiefst besorgt schlief er an diesem Abend ein.
Drei Tage später entdeckte er zufällig im Inneren seiner Jackentasche eine Münze. Er überlegte lange, was er damit noch kaufen könnte, dann ging er runter in den Laden, um sich das allerletzte Mal ein Brötchen zu holen. Frau Martinez stand ganz hinten in einer Ecke und unterhielt sich gerade mit einer Kundin, aber als sie ihn sah, ließ sie die Kundin stehen und kam auf ihn zu.
Sie nahm sich die Brille ab und musterte ihn ein wenig besorgt, jedoch auch amüsiert und sagte: »Na, jetzt haben wir uns aber lange nicht gesehen!« Er beobachtete, wie sich ihre Gesichtszüge ganz langsam in ein breites Grinsen verwandelten, als sie fragte: »Schon was gefunden?«
Er wich ihrem Blick aus, legte seine Münze neben die Kasse und klemmte sich die Tüte mit dem Brötchen unter den Arm. Er wollte einfach hinausgehen, doch Frau Martinez stand dort, noch immer auf eine Antwort wartend, und er wollte nicht unhöflich wirken. Nein, sagte er sehr leise, fast flüsternd, er habe noch nichts gefunden. Na ja, es würde sich schon noch was finden, sagte sie, wär doch ’n Witz, wenn er nichts mehr finden sollte. Er blieb stehen und sah sie aus rot entzündeten Augen an. Nein, das glaube er nicht, sagte er, er glaube nicht, jemals noch etwas zu finden. Er sagte dies sehr trocken und verbittert.
Daraufhin verließ er den Laden und wunderte sich über diese neue Situation: Er stand da, mitten auf der Straße und war noch immer am Leben, und um ihn herum war immer noch das Nichts.
Und dieses Nichts, völlig ruhig und gelassen, lächelte ihm jetzt sogar freundlich zu.
Es folgte ihm durch die Straße – und begleitete ihn zurück in die Wohnung.