Einverleibung (Sonett)

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Die Großstadt, wie ein Biest mit kalten Klauen,
knipst abends ihre tausend Augen an.
Dann schleicht sie mit der Einsamkeit heran,
um manche bange Seele zu verdauen.

Genüsslich fängt sie an mit dem Zerkauen,
weiß, wie mit Sorgen sie zersetzen kann,
zieht Sinn und Zeit formlose Fetzen an
und einverleibt sich letztes Urvertrauen.

Zurück lässt sie so manche leere Hülle.
Jetzt rätselt man im Haus, wer ihn wohl kennt.
Fast kann man etwas wie Gemeinschaft spüren.

Ein fremder Nachbar in der Großstadtfülle -
die Türe erst nach Wochen aufgestemmt.
("Man konnte den Geruch nicht ignorieren!").





.feb_2023
 
Zuletzt bearbeitet:

Wolke9

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Hallo fee_reloaded,

normalerweise werden Sonette im fünfhebigen Metrum (Hebungen !, nicht Versmaß). geschrieben. Aber was ist schon normal?
  • „Genüßlich“, „läßt“, „ß“, auch nach der Rechtschreibrefom, immer nach „langen“ Umlauten
  • formlose Fetzen“ ? Was soll das sein? Diese zwei Begriffe schließen sich in ihrer Bedeutung eigentlich gegenseitig aus.
  • weiß, wie mit Sorgen sie zersetzen kann“. Die Formulierungen in der zweiten Strophe kommen ziemlich gekünstelt rüber. Es geht zwar rein theoretisch, aber so grammatikalisch geschwurbelt spricht und schreibt eigentlich niemand (außer Du natürlich).
  • „Als man im Flur sich fragt …“

Inhaltlich verstehe ich dieses Sonett in seiner Dramaturgie „Großstadt-Anonymität“ noch nicht für ausgegoren. Möglicherweise ist es ein Fall für die Werkstatt.

Na, wenigstens biste kein Bot.:)

Viele Grüße Wolke9
 

Scal

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Ein beeindruckendes Gemälde!
Die Großstadt als Wesen, das zugleich das Wesen "Einsamkeit" als ein Wesensmerkmal in sich trägt.

Die Dichterin "durchforscht" ertastfühlend das Schattenwesen, den dämonieartigen Doppelgänger der Großstadt und versucht dessen Wirksamkeit anschaulich zu machen bis dorthin, wo er als "Einzel-Fall" zu Tage tritt - der dann sogleich das "Wir" aufschreckt.
Ich erinnere mich an das Video zu Wolfgang Ambros' Lied "Da Hofa woas."

So mein skizzenhafter Eindruck zu "Großstadt, Sinn und Zeit".

Die Großstadtthematik ist und war für die künstlerische Sensibilität schon oft ein Anreiz (z.B. im "Malte" bei Rilke). Es ließe sich sicherlich dazu eine Anthologie zusammenstellen.

Vielleicht gibt es ja noch formale Aspekte das Sonett betreffend, das wissen etliche Schreibfreunde viel besser, aber für mich persönlich wären oder sind das vernachlässigbare Nebensächlichkeiten.

Lieben Gruß
Scal
 

sufnus

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normalerweise werden Sonette im fünfhebigen Metrum (Hebungen !, nicht Versmaß). geschrieben. Aber was ist schon normal?
  • „Genüßlich“, „läßt“, „ß“, auch nach der Rechtschreibrefom, immer nach „langen“ Umlauten
  • formlose Fetzen“ ? Was soll das sein? Diese zwei Begriffe schließen sich in ihrer Bedeutung eigentlich gegenseitig aus.
  • weiß, wie mit Sorgen sie zersetzen kann“. Die Formulierungen in der zweiten Strophe kommen ziemlich gekünstelt rüber. Es geht zwar rein theoretisch, aber so grammatikalisch geschwurbelt spricht und schreibt eigentlich niemand (außer Du natürlich).
  • „Als man im Flur sich fragt …“

Inhaltlich verstehe ich dieses Sonett in seiner Dramaturgie „Großstadt-Anonymität“ noch nicht für ausgegoren. Möglicherweise ist es ein Fall für die Werkstatt.

Na, wenigstens biste kein Bot.:)
Was ist denn das für eine merkwürdige Anmache?! Mal von den seltsamen Spitzen ("wenigstens biste kein Bot") abgesehen, ist Dein Kommentar auch inhaltlich weitgehend neben der Spur.

1. "Normalerweise werden Sonette im fünfhebigen Metrum usw."
Als rein statistische Aussage ist das nicht verkehrt (wenn auch ungenau). Sollte hier jedoch etwas wertendes mitklingen (in dem Sinn, dass ein Sonett mit abweichender Anzahl an Hebungen formfehlerhaft wäre), dann ist das ff, föllig ferkehrt. Was weiterhin mit der Parenthese "Hebungen !, nicht Versmaß" gemeint sein könnte, bleibt obskur. Und schließlich: Fees Gedicht ist durchgängig mit fünf Hebungen versehen.

2. "Genüßlich" usw.: Alles total verkehrt. Und außerdem die schweizer Orthographie grundsätzlich ignorierend.

3. weiß, wie mit Sorgen usw.: Da ist gar nix geschwurbelt. Normale, korrekte Grammatik.

4. formlose Fetzen: Passt wunderbar zusammen, da schließt sich nichts aus. Nur ist m. E. der Satz nicht ganz vollständig konstuiert, was aber per se erstmal nix mit den formlosen Fetzen zu tun hat.

5. fragt/frägt: Letzteres ist eine landschaftliche Nebenform und so auch im Duden kanonisiert. Für meine Ohren klingts zwar auch etwas gewöhnungsbedürftig in einem nicht-dialektalen Text, aber es ist offiziell möglich (und in Österreich vermutlich sogar eher üblich (?) ).

6. Was bedeutet "inhaltlich verstehe ich [...] noch nicht für ausgegoren"? Meintest Du "inhaltlich halte ich [...] noch nicht für ausgegoren"?
Keine Ahnung, was in diesem sehr klaren und inhaltlich völlig kohärenten Sonett noch gären soll.

Schräge Sache dieser Kommentar.

LG!

S.
 

sufnus

Mitglied
Um dann mal wieder zum inhaltlichen zu kommen:

Ich frag mich noch, ob man bei den Terzetten evtl (ausnahmsweise mal) den Wendepunkt des Gedichts herausstellen könnte, indem man ihn an den Schluss setzt (was zwar eine gewisse Pointenhaftigkeit erzeugt, aber hier viell. doch einen tragenden finalen Akkord ergibt):

Zurück lässt sie so manche leere Hülle.
Fast kann man etwas wie Gemeinschaft spüren,
wenn man im Flur sich frägt, ob jemand kennt

den fremden Nachbarn in der Großstadtfülle
("Man kann doch den Geruch nicht ignorieren").
Die Tür wird erst nach Wochen aufgestemmt.

Nur so eine Idee... :)

LG!

S.
 

Walther

Mitglied
Um dann mal wieder zum inhaltlichen zu kommen:

Ich frag mich noch, ob man bei den Terzetten evtl (ausnahmsweise mal) den Wendepunkt des Gedichts herausstellen könnte, indem man ihn an den Schluss setzt (was zwar eine gewisse Pointenhaftigkeit erzeugt, aber hier viell. doch einen tragenden finalen Akkord ergibt):

Zurück lässt sie so manche leere Hülle.
Fast kann man etwas wie Gemeinschaft spüren,
wenn man im Flur sich frägt, ob jemand kennt

den fremden Nachbarn in der Großstadtfülle
("Man kann doch den Geruch nicht ignorieren").
Die Tür wird erst nach Wochen aufgestemmt.

Nur so eine Idee... :)

LG!

S.
Hi,
in der tat fallen die terzette gegenüber den quartetten inhaltlich und formal etwas ab. das passiert allen sonettern immer wieder, weil das thema nicht immer für 14 zeilen reicht, sondern der von sufnus beschriebenen wende bzw. eines twist bedarf.
da würde ich nochmal ran. es würde sich lohnen.
dieserhalb hab ich meine sternchen bisher stecken gelassen. :)
lg W.
 

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Mitglied
Danke euch recht herzlich, Scal, sufnus und Walther,

für die Rückmeldungen und intensiven Befassungen mit dem Text und den hilfreichen Hinweis, dass noch nicht ausreichendes "Momentum" in den Terzetten vorhanden ist.
Ich lass mir das gerne und gründlich durch den Kopf gehen und deinen Vorschlag, sufnus, finde ich super. Auf dem baue ich gerne auf. Danke dafür.
Muss allerdings noch ein bisschen warten. Heute bombt mir die Migräne den Schädel weg. Daher auch nur vorerst hier kurz das Dankeschön - auch an dich, Dio, und alle, für die Sternchen!

Ich wünsche euch einen guten Start in die Woche!

fee
 

Walther

Mitglied
Danke euch recht herzlich, Scal, sufnus und Walther,

für die Rückmeldungen und intensiven Befassungen mit dem Text und den hilfreichen Hinweis, dass noch nicht ausreichendes "Momentum" in den Terzetten vorhanden ist.
Ich lass mir das gerne und gründlich durch den Kopf gehen und deinen Vorschlag, sufnus, finde ich super. Auf dem baue ich gerne auf. Danke dafür.
Muss allerdings noch ein bisschen warten. Heute bombt mir die Migräne den Schädel weg. Daher auch nur vorerst hier kurz das Dankeschön - auch an dich, Dio, und alle, für die Sternchen!

Ich wünsche euch einen guten Start in die Woche!

fee
gute besserung. migräne ist sch...
 

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Mitglied
[ganz leise zugeflüstert]Gute Besserung Fee![Flüstermode bleibt on]
Danke euch beiden! ! Jetzt wirken wenigstens gerade (endlich!) die Tabletten (gestern und heute Nacht waren auch die chancenlos) - also hab ich wohl ein Zeitfenster, das ich gleich nutzen musste ;)
Hab ein wenig umgestellt, aber bin deiner Grundidee gefolgt, sufnus, und hab's gleich mal im Originaltext eingestellt, weil ich es so auf jeden Fall schon mal besser finde.

Bin gespannt, was ihr beiden dazu sagt!

LG!
fee
 

Walther

Mitglied
Zurück lässt sie so manche leere Hülle.
Ein fremder Nachbar in der Großstadtfülle:
("Man konnte den Geruch nicht ignorieren!")

Die Türe erst nach Wochen aufgestemmt:
Jetzt rätselt man im Haus, wer ihn wohl kennt.
Fast kann man etwas wie Gemeinschaft spüren.
hi,
schön, dass es dir wieder besser geht. das ist sicherlich der schnee, der dich so quält.
ich habe das ein wenig umgestellt. so kommt die quintessenz besser heraus. noch ein bisschen feilen, und dann passt es.
lg W.
 

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Mitglied
Leider nicht der Schnee, sondern die Hormonumstellung des weiblichen Körpers (etwas, auf das ich gut verzichten könnte).

Du meinst, es ist zu reißerisch, wenn es mit der aufgestemmten Türe endet?
 

sufnus

Mitglied
Hey!
Total spannend, die verschiedenen Varianten im Vergleich zu lesen! :) Ich hab früher Gedichte am liebsten mit einer Pointe enden lassen, bis mir von Jan Wagner (leider nur im einseitigen Kontakt mit seiner Poetologie) vermittelt wurde, dass hierdurch ein Text seine Offenheit verliert und statisch wird. Seither vermeide ich tendenziell Pointen eher - aber es gibt eben Ausnahmen (auch Jan Wagner hat im Jahrbuch der Lyrik 2013 explizit erklärt, dass er solche Ausnahmen für sinnvoll hält) und hier würde ich dazu tendieren, so eine ausnahmsweise Pointenvariante zu favorisieren, weil ja bei diesem Schluss das Kopfkino des Lesers doch weiterläuft und sich in unterschiedliche Richtungen zu verästeln vermag. Ich rätsele jetzt noch, ob ich meine Variante oder Fees Variante als offener empfinde (ich tendiere dazu, dass bei Fee der Offenheitswert noch etwas größer ist). Auf alle Fälle mag ich aber, in Deiner aktuellen Variante, liebe Fee, dass hierbei ein Einschub am Schluss steht, ohne dass nach dem Einschub noch etwas kommt - das ist auf alle Fälle ein Offenheits-generierendes Momentum, weil man jetzt als Leser doch irgendwie in einer Auffüll-Bringschuld steht. :)
... aber das allerwichtigste: Schön dass es die Schmerzen nachlassen! :)
LG!
S.
 

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Mitglied
So. Die nächste etwas bessere Kopf-Phase genutzt und das mal im Sinne von Walthers Vorschlag umgestellt - aber das wollte mir dann doch nicht so recht gefallen. Sei's, weil ich es von Klang und Rhythmus so nicht mehr als "meins" empfinde....oder, weil mir dieses "Ende" zwar auch gefiele, aber der Rest der Terzette so herum geordnet eher nicht. So ganz kann ich's nicht fassen, folge aber hier dann lieber meinem Bauchgefühl, und lass nun doch die Version, wie sie jetzt oben steht (in der Historie aber kann man die anderen auch sehen, wen's interessiert).

Und mit Jan Wagner bin ich "ausnahmsweise" gerne einer Meinung (gehört der doch auch zu meinen Lieblingen). ;)

Danke euch beiden nochmal, sufnus und Walther, für die intensive und hilfreiche Beschäftigung und die Tipps. Freu mich auch, dass ich deinen "Moloch" inspirieren konnte, Walther! Immer gerne! ;)

Jetzt muss ich mich aber wieder hinlegen. Schönen Abend euch!

Ah, und danke, Hans, für die Sterne! Auch dir einen feinen Abend!

fee
 
Zuletzt bearbeitet:

Wolke9

Mitglied
Hallo fee_reloaded,

na siehste, geht doch. ;) :)

Es freut mich, dass ich Euch alle zu einer Überarbeitung angestiftet habe.

Viele Grüße Wolke9
 
G

Gelöschtes Mitglied 24409

Gast
Liebe Claudia,

es ist ja alles gesagt worden, meinen Senf muss ich nicht noch beigeben. Ich finde jetzt alles in Ordnung, das Sonett liest sich wunderbar und überzeugt durch sein modernes Thema. Na ja, und wenn's mal sein muss, dann ist man bei Walther sicher aufgehoben - er ist eben unser Sonett-Meister!

Erhol' Dich!

Kr.
 

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Mitglied
Danke, Kristian!

Ja, erstaunlich, was so eine kleine Umstellung für eine große Veränderung bewirken kann! Da habe ich wirklich gern dazugelernt.
Langsam aber beharrlich nähere ich mich dem Sonett... ;)

LG,
Claudia
 



 
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