Elli

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G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Hallo Ixo,

deine Prosa hat mich mitgenommen, auch ihre Ehrlichkeit.

Die Entwicklung von Empathie wird sicher von vielerlei Umständen begleitet und entsprechend beeinflusst.
Selbst kann man diese nicht rein willentlich erzeugen.

Doch da Du bzw. der Protagonist sich von Elli innerlich berühren ließ, ist das (vermutlich in uns angelegte) Samenkorn bereits aufgegangen.

Ob ich in der Nazizeit selbst ein couragierter Mensch mit aktivem Widerstand (im Alltäglichen, im Großen wie im Kleinen) gewesen wäre?
Sicher wünschte ich mir das - keine Frage! Nur, jetzt, aus der zeitlichen Distanz, ist es zumindest leichter, das von sich behaupten zu können.

Womöglich ist auf das "Vielleicht" keine Antwort zu finden, sofern eine ernste Reflexion darüber erfolgt ist.

Noch eine Formsache:

Ich war stärker als meine Altersgenossen, und wenn sie sich doch an mich herantrauten, schlug ich sie sofort ins Gesicht. Wenn ihre Lippe(n) platzte(n) ...
Grüße
Keram
 
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G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Nachtrag:
Du könntest schreiben: (...) schlug ich ihnen sofort ins Gesicht. Wenn eine Lippe platzte oder die Nase zu bluten begann, ...
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Ein tiefgehender Text, auf der einen Seite beinahe brutal, auf der anderen ist da so etwas wie Wärme. Wärme, die man beim Lesen spürt, die jedoch im Text unausgesprochen bleibt. Wärme, die der Prot sich selbst nicht eingestehen, nicht als solche spüren konnte (und das vielleicht bis heute nicht kann?).

LG
Cellist
 

Ixolotl

Mitglied
Hallo ihr beiden,

es gibt etwas, das nennt sich "Prosoziales Verhalten", das schon in Kindern angelegt ist - wohl aber nicht in jedem. Es soll nicht vermittelbar sein, sondern auf Instinkten beruhen; manche glauben an eine so genannte "Interpersonale Attraktivität", die ungleich verteilt wäre und Schlüsselreizen folgte. Ganz wird man wohl nie ergründen können, wo kindliche Philanthropie ihre Wurzeln hat, ob sie angeboren oder sekundär erworben ist.

Fest steht jedenfalls, dass es diese frühe Form der menschlichen Zuwendung gibt, und auch, dass sie direkt neben der Grausamkeit wohnen kann. Als Kind fällt einem das nicht so auf, weil man anfangs viel mehr fühlt, als man denkt, und dabei alles Mögliche durcheinanderbringt.

Später lernt man, dass Empathie nicht immer auf Gegenliebe stößt. Sie kann unbemerkt bleiben, sie kann verpuffen oder, im Extremfall, sogar Hass erzeugen: schwupp - schon versucht man, dich wieder ans Kreuz zu nageln. Wohl dem, der da neben der Sanftmut noch einen knallharten, rechten oder linken Haken zur Hand hat.

Die Lippe und die Nase, lieber Keram, bezieht sich in meinem Text auf das Gesicht der Feinde; sie können zudem, da sie gemeinsam genannt werden, getrost im Singular stehen bleiben, finde ich.

Vielen Dank für Eure Gedanken und Eure Bewertungen.

lg

Ixo
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Hallo Ixo,

danke für die Rückmeldung.

LG
Keram
 

Ixolotl

Mitglied
Wie in dem Text wiederholt angesprochen, lieber Jon, sind Kinder, behindert oder nicht, zu ihren Zeiten stets eher Fühlende als Denkende. Das macht sie der Erwachsenenwelt gegenüber doppelt verletzlich. Kindsein ist eine Phase, in der nicht wirklich entschlossen und mit Weitblick gehandelt werden kann, sondern wo in dem Durcheinander, das in einem herrscht, mitunter verzweifelt nach einem Roten Faden gesucht wird. Manche finden ihn, viele nicht.

Bei Kindern einen Unterschied zu suchen zwischen "fühlen" und "erleben", halte ich für sinnlos. Sie nehmen Märchen für wahr und glauben an das Christkind, bis man ihnen beides wieder nimmt. Und doch ruht, so glaubt die Wissenschaft erkannt zu haben, im Grunde ihres Inneren ein Keim, der zur Nächstenliebe befähigt und der sich, mit einigem Glück, ausprägt und durch den Dreck bricht, der sie, wie uns alle, stets umgibt.

Im "Dritten Reich" wusste man das schon und hat mit straffer "HJ-Arbeit" dafür gesorgt, dass diese Pflänzchen möglichst rasch verdarben. Aber nicht alle haben damals mit Lust Judenkinder verprügelt. Es gab immer auch ein paar, die zu ihren Freundinnen und Freunden geholfen haben, wenigstens insgeheim. Der Unhold, von dem in der Geschichte die Rede ist, hatte offenbar körperliche Vorteile und eine gnadenlose Rechte. Bestimmt hat er die auch mal Unschuldigen mitten ins Gesicht gehauen. Aber die kleine Elli, die gehörte offenbar nicht dazu.

Vielleicht ist es ja wirklich nur ein Märchen, das ich hier erzählt habe, von dem man sich wünscht, es wäre Wirklichkeit. Wer weiß?

lg

Ixo
 
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jon

Mitglied
Teammitglied
Das widerspricht sich doch nicht, lieber Ixo. Nicht alles, was man erlebt, verarbeitet man bewusst denkend, sehr vieles prägt "nur" das Fühlen, die Reflexe. Bei Kindern ist dieser Anteil nur höher, ihre Antennen für die Signale sind feiner (weniger "rational überprägt").
Aber ich will hier gar keine Inhaltsdiskussion führen (dafür gibt es z. B. Psychologie-Foren), sondern nur auf eine Stelle hinweisen, die ich als logisch schwach empfand.
 

Ixolotl

Mitglied
Wenn auch Du der Meinung bist, lieber jon, dass kindliches Fühlen und Denken nicht so klar unterscheidbar sind wie bei uns Erwachsenen, frage ich mich, was es denn dann an
Schon als ich noch im Kindergarten und im Hort geparkt wurde, kam ich mir anders vor. Nicht, dass ich mich für besser oder schlechter hielt als die übrigen Kinder. Aber ich fühlte mich anders. Ich konnte nicht lachen, wenn sie lachten, und nicht mitweinen, wenn sie traurig waren. Berührt hat mich damals nur Elli.
oder an
Nur Elli hatte keine Angst vor mir. Sie blieb immer auf Tuchfühlung und redete mit mir, ohne dass sie sich immer verständlich machen konnte. Ich antwortete meistens nicht auf ihr Gebrabbel oder ihren Singsang, weil ich nicht wirklich hinhörte. Aber ich litt nicht, dass sie gehänselt wurde. Ich glaube, das hat sie gespürt und war deshalb immer so nah. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, wo ich sie wirklich in Schutz genommen hätte. Es war nie nötig, wenn ich in ihrer Nähe war.
groß auszusetzen gäbe? Es ist die Rede von zwei Kindern, die sich nicht rational, sondern emotional begegnen, und die so zueinander sind, wie es nicht jeder Zeitgeist für angemessen hielt oder hält.

Wahrscheinlich haben beide damals nur geträumt - der Haudrauf, dass neben der Dresche noch eine andere Ebene existieren könnte, und Elli, dass es Schutz gäbe, der ganz von Außen käme, sozusagen "vom Himmel herunter". Genaueres wussten damals beide nicht, und sie wissen es auch heute nicht besser, wie zu lesen ist.

Sie fühlen und denken wohl immer noch gleichzeitig und unterscheiden sich damit grandios von der übrigen Gesellschaft, die sofort alle Gefühle ausschalten kann, falls sie jemals zu denken beginnt. So kommen dann lukrative Geschäfte mit Gesichtsmasken, Impfstoffen, Straßenverkehrsabgaben, Dieselmotoren, Schusswaffen und Bomben zustande. Was für ein riesiger Eisberg das ist, stellt man erst fest, wenn, so wie jetzt, wieder mal eine winzige Spitze abgebrochen und öffentlich dargeboten wird.

Kinder können von Natur aus viel mehr, als Erwachsene oft annehmen. Sie denken und fühlen gleichzeitig, meist zu ihrem Verderben, unter Umständen aber auch, so wie hier, zu einem winzigen Vorteil. Wenn sie erwachsen sind, lesen wir, beginnen sie auch daran zu zweifeln. Ihr Pech.

lg

Ixo
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich verstehe nicht … Wo habe ich denn diese Stellen kritisiert? Okay, im zweiten Zitat stört mich das "das hat sie gespürt" (Wind spürt man oder eine Berührung) - aber der Rest des Zitates? Und vor allem sehe ich den Sinnzusammenhang zu meiner Anmerkung nicht.
Also nochmal: Sie spürt das nicht. Sie bemerkt es vielleicht, hat es (aus Erlebtem) gelernt oder was auch immer, von mir aus fühlt sie auch sicher/geschützt bei ihm (weil sie diesen Schutz bereits erfahren hat). Aber sie spürt es nicht. Um nichts anderes geht es in meinem winzigen Einwurf.
 
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Bornstein

Mitglied
Ich will mal eine Sache ansprechen über die hier wenig gesagt wurde. Du (Ixo) sagst: hab ich oft an Elli zurückgedacht und nach einem Grund gesucht, der mich damals dazu brachte, sie ohne jedes nähere Wort in Schutz zu nehmen.

Der Grund scheint mir klar. Beides, der Ich-Erzähler und Elli waren Sonderlinge, beide passten nicht so recht in der Kindergarten-Gesellschaft (z.B. ...ich fühlte mich anders...). Dadurch ergab sich die Verbindung.

Eine zweite sehr interessante Frage ist: wie hätte ich mich damals verhalten?

Es tut mir sehr leid hier als Sonderling aufzutreten, aber ich bin da ganz andere Meinung.

Wie ich gehandelt hätte, wäre ich damals anwesend gewesen, scheint mir eine idealistische (im philosophischen Sinn) Frage zu sein. Sie verlässt den Bereich der Wirklichkeit, und wenn man den Bereich der Wirklichkeit verlässt, dann ist alles (alles = nichts) möglich.

Wie ich mich heute verhalte, das kann ich antworten. Übrigens, wie ich mich heute verhalte, kann wahrscheinlich auch einiges aussagen über das wie ich mich damals verhalten hätte.

Jedenfalls bin ich dir sehr dankbar, lieber Ixo, mal etwas zu posten das Ansatz zum Denken gibt.

Claudio
 
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Ixolotl

Mitglied
Lieber Claudio,,

ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, was Du mit
Eine zweite sehr interessante Frage ist: wie hätte ich mich damals verhalten?

Es tut mir sehr leid hier als Sonderling aufzutreten, aber ich bin da ganz andere Meinung.

Wie ich gehandelt hätte, wäre ich damals anwesend gewesen, scheint mir eine idealistische (im philosophischen Sinn) Frage zu sein. Sie verlässt den Bereich der Wirklichkeit, und wenn man den Bereich der Wirklichkeit verlässt, dann ist alles (alles = nichts) möglich.

Wie ich mich heute verhalte, das kann ich antworten. Übrigens, wie ich mich heute verhalte, kann wahrscheinlich auch einiges aussagen über das wie ich mich damals verhalten hätte
meinst. Wie Du als Kindergartenkind auf Elli reagiert hättest (faktisch, textbezogen), wie Du Dich als Nazi-Kindergartenkind hättest verhalten können (hypothetisch, textbezogen) oder wie Du (nicht mehr textbezogen, sondern rein kommentatorisch) Dein Verhalten von damals heute erklären könntest?

Das in dem Text lyrisch vorgestellte "Ich" hat sich, so schreibt es, diese Fragen alle und immer wieder gestellt, bis heute aber keine Antwort darauf gefunden. Vielleicht leidet es ja an der "Gnade der späten Geburt"? Vielleicht wurde es nicht mit der notwendigen Härte zu jener Art von Grundsätzlichkeit erzogen, die es braucht, um Libellen die Flügel, Fröschen die Beine und Mädchen die Herzen ohne Hemmung herauszureißen?

Vielleicht möchte der Autor ja nichts, als begreiflich machen, dass er an eine Empathie glaubt, die ohne moralinsauren, religiös-ranzigen Rollator vorankommt. Die nur dort entstehen kann, wo es Menschen gibt, die sich schätzen. Schätzen, finde ich, trifft es am besten. Das Wort "schätzen" ist nicht so verschmutzt wie die "Liebe". Es zielt auf den Wert, den jeder Mensch hat. Jedenfalls immer ganz zu Beginn - im Kindergarten, in der Volksschule oder beim ersten Rendezvous.

lg

Ixo
 

Bornstein

Mitglied
Lieber Ixo,

Meine Bemerkung bezieht sich auf folgende Passage in deinen ersten Text:

Während der Nazizeit hätte man diesen Instinkt wohl als fehlgeleitet oder „entartet“ betrachtet. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Elli auch dann geholfen hätte, wenn man mir erklärt hätte, so etwas wie sie sei gar kein Mensch, der das Recht habe, auf Kosten anderer zu vegetieren. Vielleicht hätte ich damals auch niemanden gefragt, wohin sie denn so plötzlich verschwunden sei, wenn sie abgeholt worden wäre.

Wenn man es ganz genau nimmt, und so genau habe ich es nicht genommen, dann wird in der Bemerkung ob ich Elli auch dann geholfen hätte (das dann bezieht sich auf die Nazizeit) nicht die Tatsache berücksichtigt, dass der Ich-Erzähler ja nur ein kleiner Bub in einem Kindergarten war. Er wäre wahrscheinlich von den politischen Zuständen gar nicht so betroffen.

Ich habe also deine Bemerkung verallgemeinert. Jetzt gilt es, das Verhalten gegenüber Behinderte in der Nazizeit, allgemein zu untersuchen, und der Ich-Erzähler, jetzt nicht mehr ein kleiner Bub, fragt sich, ob er entartete Menschen, Menschen die nur auf Kosten anderer vegetieren, geholfen hätte.

Diese Frage zu beantworten bedeutet den Ich-Erzähler, der die Frage macht, zurück in die Nazizeit zu transportieren, und dies habe ich unrealistisch genannt, denn, wenn du (der Ich-Erzähler natürlich) in der Nazizeit geboren wärest, dann wärest du nicht du, und hättest wahrscheinlich diese Frage gar nicht gestellt. Habe ich es jetzt deutlicher formuliert, oder eher das Gegenteil?

Den Rest deines Kommentars ist viel wichtiger als das was ich oben gesagt habe, aber ich weiß nicht richtig wie ich es kurz sagen kann. Es gibt so etwas wie Humanismus, d.h. der Mensch wird, wie du es sagst, geschätzt, oder, der Mensch ist gut, oder auch man liebt ihn. Welche Version benutzt wird ist eigentlich unwichtig. Ich persönlich liebe die Schönheit, also sage ich: der Mensch ist schön. Jedenfalls, der Mensch ist nicht der Wolf des Menschen.

Über die Gnade der späten Geburt, ein von Kohl verwendeter Begriff, um sich von Schuldgefühlen frei zu machen, darüber können wir später mal diskutieren. Das wird sonst hier zu viel. Im Voraus kann ich aber schon sagen, dass ich persönlich, mit dem Wort Schuld, nicht viel anfangen kann.

Claudio
 

Ixolotl

Mitglied
Wenn Du meinst
Wenn man es ganz genau nimmt, und so genau habe ich es nicht genommen, dann wird in der Bemerkung ob ich Elli auch dann geholfen hätte (das dann bezieht sich auf die Nazizeit) nicht die Tatsache berücksichtigt, dass der Ich-Erzähler ja nur ein kleiner Bub in einem Kindergarten war. Er wäre wahrscheinlich von den politischen Zuständen gar nicht so betroffen,
lieber Claudio, übersiehst Du, dass der Autor die Nazizeit nur fiktiv erwähnt, also nicht direkt über sie berichtet, wohl aber darüber sinnt, ob er - als kleiner "Bub" - dem damaligen Zeitgeist hätte widerstehen wollen oder können. Das lyrische Ich antwortet auf diese Frage deprimierend klar:
Ich weiß es bis heute nicht. Vielleicht war es ja nur ein Instinkt. Während der Nazizeit hätte man diesen Instinkt wohl als fehlgeleitet oder „entartet“ betrachtet. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Elli auch dann geholfen hätte, wenn man mir erklärt hätte, so etwas wie sie sei gar kein Mensch, der das Recht habe, auf Kosten anderer zu vegetieren. Vielleicht hätte ich damals auch niemanden gefragt, wohin sie denn so plötzlich verschwunden sei, wenn sie abgeholt worden wäre.

Vielleicht.

Auf dieses „Vielleicht“ hab ich nie eine Antwort gefunden.
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Wir tragen eine Mitschuld an allem, was unsere Vorfahren damals angerichtet haben, und können uns niemals davon freisprechen. Ich jedenfalls kann es nicht - trotz der "Gnade der späten Geburt".

lg

Ixo
 
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Ixolotl

Mitglied
Über die Gnade der späten Geburt, ein von Kohl verwendeter Begriff, um sich von Schuldgefühlen frei zu machen, darüber können wir später mal diskutieren. Das wird sonst hier zu viel. Im Voraus kann ich aber schon sagen, dass ich persönlich, mit dem Wort Schuld, nicht viel anfangen kann.
Nachdem Du mich ich bei meinem „Spaziergang am Rhein“ mit Deiner Wutwertung überrascht hast, lieber Bornstein, komme ich noch einmal auf das zurück, was Du hier gesagt hast.

Eigentlich braucht diese Geschichte niemanden, der mir erklärt, er sei außerstande, Schuld zu empfinden. Es geht ja in diesem kleinen Stück nicht um Schuld, sondern um die interpersonelle Attraktivität, die ein Haudrauf einem gleichalten, behinderten, hilflosen Geschöpf gegenüber spürt und der sich, erst viel später, fragt, ob dieser Wesenszug wohl erhalten geblieben wäre, wenn man ihm damals aus Hiemers „Giftpilz“ vorgelesen hätte.

In der Geschichte sagt das lyrische Ich, dass es diese Frage jetzt, so viele Jahre später, nicht sicher beantworten könne. Es lebt zwar offensichtlich in der „Gnade der späten Geburt“, fühlt sich aber gleichwohl mitschuldig an dem, was seine Eltern oder Großeltern damals unter behinderten Kindern angerichtet haben.

Es denkt also ganz anders als Du. Es zweifelt an sich; es schleppt die Untaten – oder die Gleichgültigkeit – seiner Eltern mit sich herum wie einen Mühlstein um den Hals, weil es nicht weiß, ob es damals. mitten in dieser Zeit, anders gehandelt hätte. Es ist wie beim „Spaziergang am Rhein“: da traut der Protagonist auch niemandem – nicht den roten Lippen des Mädchens, nicht der spiegelnden Oberfläche des Flusses und schon gar nicht seinem eigenen, glatt rasierten Gesicht. Hier wie dort schreibt jemand keine Geschichte, sondern beschreibt seine Zweifel.

Lg

Ixo
 



 
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