Ende der Spielzeit

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G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Ralf,

ich glaube, ein „sensorischer Sinn“ (ist das nicht ein Pleonasmus?) für Orthographie reicht nicht, wenn man gute Prosa schreiben will. Da sollte man die Regeln schon beherrschen. Aber ich helfe Dir gerne auf die Sprünge.
Die alte Zabka lehnte wie immer auf einem Kissen im Fenstersims und schaute uns Kindern beim Spielen zu. Da war ein kleiner Rasen vor ihrer Küche, dahinter ein Sandkasten mit einer großzügigen Fläche aus roter Asche. Dort spielten wir „[red]keine Leerstelle[/red] Deutschland erklärt den Krieg“.
Die alte Zabka schaute zu, stundenlang, ohne ein Wort zu sagen.
Meine Mama sagte [blue]Komma[/blue] die Zabka sei etwas sonderlich, und das läge daran [blue]Komma[/blue] [red]das[/red] [blue]dass[/blue] ihr Mann in Russland geblieben [red]ist[/red] [blue]sei[/blue].

Manchmal schüttelte sie mit dem Kopf und murmelte von Dingen [blue]Komma[/blue] die wir nicht verstanden.
Ein Nachbarjunge spielte immer als Russland. Warum [blue]Komma[/blue] wussten wir nicht. Meine Mama sagte, der Vater von ihm [red]hat[/red] [blue]habe[/blue] eine Wolgadeutsche geheiratet, und so [red]sind[/red] [blue]seien[/blue] die Dinge nun einmal.
Wir wollten immer Deutschland sein. Was aber nicht ging.
Wir liebten dieses Spiel. Bei Wind und Wetter waren wir auf dem Hof und riefen: „Deutschland erklärt den Krieg an[red]....[/red]" [red](drei !Auslassungspunkte gehören nicht direkt an das Wort, es sei denn, sie dienten als Ersatz für einzelne Buchstaben eines Wortes[/red])“ - große Spannung - „Russland“ oder „ [red]keine Leerstelle[/red] Frankreich“ oder „ [red]keine Leerstelle[/red] Italien“, und warfen danach unsere Stöckchen.
Wenn Russland verlor, nickte die alte Zabka stumm, ließ uns unter ihrem Küchenfenster antreten, [red]kein Komma[/red] und gab jedem einen Fuchs.

„ Holt euch Klümpchen an der Bude“, sagte sie dann und schloss das Fenster.

In der nächsten Zeit hustete die alte Zabka viel und hielt sich immer ein Taschentuch vor [red]dem[/red] [blue]den[/blue] Mund. Ab und zu ließ sie es mit zittrigen Händen fallen, und es war voller Blut.
Dann war sie weg vom Fenster.
Meine Mama sagte, da wo sie jetzt hingekommen [red]ist[/red] [blue]sei[/blue], [red]ist[/red] [blue]sei[/blue] sie endlich mit ihrem Mann zusammen, und wir [red]sollen[/red] [blue]sollten[/blue] uns für sie freuen.
Wir waren aber doch eher geknickt, jetzt so ganz ohne Fuchs und Klümpchen nach dem Spiel.

Ein neuer Nachbar zog ein, und der rief immer [blue]Komma[/blue] wir sollten uns was [red]Schämen[/red] [blue]schämen[/blue]. Er sprach von Gräuel und Stalingrad und den Juden und anderen Dingen.
Wir standen alle stramm, ließen uns die Leviten lesen, und wussten nicht [blue]Komma[/blue] worum es ging.
„ [red]keine Leerstelle [/red]Es ist doch nur ein Spiel“, sagte ich manchmal zaghaft.
Da wurde er noch zorniger, und ich hielt die Klappe.

Meine Mama erklärte, es [red]ist[/red][blue] sei[/blue] wohl besser [blue]Komma[/blue] damit aufzuhören. Schließlich [red]kommen[/red] [blue]kämen[/blue] wir alle im Sommer in die Schule, und im Grunde [red]ist[/red] [blue]sei[/blue] es wohl besser [blue]Komma[/blue] wenn ich in einen Fußballverein [red]gehe[/red] [blue]ginge[/blue].
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit)

Für mich wird diese Geschichte aus der Sicht eines Erwachsenen erzählt, daher ist der Gebrauch des Konjunktivs durchaus vertretbar.

Gruß Ciconia
 

Willibald

Mitglied
Ciconias Anmerkungen und Korrekturen, absolut empfehlenswert, meine ich.
Dieser Erzähltext hat natürlich zwei Perspektiven, die eines rückschauenden Erzählers (Imperfekt/Präteritum) und die der erlebenden Figur.

Der Text legt sehr viel Wert auf die Perspektive des naiven Jungen, hier etwa wird es deutlich, Bewusstseinstufe, Wortwahl. Sprachhöhe, Satzbau, Worte wie das jungenfremde "Gräuel", Wortschatz des Nachbarn, vom Jungen nicht verstanden:

Wir waren aber doch eher geknickt, [blue]jetzt so ganz ohne Fuchs[/blue] und Klümpchen nach dem Spiel.

Ein neuer Nachbar zog ein, und der rief immer, wir sollten uns was schämen. Er sprach von Gräuel und Stalingrad und den Juden und anderen Dingen. [blue]Wir standen alle stramm, ließen uns die Leviten lesen und wussten nicht, worum es ging[/blue].
„Es ist doch nur ein Spiel“, sagte ich manchmal zaghaft.
Da wurde er noch zorniger, und [blue]ich hielt die Klappe[/blue].
Daher ist es durchaus plausibel, die Konjunktive der indirekten Rede zu verringern oder ganz auszusetzen.
Aber Ciconias Perspektive ist in/aus meiner Perspektive gut nachvollziehbar.

Beste Grüße

ww
 

molly

Mitglied
Hallo Ralf,

wie wäre dieser Titel: "Kein Spiel mehr", vielleicht gibt es noch andere Vorschläge!

Dieses Spiel kenne ich auch noch, doch durften damals nur die Buben mitspielen.

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in der Schule irgend etwas vom letzten Krieg erfahren hätten, dafür in Geschichte vom 30 jährigen.

Aber meine Eltern haben mit uns darüber gesprochen.

Ich wünsche euch allen eine gute Nacht

molly
 

Ralf Langer

Mitglied
Ende der Spielzeit

Die alte Zabka lehnte wie immer auf einem Kissen im Fenstersims und schaute uns Kindern beim Spielen zu. Da war ein kleiner Rasen vor ihrer Küche, dahinter ein Sandkasten mit einer großzügigen Fläche aus roter Asche. Dort spielten wir „Deutschland erklärt den Krieg“.
Die alte Zabka schaute zu, stundenlang, ohne ein Wort zu sagen.
Meine Mama sagte, die Zabka sei etwas sonderlich, und das läge daran, dass ihr Mann in Russland geblieben sei.

Manchmal schüttelte sie mit dem Kopf und murmelte von Dingen, die wir nicht verstanden.
Ein Nachbarjunge spielte immer als Russland. Warum, wussten wir nicht. Meine Mama sagte, der Vater von ihm habe eine Wolgadeutsche geheiratet, und so seien die Dinge nun einmal.
Wir wollten immer Deutschland sein. Was aber nicht ging.
Wir liebten dieses Spiel. Bei Wind und Wetter waren wir auf dem Hof und riefen : „Deutschland erklärt den Krieg an“ - große Spannung - „Russland“ oder „Frankreich“ oder „Italien“, und warfen danach unsere Stöckchen.
Wenn Russland verlor, nickte die alte Zabka stumm, ließ uns unter ihrem Küchenfenster antreten und gab jedem einen Fuchs.

„Holt euch Klümpchen an der Bude“, sagte sie dann und schloss das Fenster.

In der nächsten Zeit hustete die alte Zabka viel und hielt sich immer ein Taschentuch vor den Mund. Ab und zu ließ sie es mit zittrigen Händen fallen, und es war voller Blut.
Dann war sie weg vom Fenster.
Meine Mama sagte, da wo sie jetzt hingekommen sei, sei sie endlich mit ihrem Mann zusammen, und wir sollten uns für sie freuen.
Wir waren aber doch eher geknickt, jetzt so ganz ohne Fuchs und Klümpchen nach dem Spiel.

Ein neuer Nachbar zog ein, und der rief immer, wir sollten uns was schämen. Er sprach von Gräuel und Stalingrad und den Juden und anderen Dingen.
Wir standen alle stramm, ließen uns die Leviten lesen, und wussten nicht, worum es ging.
„Es ist doch nur ein Spiel“, sagte ich manchmal zaghaft.
Da wurde er noch zorniger, und ich hielt die Klappe.

Meine Mama erklärte, es sei wohl besser, damit aufzuhören. Schließlich kämen wir alle im Sommer in die Schule, und im Grunde sei es wohl besser wenn ich in einen Fußballverein ginge.
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo miteeinander,

ich habe den Text abschließend überarbeitet,und mit einem neuen Titel versehen.

Herzlichen dank für die hilfreichen Anmerkungen und Kommentare

Ralf
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Ralf,

gut so! Es freut mich, dass Du die Kritik sportlich nimmst. ;)

Gruß Ciconia
 

Val Sidal

Mitglied
@Ralf Langer

Der Text verreckt bereits im ersten Absatz:
Die alte Zabka lehnte wie immer auf einem Kissen im Fenstersims und schaute uns Kindern beim Spielen zu. Da war ein kleiner Rasen vor ihrer Küche, dahinter ein Sandkasten mit einer großzügigen Fläche aus roter Asche. Dort spielten wir [red]„Deutschland erklärt den Krieg“.[/red]
– es darf bezweifelt werden, dass Kinder ein Spiel derart elaboriert bezeichnen; „zieht in den Krieg“, „greift an“, „überfällt“ – sowas könnte man schreiben (und man komme mir bitte jetzt nicht mit dem Argument, „ja aber es war wirklich so, ich war dabei ...“).

Wenn ein Kurztext so einen Mist austragen soll, dann könnte man doch gleich in die Vollen gehen, nach dem Motto „Auschwitz – Deutschland gibt Gas.“
Die alte Zabka schaute zu, stundenlang, ohne ein Wort zu sagen.
Meine Mama sagte, die Zabka sei etwas sonderlich, und das läge daran, dass ihr Mann in Russland geblieben sei.
Wenn der Mama bei einem derartigen Spiel nichts Besseres einfällt, als die alte Zabka sonderlich zu finden, dann wirkt das wie ein Warnschild: „Textschäden – Weiterlesen auf eigene Gefahr!“
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Val,

ich versuche in meinen Miniaturen "Wirklichkeit" abzubilden.
Ich versuche nicht zu moralisieren.

Da ich aber weder( nach deiner Vorgabe) sagen darf
a) das das Spiel so hieß
noch b)
das es wirklich so gewesen ist weil der Autor es erlebt hat,

kann ich mich deines Arguments nicht erwehren.

Ich bin in einem politisch " schweigsamen " Hause groß geworden.

Erklärungen in meiner Kindheit waren nur zu oft:
so ist das nun einmal, wenn du groß bist wirst du das verstehen, etc...

Nun ja,
und vom zweiten Weltkrieg im historischen Kontext hörte ich zum erstenmal auf dem Gymnasium.

War es so? War es richtig so?

Mein Text will das faktische nicht beurteilen. Der Text ist als Szene rein "phänomenal".
Erklärungen, Wertungen sind nicht vorhanden.

Diese bringt der Leser mit sich.
Diese hast du abgegeben.

Herzlichen Dank für deine Einlassung
Ralf
 

Val Sidal

Mitglied
@Ralf Langer

ich versuche in meinen Miniaturen "Wirklichkeit" abzubilden.
– sagst Du. Nur – beim Lesen gibt es keine Wirklichkeit jenseits des Textes. Lesen ist ein einsames Geschäft – ohne Autor und ohne Sachzusammenhang.

Und weiter:
Ich versuche nicht zu moralisieren.
Es geht mitnichten um moralisieren. Vielmehr treffen hier der vom Autor erzeugte und geführte Erzähler und der Leser aufeinander. Ein Kurztext hat keine Zeit und keinen ausreichenden Raum, um den Erzähler zu kontextualisieren und seine Sicht jenseits des gesprochenen (geschriebenen) Wortes zu fokussieren. Dies bleibt vollständig dem Leser überlassen – der Autor mag durch abschätziges Titulieren („moralisieren“) seinen Seelenfrieden finden. Der Erzähler (nicht der Autor, ein Avatar, der als Ralf Langer geführt wird, und ich zu keinem Zeitpunkt gewiss sein kann, dass er nicht etwa ein verschworener Schwarm von Creative Writing Lehrlingen ist) darf und muss – als Protagonist des Textes – unter die Lupe der kritischen Figurenanalyse genommen werden.

Daher ist dies hier völlig irrelevant:
Da ich aber weder( nach deiner Vorgabe) sagen darf
a) das das Spiel so hieß
noch b)
das es wirklich so gewesen ist weil der Autor es erlebt hat,

kann ich mich deines Arguments nicht erwehren.

Ich bin in einem politisch " schweigsamen " Hause groß geworden.

Erklärungen in meiner Kindheit waren nur zu oft:
so ist das nun einmal, wenn du groß bist wirst du das verstehen, etc...

Nun ja,
und vom zweiten Weltkrieg im historischen Kontext hörte ich zum erstenmal auf dem Gymnasium.

War es so? War es richtig so?

Mein Text will das faktische nicht beurteilen. Der Text ist als Szene rein "phänomenal".
Es gibt keine – von Dir sympathisch mehrdeutig bezeichnet – „rein phänomenale“ Texte. Sie sind immer – wie oben dargelegt – das Ergebnis mehrfacher Reflexionen, die jemand irgendwann, irgendwo, einem unbekannten Umstand verschuldet, getrieben von bewussten und unbewussten Intentionen und Ambitionen, verschriftlicht und Lesern zugänglich gemacht hat. Vielfach kontingente, offline-asynchrone Kommunikation ist das – nix „phänomenal“.

Ein literarischer Text beginnt dort, wo – in Anbetracht obiger Umstände – der Autor es vermag, das Partikuläre mittels Sprache so zu transzendieren, dass eine zeitlich und räumlich nicht begrenzte Leserschaft zu Bildern oder Geschichten Anschluss findet, die ihr etwas bedeuten, ohne dafür Erklärungen und Wertungen irgendwelcher Instanzen in Anspruch nehmen zu müssen.

Statt ein phänomenaler Text zu werden, entstand hier ein phänomenaler Irrtum.
 

Val Sidal

Mitglied
@molly

Matroid 2002:

Das Lieblingsspiel meiner Kindheit hieß "Deutschland erklärt den Krieg".
Stunden- und tagelang spielten wir das mit unerschöpflichem Vergnügen. Langweilig wurde es nie. Das Spiel gibt es heute nicht mehr. Ein Aspekt des Spiels steht im Zusammenhang mit heutigen Mobilfunknetzen.
Nachbetrachtung

Als Kinderspiel, im damaligen gesellschaftlichen Kontext, war das oben beschriebene Spiel nicht auffällig. Ich weiß nicht, wann das Spiel entstanden ist. Vielleicht war es eine Reflex der Nachkriegskinder auf eine Zeit, in der der Krieg in den Gesprächen der Eltern und Großeltern stets gegenwärtig war. Vielleicht ist es auch älter?
Dieses Spiel ist ein Teil meiner Kindheit, darum darf ich darüber schreiben.

Ich verabscheue Krieg und freue mich über die europäische Integration. Ich bin dankbar, daß ich noch keinen Krieg in Europa erleben mußte, und daß meine Kinder in Frieden und Sicherheit aufwachsen können. 


Matroid 2002
Das ist der springende Punkt, molly – danke für den Hinweis.

Wenn der Avatar Matroid in einem mathematisch-fachlichen Medium das Spiel als allegorische Illustration für ein nicht triviales, mathematisches Problem anführt, dann ist das zwar grenzwertig, aber eben Geschmackssache. Die Qualität der fachlichen Ausführungen ist von der Illustration gänzlich unabhängig.

Der Avatar Matroid übernimmt persönlich die Verantwortung für den Inhalt und identifiziert sich im Impressum als Martin Wohlgemuth, Opladener Str. 99d, D-42699 Solingen. Tel: 0212 64512935, Fax: 0212 64585075
Verantwortlich für das Gesamtangebot ist Martin Wohlgemuth.

Die Kommentare unter Matroids Beitrag haben Martin Wohlgemuth zum Verfassen des oben zitierten Nachtrags bewegt.

Ein literasrischer Text IST der "fachliche" Inhalt.
Als Leser erlaube ich mir – Ralf Langers Nachtrag begründet ignorierend –, ihn als misslungen anzusehen.
 

Ralf Langer

Mitglied
Nachgedachtes

Was ist Wirklichkeit?

Wirklichkeit ist alles was „wirkt“. Wirklichkeit grenzt sich hier zur Wahrheit ab.Die Wirklichkeit ist an sich nur Erscheinung, also Phänomen. Sie bedarf keiner Untersuchung. Sie steht nach meinem Verständnis für sich allein, also ohne Deutung, ohne Erklärung oder Bewertung.

Das ist es was ich mit meinen Miniaturen versuche zum Ausdruck zu bringen.

Aber, und hier Val hast du recht, der Text als solcher ausformuliert und verfasst ist Nachbildung, also Konstruktion, also gedacht, und als solcher nicht „phänomenal“.

Hier habe ich in meiner Formulierung eindeutig geirrt.

Ich versuche meine Miniaturen nach ihrer „Verfassung“ als rein „phänomenal“ erscheinen zu lassen.

Deswegen habe ich zum einen den Titel geändert, weil er bewertet und „nachgedacht“ war. Zum anderen habe ich auch die „Unschuldsstimmchen“ als bewertende Metapher aus dem Text genommen.

Desweiteren versuche ich vom Ansatz her, meine Figuren nicht Denken sondern sagen zu lassen. Weil im Denken, die Einordnung und also eine Bewertung liegt
Du sagst bezogen auf mich es läge ein großer „Irrtum“ vor.
Das will ich nicht bestreiten.

Führt mich aber zu weiterführenden Gedanken:

Was ist denn Irrtum. Es ist ein im Nachgang der Historie belegter „Fehler“ von Wirklichkeit.

Lange Jahrzehnte wurde gedacht die Erde befände sich im Mittelpunkt des Universums, oder Ähnliches. Das sind Irrtümer, aber sie haben immer eine Wirklichkeit gezeugt.
Und diese Wirklichkeit macht immer „Geschichte“
Auch wenn diese Annahmen von vorn herein falsch waren, haben sie doch die Menscheitsgeschichte geprägt.

Irrtümer sind fundamental, und wenn sie nicht wieder besseren Wissens geschahen, sind es eben keine „Lügen“.
Lügen kann nur wer die Wahrheit kennt. Das nehme ich für mich nicht in Anspruch.
Ich lebe mit meinen Irrtümern. Sie sind ein Teil der Persönlichkeit.

Bezogen auf meinen erzählerischen Protagonisten. In seiner Wirklichkeit ist das beschriebene ein Spiel.
Aber, und hier tun sich größere Fragen auf. Was ist es für die alte Zabka, was für die Mutter, und was für den neuen Nachbarn?

Soweit meine Gedanken.

Lg Ralf
 
A

aligaga

Gast
Es spielt zwar in Bezug auf den missglückten Text keine Rolle, aber @ali erklärt dennoch gern, dass es unter Bezug auf einen Sachverhalt stets nur eine Wirklichkeit gibt. Ein Punkt ist immer ein Punkt, eine Gerade eine Gerade, eine Kurve eine solche mit einer definitiven Krümmung, ein Kreis ein Kreis, ein Vieleck ein Vieleck, eine Kugel eine Kugel, und so weiter.

Die Wirklichkeit ist unumstößlich; es gibt sie stets auch dann, wenn der Mensch sie nicht zur Kenntnis nehmen kann (z. B. weil er taubblind ist) oder nicht zur Kenntnis nehmen will (indem er sich z. B. taubblind stellt).

Behauptungen über oder Meinungen zur Wirklichkeit nennt man Wahrheiten, und schon die alten Chinesen wussten, dass es derer nicht nur unzählig viele gibt, sondern eine so falsch oder so richtig ist wie die andere (Lao-Tse).

Daraus folgt: Nur dann, wenn ein Text nichts anderes darstellt, als das, was wirklich geschah oder geschieht, hat der Leser die Möglichkeit (und die Lust), zu einer (seiner) Wahrheit zu finden. Wenn er dagegen, so wie hier, schon in der Überschrift und im Folgenden Behauptungen, nota bene wohl falsche, aufstellt, entwertet er sich. Er taugt allenfalls zum Widerspruch (so wie hier geschehen); "gefallen" kann er nur den üblichen Verdächtigen.

Heiter wieder weiter

aligaga
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo @ ali
Das ist schlichtweg „falsch“
Aber Herzlichen Dank für das Hierlassem deiner Wirklichkeit

Die Mathematik die du hiet so vielseitig zitierst
Kennt tatsächlich ihrer Definition nach nur richtig und falsch

Die Wirklichkeit kennt nur Wirkungen
In diesem Sinn
heiter
Ralf
 
A

aligaga

Gast
Wie schon mit Lao-Tse gesagt - Wahrheiten sind nichts als in Worten ausgedrückte Meinungen über die Wirklichkeit.

@Ali kann und will dir die deinen nicht nehmen. Sie kümmern ihn nicht, denn sie sind in Bezug auf die Frage, ob der fragliche Text vor deinen Retuschen ein rein beschreibender war, ohne Belang.

So what?

Heiter

aligaga
 

FrankK

Mitglied
Hallo Ralf
Eine kurze Kindheitserinnerung, in anekdotischer Form, aus Sicht des Kindes, hast du uns hier näherzubringen versucht.

Eine Vielzahl Figuren spielen eine Rolle:
* Die alte Zabka,
sie zeigt trotz aller ihr scheinbar anhaftender Bitternis noch eine gewisse Toleranz für die Kinder und ihr obskures Spiel.

* Ein neuer Nachbar,
er demonstriert offen sein Unverständnis.

* Meine Mama,
die sich in den Erklärungsversuchen hinter nichtssagenden Floskeln zu verbergen versucht, um ihre tatsächliche Unfähigkeit des Erklärens nicht zu zeigen.

* Ein Nachbarjunge,
dessen Vater eine Wolgadeutsche geheiratet habe - unterschwellig war die Mutter des Nachbarjungen wohl ein Kriegsopfer. Unterschwellig erscheint mir der Junge durch seine explizite Nennung ein wenig ausgegrenzt.

* Wir ...,
nun ja, etwas diffus und unscharf. Auch abgrenzend ... gehört der Nachbarjunge nicht zur Wir-Einheit?

Ich empfinde in diesem Text eben dieses diffuse "Wir" als zu nebulös, da ist nichts, womit ich mich als Leser identifizieren könnte. Oder bin ich zu jung dafür? Ich muss gestehen, dieses Spiel kenne ich nicht.
Aber gerade dieses Spiel wirkt in der kindlichen Naivität (ja, man könnte von kindlicher "Unschuld" sprechen) so kurz nach den schrecklichen Ereignissen eher befremdlich als unterhaltsam. Der Zeitrahmen wird nur indirekt genannt, ist aber trotzdem deutlich.
"Deutschland erklärt den Krieg" als Spiel ... darüber können sich die Geister scheiden. Political correctness spielte damals keine Rolle und sollte daher auch nicht Einzug in die Geschichte halten.

Wohl aber erkenne ich die Unfähigkeit der Erwachsenen, die den Kindern einfach nicht die üblen Themen erklären können oder wollen.

Ebenso habe ich ein ganz leichtes Gefühl einer nachschwingenden Intoleranz, auf die vorsichtig innerhalb dieser Geschichte hingedeutet wird. Einigermaßen deutlich beim neuen Nachbarn gegenüber dem Spiel der Kinder und den Erklärungen, mit denen er den Kindern unkindgerecht die Leviten liest.


Zum Titel:
Der ursprüngliche Titel (Wie ich meine Unschuld verlor) war ebenso nebulös wie nichtssagend im Bezug auf den Inhalt der Anekdote. Als Erwachsener hatte ich zunächst etwas anderes erwartet ...
Der jetzige Titel passt deutlich besser.


Erbsenzählerei:
Dann war sie weg vom Fenster.
Unfreiwillig komisch, weil doppeldeutig. Komik passt hier aber nicht hinein ... auch wenn der Knabe es damals tatsächlich so gedacht haben mag.

Meine Mama sagte, da[red][Komma][/red] wo sie jetzt hingekommen sei, sei sie endlich mit ihrem Mann zusammen, und wir sollten uns für sie freuen.
Für mein Sprachempfinden gehört dort ein Komma hin.

Die verhältnismäßig hohe Menge an Füllwörtern lasse ich mal der kindlichen Sprache geschuldet, die in diesem Rahmen, so empfinde ich, angemessen erscheint.


Fazit:
Mir fehlt ein Bezugspunkt, eine Bezugsperson. Die Wir-Gruppe ist mir zu anonym.
Der Nachbarsjunge wirkt, in dieser Form, zu ausgegrenzt. Vorschulkinder kennen so etwas üblicherweise (noch) nicht.

Ansonsten eine, so glaube ich, durchaus lesenswerte Geschichte, die eine betrachtenswerte Perspektive zeigt.


Abendliche Grüße
Frank



PS:
Ich werde nicht auf die Frage der Bedeutung von "Kriegsspielen" eingehen, dies spielt für diesen Text nämlich keine Rolle.
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo FrankK
Danke für die Analyse der handelnden Personen. In Bezug auf „Wir“ und den „Nachbarsjungen hast du mich ins Grübeln gebracht.
Dem gehe ich nochmal nach!
Das mit dem „weg vom Fenster“ mag ironisch klingen ist aber der tatsächliche Sprachgebrauch.
Lg
Ralf
 

Ralf Langer

Mitglied
Ende der Spielzeit

Die alte Zabka lehnte wie immer auf einem Kissen im Fenstersims und schaute uns Kindern beim Spielen zu. Da war ein kleiner Rasen vor ihrer Küche, dahinter ein Sandkasten mit einer großzügigen Fläche aus roter Asche. Dort spielten wir „Deutschland erklärt den Krieg“.
Die alte Zabka schaute zu, stundenlang, ohne ein Wort zu sagen.
Meine Mama sagte, die Zabka sei etwas sonderlich, und das läge daran, dass ihr Mann in Russland geblieben sei.

Manchmal schüttelte sie mit dem Kopf und murmelte von Dingen, die wir nicht verstanden.

Wir waren immer zu viert; das war mein Bruder, der ein paar Monate älter war als ich, Stephan der Sohn unserer Nachbarin, der wie ich etwas über sechs Jahre alt war, und Alex ,der wohnte auf der anderen Straßenseite und wollte immer Russland spielen. Warum wußten wir nicht.

Meine Mama sagte, er hieße eigentlich Alexej, und sein Vater habe eine Wolgadeutsche geheiratet, und so seien die Dinge nun einmal.
Wir anderen wollten immer Deutschland sein. Was aber nicht ging.
Wir liebten dieses Spiel. Bei Wind und Wetter waren wir auf dem Hof und riefen : „Deutschland erklärt den Krieg an“ - große Spannung - „Russland“ oder „Frankreich“ oder „Italien“, und warfen danach unsere Stöckchen.
Wenn Russland verlor, nickte die alte Zabka stumm, ließ uns unter ihrem Küchenfenster antreten und gab jedem einen Fuchs.

„Holt euch Klümpchen an der Bude“, sagte sie dann und schloss das Fenster.

In der nächsten Zeit hustete die alte Zabka viel und hielt sich immer ein Taschentuch vor den Mund. Ab und zu ließ sie es mit zittrigen Händen fallen, und es war voller Blut.
Dann war sie weg vom Fenster.
Meine Mama sagte, da wo sie jetzt hingekommen sei, sei sie endlich mit ihrem Mann zusammen, und wir sollten uns für sie freuen.
Wir waren aber doch eher geknickt, jetzt so ganz ohne Fuchs und Klümpchen nach dem Spiel.

Ein neuer Nachbar zog ein, und der rief immer, wir sollten uns was schämen. Er sprach von Gräuel und Stalingrad und den Juden und anderen Dingen.
Wir standen alle stramm, ließen uns die Leviten lesen, und wussten nicht, worum es ging.
„Es ist doch nur ein Spiel“, sagte ich manchmal zaghaft.
Da wurde er noch zorniger, und ich hielt die Klappe.

Meine Mama erklärte, es sei wohl besser, damit aufzuhören. Schließlich kämen wir alle im Sommer in die Schule, und im Grunde sei es wohl besser wenn ich in einen Fußballverein ginge.

Ein neuer Nachbar zog ein, und der rief immer, wir sollten uns was schämen. Er sprach von Gräuel und Stalingrad und den Juden und anderen Dingen.
Wir standen alle stramm, ließen uns die Leviten lesen, und wussten nicht, worum es ging.
„Es ist doch nur ein Spiel“, sagte ich manchmal zaghaft.
Da wurde er noch zorniger, und ich hielt die Klappe.

Meine Mama erklärte, es sei wohl besser, damit aufzuhören. Schließlich kämen wir alle im Sommer in die Schule, und im Grunde sei es wohl besser wenn ich in einen Fußballverein ginge.
 



 
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