Das Jahr ist keine Woche alt und schon ist der erste Vorsatz dahin. Warum komme ich nicht endlich zur Vernunft? Ich hatte mir fest geschworen, es nicht wieder zu tun. Nein, ich meine nicht den Streit mit Thomas. Sicher, weniger streiten, auch das war einer meiner Vorsätze. Dieses ewige Zanken mit meinem Lebensgefährten ist schließlich anstrengend. Ständig verhaken wir uns und am Ende der Diskussion weiß ich gar nicht mehr, worum es am Anfang eigentlich ging. Zwar gebe ich zu, dass ich es diesmal war, die Mist gebaut hatte - wiedermal wird man fairerweise ergänzen müssen -, aber unschuldig ist auch er meistens nicht. Ständig sein Fußball, Handball, irgendwas. Und den ganzen Neujahrstag lief gefühlte zwanzig Stunden der Fernseher mit Wintersport. Aber darum ging es in diesem Streit gar nicht. Irgendwie habe ich mich ohnehin schon daran gewöhnt – sowohl an seinen Sportwahn als auch an die sich wiederholenden Streits. Schlimm, wenn man das sagen muss, denke ich manchmal. Vielleicht eskalierte der Streit gerade deswegen, obwohl ich doch wusste, dass ich mein Versprechen gebrochen hatte.
Dennoch fand ich es viel schlimmer, meine kleine Maus zurückzulassen, nur weil ich es wieder mal so weit habe kommen lassen. Unsere Emma ist erst vier Jahre alt und hängt sehr an mir. So auch an diesem Samstag Vormittag.
„Nein, Maus, du musst hier bleiben! Es geht nicht. Geh bitte zu Papa!“
Emma stand in der Tür und sah mich so flehentlich an, wie ich mit meinen beiden großen Taschen die Wohnung verließ, dass mir fast das Herz zerbrach. Sie ist ja noch ein kleines Kind - sie kann es noch nicht verstehen. Wobei es nicht nur mit ihrem Alter zu tun hat. Was ich tue, ist einfach unvernünftig. Mittlerweile kann ich es mir selbst nicht mehr erklären. Wie sollte es also meine Maus begreifen? Mir graut davor, dass sie mich später, wenn sie älter ist, vielleicht einmal darauf ansprechen wird. Schließlich habe ich es ja schon öfters getan, obwohl ich ja nicht nur eine Verantwortung für sie, sondern auch für die Umwelt habe, in der sie später leben muss. In zehn, zwanzig Jahren werden wir zurück schauen und ich hoffe, ich kann ihr dann sagen, dass es nur eine Phase war und ich mich danach gebessert habe. Schließlich bin ich kein rücksichtsloser, kein egoistischer Mensch. Mein größter Fehler ist wohl, dass ich mich nur schwer entscheiden kann. In diesem Punkt verstehe ich Thomas, wenn er sich deswegen beschwert. Zwar habe ich es ihm gegenüber noch nie zugegeben, obwohl oder gerade weil ich weiß, dass er mit seinem Gemäkel recht hat. Klar, könnte er seine Kritik charmanter formulieren. Dennoch, es stimmt! Ich kann mich einfach nicht entscheiden! Daher hatte ich mich selbst in diese Lage gebracht. Und deswegen musste ich auch Emma zurücklassen, die sich noch an mein Bein klammerte, als ich meinen Fuß bereits auf der ersten Treppenstufe hatte.
Bei einem normalen Abschied besteht unser Ritual darin, dass ich mich – wir wohnen in der vierten Etage - nach dem ersten Treppenabsatz noch einmal herumdrehe und ihr winke. Wenn ich dann in der dritten Etage bin, rufe ich: „Ich bin in der Dritten!“ Entsprechendes mache ich in der zweiten und der ersten Etage. Ganz unten rufe ich noch einmal „Tschüss“ und „Küsschen“ und klingle noch einmal bei uns als Abschiedssignal. Auch auf dieses Ritual musste ich, besser gesagt, musste sie heute verzichten – schon wegen meiner großen Taschen, auch wenn sie nicht so schwer waren, und überhaupt wegen dem ganzen Dilemma.
„Lass mich jetzt los, Emma!“
Meine Stimme wurde autoritär und ich schämte mich dafür. Denn Emma hatte ja nichts falsch gemacht. Wenn Thomas mir nur geholfen hätte – er hätte sie auf den Arm nehmen können. Aber wegen unserer blöden Auseinandersetzung ließ er mich allein, saß drinnen und las Zeitung. Wenn ich weg bin, wird er sich um sie kümmern, war ich mir sicher. Er ist ein liebevoller Vater und Emma liebt ihn. Doch die Erklärung dieser Umstände, dieser Hast und der blanken Nerven, überließ er mir allein. Und Emma spürte nur den Verlust, weil ich sie zurücklassen musste.
Endlich ließ sie von mir ab und ich polterte, so gut es eben ging, mit eiligen Schritten die Treppe hinab. Von oben hörte noch ich ein langsam leiser werdendes Schluchzen mit klagenvollen Mama-Rufen. Endlich war ich auf der Straße.
Zum Glück wohnen wir recht Zentrumsnah, so dass der Weg nicht so weit war. Schon wegen meines schlechten Gewissens nahm ich trotz der beiden Taschen das Fahrrad – quasi als Ausgleich und um ein paar Abkürzungen nehmen zu können. Und – ehrlicherweise – konnte ich so auch ein paar rote Ampeln missachten. Es fühlte sich an, als wenn es auf ein paar Regelverstöße mehr oder weniger nicht mehr ankäme.
Mit Schweißperlen auf der Stirn stürmte ich in den Laden, so dass die Frau – ich vermute, dass sie die Inhaberin ist, da sie eigentlich immer hier ist, wenn ich komme – sich etwas erschreckt umdrehte. Als sie mich erkannte, grüßte sie freundlich und wollte sich schon wieder etwas anderem zuwenden. Sie schien tatsächlich meine Notlage überhaupt nicht zu verstehen!
„Und? War er schon da?“ platzte es etwas zu laut und etwas zu ungeduldig aus mir heraus.
Blankes Unverständnis schlug mir entgegen.
„Wer?“ fragte sie mit einer betonten Freundlichkeit, die mir signalisierte, dass ich mich nicht korrekt verhielt.
Ja, auch sie hatte recht! Eine weitere Verfehlung von mir. Es muss wirklich eine Ende haben, dachte ich zeitgleich mit dem Gefühl, dass sich die Welt gegen mich verschworen habe.
„Verstehen Sie doch! Wenn er schon da war … Wenn er schon wieder weg ist … Es geht hier um viel! Das kann ich mir nicht leisten!“
Während ich auf sie einredete, hob ich mit zittrigen Arme meine beiden großen Taschen. Zögerlich trat sie auf mich zu. Versteht sie mich wirklich nicht? Will sie mir nicht antworten? Oder traut sie sich vielleicht nicht, mir die Wahrheit zu sagen, weil er schon weg ist? Wie ein Blitz durchzuckte es mich. Eine Panikattacke verbreitete eine Überdosis Adrenalin in meinem Körper. Während mir allerlei schwarze Gedanken durch den Kopf jagten, lugte die Frau vorsichtig in meine Taschen. Nun endlich begriff sie, da sie meine großen Pakete sah.
„Ach, Sie meinen den Paketmann! Wollen Sie mal wieder etwas zurückschicken? Vor Weihnachten zu viel im Internet geshoppt, wie? Hatten Sie nicht schon beim letzten Mal gesagt, es sei das letzte Mal?“
Auch wenn ich ihre ironische Belehrung als unpassend empfand – der Paketshop war schließlich Teil ihres Geschäfts -, musste ich mich geschlagen geben.
„Wir … wir wollten doch … zu dieser … zu dieser Silvestergala“, entschuldigte ich mich stotternd. „Fünf Abendkleider habe ich bestellt. Fünf!“ wiederholte ich und schüttelte den Kopf über meine eigene Unvernunft. „Ich kann mich immer so schlecht entscheiden … Heute ist der letzte Rücksendetermin! Sonst wird es teuer!“
Die Frau sah mich ausdruckslos an. Bei ihr hätte ich mich ja nicht entschuldigen müssen. Bei ihr nicht. Daher fiel es mir so leicht, vermute ich.
„Und?“ schob ich ungeduldig hinterher.
„Was? Ach so – nein, der Paketmann war noch nicht da. Dann zeigen sie mal her …“
Der plötzliche Druckabfall, der riesengroße Stein der mir vom Herzen fiel, führte zu einer Beinahe-Ohnmacht. Jedenfalls bekam ich weiche Knie, musste mich kurz setzen und mir von der Frau ein Wasser bringen lassen.
„Und wissen Sie was?“ setzte ich dennoch meine Abbitte fort, nachdem ich mich etwas erholt hatte. „Letztlich sind wir gar nicht zu der Gala gegangen, weil unsere Emma etwas krank war und nicht zu den Großeltern wollte.“ Ich holte tief Luft. „Und ich sage Ihnen – jetzt ist endgültig Schluss mit dieser blöden Pakete-hin-und-her-Schickerei!“
Sie lächelte milde und nahm meine Pakete entgegen.
„Das haben Sie …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ich sie kraftlos. „Bitte entschuldigen Sie! Es war heute Morgen schon etwas viel für mich.“
Mit größter Sorgfalt verstaute ich die Rückgabe-Quittungen in meinem Portemonnaie. Als mir beim Blick auf diese Zettelchen ihr Wert bewusst wurde, donnerte erneut Unverständnis über mich in mir.
„Warum sind Sie eigentlich nicht früher … ?“ tadelte mich die Frau mit so wohlwollendem Blick, dass ich sie gewähren ließ.
„Ich weiß ja auch nicht ...“ seufzte ich. „Übrigens, geben Sie mir bitte auch noch eine Tüte Gummibärchen und ein Sportmagazin. Zu Hause habe ich auch noch etwas gut zu machen … !“
Dennoch fand ich es viel schlimmer, meine kleine Maus zurückzulassen, nur weil ich es wieder mal so weit habe kommen lassen. Unsere Emma ist erst vier Jahre alt und hängt sehr an mir. So auch an diesem Samstag Vormittag.
„Nein, Maus, du musst hier bleiben! Es geht nicht. Geh bitte zu Papa!“
Emma stand in der Tür und sah mich so flehentlich an, wie ich mit meinen beiden großen Taschen die Wohnung verließ, dass mir fast das Herz zerbrach. Sie ist ja noch ein kleines Kind - sie kann es noch nicht verstehen. Wobei es nicht nur mit ihrem Alter zu tun hat. Was ich tue, ist einfach unvernünftig. Mittlerweile kann ich es mir selbst nicht mehr erklären. Wie sollte es also meine Maus begreifen? Mir graut davor, dass sie mich später, wenn sie älter ist, vielleicht einmal darauf ansprechen wird. Schließlich habe ich es ja schon öfters getan, obwohl ich ja nicht nur eine Verantwortung für sie, sondern auch für die Umwelt habe, in der sie später leben muss. In zehn, zwanzig Jahren werden wir zurück schauen und ich hoffe, ich kann ihr dann sagen, dass es nur eine Phase war und ich mich danach gebessert habe. Schließlich bin ich kein rücksichtsloser, kein egoistischer Mensch. Mein größter Fehler ist wohl, dass ich mich nur schwer entscheiden kann. In diesem Punkt verstehe ich Thomas, wenn er sich deswegen beschwert. Zwar habe ich es ihm gegenüber noch nie zugegeben, obwohl oder gerade weil ich weiß, dass er mit seinem Gemäkel recht hat. Klar, könnte er seine Kritik charmanter formulieren. Dennoch, es stimmt! Ich kann mich einfach nicht entscheiden! Daher hatte ich mich selbst in diese Lage gebracht. Und deswegen musste ich auch Emma zurücklassen, die sich noch an mein Bein klammerte, als ich meinen Fuß bereits auf der ersten Treppenstufe hatte.
Bei einem normalen Abschied besteht unser Ritual darin, dass ich mich – wir wohnen in der vierten Etage - nach dem ersten Treppenabsatz noch einmal herumdrehe und ihr winke. Wenn ich dann in der dritten Etage bin, rufe ich: „Ich bin in der Dritten!“ Entsprechendes mache ich in der zweiten und der ersten Etage. Ganz unten rufe ich noch einmal „Tschüss“ und „Küsschen“ und klingle noch einmal bei uns als Abschiedssignal. Auch auf dieses Ritual musste ich, besser gesagt, musste sie heute verzichten – schon wegen meiner großen Taschen, auch wenn sie nicht so schwer waren, und überhaupt wegen dem ganzen Dilemma.
„Lass mich jetzt los, Emma!“
Meine Stimme wurde autoritär und ich schämte mich dafür. Denn Emma hatte ja nichts falsch gemacht. Wenn Thomas mir nur geholfen hätte – er hätte sie auf den Arm nehmen können. Aber wegen unserer blöden Auseinandersetzung ließ er mich allein, saß drinnen und las Zeitung. Wenn ich weg bin, wird er sich um sie kümmern, war ich mir sicher. Er ist ein liebevoller Vater und Emma liebt ihn. Doch die Erklärung dieser Umstände, dieser Hast und der blanken Nerven, überließ er mir allein. Und Emma spürte nur den Verlust, weil ich sie zurücklassen musste.
Endlich ließ sie von mir ab und ich polterte, so gut es eben ging, mit eiligen Schritten die Treppe hinab. Von oben hörte noch ich ein langsam leiser werdendes Schluchzen mit klagenvollen Mama-Rufen. Endlich war ich auf der Straße.
Zum Glück wohnen wir recht Zentrumsnah, so dass der Weg nicht so weit war. Schon wegen meines schlechten Gewissens nahm ich trotz der beiden Taschen das Fahrrad – quasi als Ausgleich und um ein paar Abkürzungen nehmen zu können. Und – ehrlicherweise – konnte ich so auch ein paar rote Ampeln missachten. Es fühlte sich an, als wenn es auf ein paar Regelverstöße mehr oder weniger nicht mehr ankäme.
Mit Schweißperlen auf der Stirn stürmte ich in den Laden, so dass die Frau – ich vermute, dass sie die Inhaberin ist, da sie eigentlich immer hier ist, wenn ich komme – sich etwas erschreckt umdrehte. Als sie mich erkannte, grüßte sie freundlich und wollte sich schon wieder etwas anderem zuwenden. Sie schien tatsächlich meine Notlage überhaupt nicht zu verstehen!
„Und? War er schon da?“ platzte es etwas zu laut und etwas zu ungeduldig aus mir heraus.
Blankes Unverständnis schlug mir entgegen.
„Wer?“ fragte sie mit einer betonten Freundlichkeit, die mir signalisierte, dass ich mich nicht korrekt verhielt.
Ja, auch sie hatte recht! Eine weitere Verfehlung von mir. Es muss wirklich eine Ende haben, dachte ich zeitgleich mit dem Gefühl, dass sich die Welt gegen mich verschworen habe.
„Verstehen Sie doch! Wenn er schon da war … Wenn er schon wieder weg ist … Es geht hier um viel! Das kann ich mir nicht leisten!“
Während ich auf sie einredete, hob ich mit zittrigen Arme meine beiden großen Taschen. Zögerlich trat sie auf mich zu. Versteht sie mich wirklich nicht? Will sie mir nicht antworten? Oder traut sie sich vielleicht nicht, mir die Wahrheit zu sagen, weil er schon weg ist? Wie ein Blitz durchzuckte es mich. Eine Panikattacke verbreitete eine Überdosis Adrenalin in meinem Körper. Während mir allerlei schwarze Gedanken durch den Kopf jagten, lugte die Frau vorsichtig in meine Taschen. Nun endlich begriff sie, da sie meine großen Pakete sah.
„Ach, Sie meinen den Paketmann! Wollen Sie mal wieder etwas zurückschicken? Vor Weihnachten zu viel im Internet geshoppt, wie? Hatten Sie nicht schon beim letzten Mal gesagt, es sei das letzte Mal?“
Auch wenn ich ihre ironische Belehrung als unpassend empfand – der Paketshop war schließlich Teil ihres Geschäfts -, musste ich mich geschlagen geben.
„Wir … wir wollten doch … zu dieser … zu dieser Silvestergala“, entschuldigte ich mich stotternd. „Fünf Abendkleider habe ich bestellt. Fünf!“ wiederholte ich und schüttelte den Kopf über meine eigene Unvernunft. „Ich kann mich immer so schlecht entscheiden … Heute ist der letzte Rücksendetermin! Sonst wird es teuer!“
Die Frau sah mich ausdruckslos an. Bei ihr hätte ich mich ja nicht entschuldigen müssen. Bei ihr nicht. Daher fiel es mir so leicht, vermute ich.
„Und?“ schob ich ungeduldig hinterher.
„Was? Ach so – nein, der Paketmann war noch nicht da. Dann zeigen sie mal her …“
Der plötzliche Druckabfall, der riesengroße Stein der mir vom Herzen fiel, führte zu einer Beinahe-Ohnmacht. Jedenfalls bekam ich weiche Knie, musste mich kurz setzen und mir von der Frau ein Wasser bringen lassen.
„Und wissen Sie was?“ setzte ich dennoch meine Abbitte fort, nachdem ich mich etwas erholt hatte. „Letztlich sind wir gar nicht zu der Gala gegangen, weil unsere Emma etwas krank war und nicht zu den Großeltern wollte.“ Ich holte tief Luft. „Und ich sage Ihnen – jetzt ist endgültig Schluss mit dieser blöden Pakete-hin-und-her-Schickerei!“
Sie lächelte milde und nahm meine Pakete entgegen.
„Das haben Sie …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ich sie kraftlos. „Bitte entschuldigen Sie! Es war heute Morgen schon etwas viel für mich.“
Mit größter Sorgfalt verstaute ich die Rückgabe-Quittungen in meinem Portemonnaie. Als mir beim Blick auf diese Zettelchen ihr Wert bewusst wurde, donnerte erneut Unverständnis über mich in mir.
„Warum sind Sie eigentlich nicht früher … ?“ tadelte mich die Frau mit so wohlwollendem Blick, dass ich sie gewähren ließ.
„Ich weiß ja auch nicht ...“ seufzte ich. „Übrigens, geben Sie mir bitte auch noch eine Tüte Gummibärchen und ein Sportmagazin. Zu Hause habe ich auch noch etwas gut zu machen … !“