erdstern

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Tula

Mitglied
Hallo nochmal

Eben. Hab's ja auch provozierend eingeworfen. Es gibt wohl beide Extreme. Wenn Inhalt über die Kunst geht, ist es keine Kunst mehr. Keine Frage. Ich lese aber auch gern zeitgenössische Lyriker und frage mich zumindest bei einigen, ob es überhaupt noch um etwas anderes als den sprachlich verzierten Bauchnabel geht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das ein 'Merkmal' zeitgenössischer Lyrik ist. Das Verpönen der Themen an sich. Ein gewisses "No, please, we are poets"

LG
Tula
 

Monochrom

Mitglied
Hi,

nochmal eine Rückmeldung, die uns vom kleinen Exkurs zurück zum Text führt...

Ralf hat da auf eine Tür gewiesen.. Lyrik muss nicht richten, sie soll berühren, oder besser noch, rühren, was ja ein Unterschied ist.

Ich stelle fest, dass mir, gemäß Tulas Wunsch, die Großschreibung der Bewusstseinsbegriffe nicht zusagt. War auf jeden Fall einen Versuch wert, aber es zerstört auf der anderen Seite die Form dahin gehend, dass Groß- und Kleinschreibung bei diesem Text eine Bedeutung haben, die so verfälscht wird.
Ist aber marginal, weil das anscheinend nicht lesbar ist.

Trotzdem sagt es mir nicht zu.

Deshalb die Überlegung, ob die Sprünge in den Bildern, für den Autoren natürlich immer (hoffentlich) klar, zu heftig sind, um den Faden beim Lesen zu erfassen und nachzuspüren, also sich rühren zu lassen...

Grüße,
Monochrom
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Moin Monochrom,

Deshalb die Überlegung, ob die Sprünge in den Bildern, für den Autoren natürlich immer (hoffentlich) klar, zu heftig sind, um den Faden beim Lesen zu erfassen und nachzuspüren, also sich rühren zu lassen …
Für mich passt das so. Einzig der falsche Apostroph stört mich :D

cu
lap
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hi monochrom

Das sagt mir der Text:


Die erste Zeile sagt nichts anderes, als das die Moral für die Lust (oder Liebe) ausgeschaltet wird.

Die Triebe gewinnen die ÜBERhand ÜBER's ÜBER Ich.

Die zweite Strophe lässt dann das Glück zu, der Himmel spendet seinen Segen.

Die dritte Strophe geht dann wohl auf die Abkehr der familiären, gesellschaftlichen und weltlichen Zwangs-korsette ein, die die Moral, das Gewissen, das Über ich domestiziert haben.

Die vierte Strophe ist die schwierigste.
Zahlen lösen bei mir das Gefühl von Strenge aus.
(Strenge Erziehung).
Malen (nach Zahlen) dem Folgen eben jener Erziehung.

"Ich wünschte sie wären dein" drückt dann die Ambivalenz aus, die Auftreten kann wenn zwei Menschen in Liebe zusammenkommen - trotz unterschiedlicher Prägungen. Hätte sie Teil an dem Zwangsapparat, wäre sie aufgenommen und auch für das eigene Über-Ich als geeignet erwählt.

Kurzum: ein Text der das Schwanken zwischen Moral, Trieb und Partnersuche behandelt. (Mit leichter Ödipus Unternote... auf die einzugehen, aber kaum möglich ist weil sie nicht ausgearbeitet ist und bloß unterstreichend mitschwingt.

L.G
Patrick
 

Monochrom

Mitglied
Hallo... das ist unglaublich eloquent interpretiert.

Ich hatte beim schreiben eine völlig andere Vorstellung... aber deine Eindrücke sind teilweise gut in den Text hinein denkbar.

Cool.
Monochrom
 

Monochrom

Mitglied
Hallo Patrick,

denk mal im Fokus innen - außen...

Weiter oben hatte ich geschrieben dass dies ein Kern meiner Gedanken zu dem Text darstellt.

Was passiert innen? Wenn es außen ist...

Und beschreibt ein innen die Reflektionen des aussen oder den Prozess der Kongruenz?

Was war zuerst da? Das Ei, oder die Henne?

Grüsse
Monochrom
 

ENachtigall

Mitglied
Liebe/r Verfasser des Gedichts, Leser und Kommentierende,

es ist mir tatsächlich inzwischen gelungen, diesem doch etwas mysteriösen Gedicht auf den Grund zu gehen, mit Hilfe eigener Schlussfolgerungen, Ohrwürmern, die mir intuitiv zuflogen, und einiger Recherche.
Weiteres in Kürze, weil's länger dauert, das zusammenzufassen. Ich freu mich drauf!

Grüße von Elke
 

Monochrom

Mitglied
Hey Nachtigall,

sehr gerne. Ich glaube jedoch, dass der Text in der Mache zu sehr in die Hermetik geht...

Aber ich bin gespannt und schreibe Dir gerne was zu Deiner Interpretation.

Grüße,
Mono
 

Monochrom

Mitglied
Hi E.N.,

Dein Kommentar tendiert für mich in der Interpretation stark zu 5/5 Sternen.

Bin gespannt und sehr froh, dass dieser Ansatz die unbeabsichtigte Hermetik unterwandert.

Gruß,
Monochrom
 

wirena

Mitglied
…eigentlich an liebsten ohne Buchstaben und Worte… aber eben, das geht ja nicht im Hier und Jetzt….

Wunderschön Monochrom – herzlichen Dank

Anmerkung: bin ja auch gespannt was kommt – aber bitte keine „Doktorarbeit“
– gemäss Einstein, 2 Zitate, die ich gefunden habe:

„Es gibt nur zwei Arten zu leben. Entweder so als wäre nichts ein Wunder oder so als wäre alles ein Wunder.
Albert Einstein

Es gibt nichts Schöneres als das Mysteriöse. Aus ihm entspringt alle wahre Kunst und Wissenschaft.
Albert Einstein“


Nachtrag zum vorgängigen Diskurs:
Nachfragen wenn Erklärungsbedarf da ist, ist sicher gut, richtig und unter Umständen auch notwendig, und auch für den Verfasser ein hilfreicher, notwendiger Prozess (soeben selbst erfahren/erlebt mit „Lyr Transformation) – doch alles muss, darf nicht seziert werden – das Leben ist unter dem Mikroskop nicht auffindbar - paradoxon – tote Materie soll das ganze Leben, oder einen ganzen Organismus erklären…. und in kosmischen Urknallbilder wollen wir das Leben finden….

Obwohl, auch die sind wunderschön...

Lg wirena
 

Monochrom

Mitglied
Hi Nachtigall,

kurze Anmerkung:

Muss ein Ich, wenn seine Perspektive invertiert wird, noch zählen?

In welchen kulturellen Zivilisationsschritten ist das Zählen bedingt...?

;)

Grüße,
Monochrom
 

Monochrom

Mitglied
Letzten Endes ist "Erdstern" eine diametrale Wortschöpfung, sowohl im metaphysischen, als auch metaphorischen Sinne.

Wie Du schon bemerkt hast, gibt es ein lyrI, im Prozess einer Negotation der Existenz des Äußeren, im Rückzug auf ein nihilistisches Innenleben.

Ein Erdstern.

Welche Sublimation mein Motor ist, mögen andere bestimmt gerne ausführen...:)

Ich bleibe des weiteren auf der Lauer...

Grüße,
Monochrom
 

revilo

Mitglied
Hallo Mono ... du erste Strophe erinnert mich an Pädagogik- Leistungskurs...das klingt definitiv zu gewollt ... Außerdem ist mir das Teil zu erklärend, fast schon zu belehrend ..... LG revilo
 

ENachtigall

Mitglied
Ich verstehe das Gedicht so, dass es um das Wesen der Psyche an sich geht; ihre Fähigkeit, sich zu entwickeln und hineinzuwirken in eine weniger Angst besetzte, gestaltbar sich verändernde Welt, an der sie teilhat.
Mit stilistisch schlichten Mitteln und einem formal relativ spartanisch eingerichteten Spielraum von Worten lädt der Autor den Leser ein, Gebiete, Methoden, Geschichten rund um Projektion und Introspektion kreativ-analytisch-intuitiv aufzugreifen, nachzuvollziehen, sich anzueignen.
Ob die entdeckten cineastischen Bezüge vom Autoren gelegte Spuren sind oder meiner eigenen Phantasterei entspringen?
Wer weiss ... Vielleicht ist das gar nicht wichtig.


Zunächst wird in Strophe 1 das Freudsche Strukturmodell der Psyche themengebend präsentiert.

Dabei wirkt die nachträglich zugefügte Großschreibung auch m.E. irritierend.
Als Stilmittel spielt sie ja bereits im weiteren Verlauf des Poems eine Rolle in - Wolken und Zahlen -

Die Präsentation offenbart ihre Botschaft:

ES wird durchgesetzt
mein ICH wird
über ÜBER-ICH
____________________________________

es wird durchgesetzt
mein ich wird
über über-ich



In der konsequenten Kleinschreibung klingt "es" stark - nach Verkündung einer surrealen Beförderung/Transformation

es steht im grammatischen Kontext als Neutrum/Objekt eines artikulierten Tatbestands in der Tonart der direkten Anordnung - natürlich im Passiv.

mein ich (auch im grammatischen Passiv)
Aha und aufgepasst! Wer spricht hier? Die personifizierte Psyche selbst? Es scheint also "ich" als Teil des Instanzenmodells und "ich" als Akteurin im Gedicht mitzuwirken.

über über-ich
An dieser Stelle baut mein fiktives Leserinnenauge immer irgendwie eine zweite Bindestrichbrücke - zwischen "über" und "über" zum "ich".
Sonst macht es inhaltlich und grammatisch für mich keinen Sinn, das doppelte "über". Als Quantensprung verstehe ich es allerdings.
_____________________________________________________________________________________________
Frage: Welche kapitale Bedeutung ist den Wolken und Zahlen im Kontext des Gedichtes und seinen interpretatorischen Spielräumen gemein, um die schriftbildliche Hervorherbung zu rechtfertigen?

Danach muss ich suchen, um das Gedicht zu verstehen.

in den Wolken
ein gelingen


Redensart
Die Zukunft liegt in den Wolken / steht in den Sternen
Korrespondiert mit dem Tempus der vorangegangenen und der folgenden Strophe.

nicht mehr hier sein
ich kehre nicht zurück
längst fängt mich nur noch glück
An dieser Stelle öffnet das Gedicht in meiner Wahrnehmung ein Fenster. Und herein oder heraus schwebt der song "space oddity" getragen von der Stimme David Bowies (mir sehr ans Herz gewachsen in den ganz frühen 70ern), ihm auf den Fersen: David Bowman (aus Stanley Kubricks) 2001 Space Odyssey (mitsamt seinen 3 Alter Egos) - die ich alle bislang gar nicht kannte - und last but not least mir ebenso wenig vertraut: Arthur C. Clarke himself auf einer Wolke der 9 Milliarden Namen von Gott. Oder so ähnlich.


Fortsetzung folgt / to be continued:


Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch die in der griechischen wie römischen Mythologie erzählte "Odyssee" von Psyche (und Amor/Eros), die auf eine Erzählung im "Golden Esel" von Apuleius zurückführt, durchaus in den Interpretationsspielraum dieser Strophe passt. Nachdem sie - sowohl aktiv als auch passiv - das Glück gefangen hat, reicht ihr Jupiter den Becher Ambrosia, wodurch sie in den Kreis der Götter aufgenommen, Unsterblichkeit erlangt.

Mich fasziniert allerdings die Kubrick/Clarksche Variante deutlich stärker, zumal mit der vollzogenen Mondlandung in 1969 die zugrunde liegende Erzählung Clarkes aus 1948 "The Sentinel of Eternity" deutlich "prophetisches" Potential offenbart. Bekanntermaßen jährte sich der Tag der Mondlandung quasi zeitgleich mit Veröffentlichung des Gedichtes - und dem Erscheinen von Space Oddity, dem Song von David Bowie, der die Bilder der Landung im Fernsehen musikalisch untermalte.

Mit diesem Fund tastete ich mich weiter vor zu Strophe drei, um die Verbindung zu den "Zahlen" im Gedicht zu begreifen:

endlich ohne Zahlen
ich möchte sie nicht malen
wünschte sie wär'n dein
Möglicherweise impliziert die Aussage "endlich ohne Zahlen" den Umkehrschluss: unendlich mit Zahlen. Was rückbezüglich auf den Kontext "Psyche" auf den Unsterblichkeitsaspekt hindeuten könnte. In meinem Interpretationsversuch ein weiterer Aha-Effekt! - (Letztlich ist der Begriff der Unendlichkeit durch die Mathematik für Otto Normal erst begreifbar)

Beim Versuch, den Anschluss zu "Malen nach Zahlen" zu finden, half mir erneut eine Assoziation mit musikalischem Bezug. "Drowning by numbers" geisterte durch meine Erinnerung. Eine Filmmusik auf Vinyl in meiner Sammlung von Michael Nyman.
Peter Greenaways Film - in der deutschen Fassung "Die Verschwörung der Frauen" - hatte und habe ich nicht gesehen. Erstaunlicherweise finden sich in den nachlesbaren Rezensionen beeindruckende Parallelen.
Der Wikipedia-Eintrag übersetzt den englischen Filmtitel tatsächlich mit "Malen nach Zahlen". Die drei weiblichen Hauptfiguren des Films tragen identisch den Namen Cissie Colpitts. Somit korrespondieren sie auf erstaunliche Weise mit den drei Alter Egos des Hautcharakters David Bowmans in der Schlussequenz von 2001 Odyssee im Weltraum von Kubrick und symbolisieren filmisch das von Freudsche Instanzenmodell der Psyche, welches eingangs im Gedicht chiffriert vorgestellt wird.
Beeindruckend auch das in Greenaways Film eingangs auftretende Seil springende Mädchen, das zu jedem ihrer hundert Sprünge jeweils den Namen eines Sterns aufzählt.
"Hundert sind genug", antwortet sie sinngemäß auf die Frage einer der drei Cissie Colpitts, die sie fragt, warum sie bei hundert Namen aufhört.
Ich will hier nicht weiter ins Detail gehen. Es sei nur noch gesagt, dass Introspektion und Projektion durch den filmischen Bezug sehr prägnant erscheinen.
Die drei Herren Bowie, Kubrick (inklusive Bowman als Held in 2001) sowie Clarke als maßgeblichen Ideengeber und Vater der Sifi-Literatur kann man ohne rot zu werden als "Stars" im zeitgenössischen Sprachgebrauch bezeichnen. (Greenaway nicht minder.)

Mit Rückbezug auf das Gedicht komme ich zu dem Schluss, dass der Autor hier ein poetisches Experiment vorgenommen hat, ein Werk vorzulegen, in dem er die Begriffe "Psyche" und "Unendlichkeit/Unsterblichkeit/Ewigkeit" bewusst vermieden hat.
Tatsächlich sind sie vor allem in der Dichtung durch "Abnutzung" und "Schwammigkeit" berüchtigt und gewissermaßen tabuisiert. (Was ihre Faszination jedoch keineswegs schmälert.)
Die sonderbar anmutenden Umschreibungen lassen die Sprache dementsprechend tendenziell hölzern klingen. - Was den Reiz des Gedichtes jedoch nicht schmälert.

Es wird ihm daran gelegen haben, zu erfahren, ob die Textbotschaft dennoch herauszulesen ist. So verstehe ich auch den letzten Satz als Wunsch nach Verständnis. Ist doch das Poem seinem Wesen nach - trotz aller Dichte - immer noch ein Stück erzähltes Leben; selbst in der Fiktion.
Wer bis hierher meinen weitschweifigen Ausführungen gefolgt ist, wird mir zustimmen, dass in "Erzählung" die "Zahl" deutlich vorhanden ist.

Danke für eure Geduld!

P.S. Eine Wolke ist der Geburtsort der Sterne :) und wer dem Glück nicht nachjagt, lässt sich davon fangen.


Grüße von Elke
 

Monochrom

Mitglied
Hallo E.N.,

das ist eine dermaßen gut durchdachte und ausgefeilte Rezension.

Viel besser als das Gedicht, meiner Meinung nach.

Du hast viele Gedanken, die mich beim Schreiben begleiteten und streiften, aufgegriffen.

Ich hatte überdies auch andere Beweggründe bei diesem Text, aber das soll alle bisher erfolgten Reflektionen nicht schmälern.

Dennoch denke ich, dass die Verse hinter dem Thema zurück bleiben.

Die Hermetik, die den Bildwechsel bestimmt, macht das Nachvollziehen zu umständlich.

Dieses Gedicht ist jetzt nicht total miserabel, aber wenn ich es jetzt schreiben würde, würde es ganz anders werden.

Grüße,
Monochrom
 



 
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