Erster Nutznießer

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Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer


26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor spazieren? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes Übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz, der immer so leer wirkt und mir jetzt noch unüberschaubarer vorkommt. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen. Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charitè.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden. Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein! Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee. Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren dürfte. Ich erfahre, dass er keine Auskunft gibt. Dann darf ich mich unter Aufsicht waschen gehen.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Kilometerlange dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was? Alkohol. Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten. Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug? Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er?
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht. Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war scheinbar richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Ich brauche das nicht, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau plausibel zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.


PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

ENachtigall

Mitglied
Grandios! Mir fehlen die Worte.

Vielleicht können wir ja eine eigene Prosa-Antho zum Thema veröffentlichen ...

Liebe Grüße,

Elke
 
H

Heidrun D.

Gast
Das ist wirklich super, Sta.Tor!

Besonders gefällt mir der Wechsel von der erzählenden hin zur verkürzten, verhör-angepassten Sprache.

Vielleicht gibt es eine Möglichkeit der Veröffentlichung? Es wäre wirklich zu schade, wenn nun ausgerechnet dieser Text an ein paar Wörtern "zuviel" scheitern würde ...

Applaudierende Grüße
Heidrun
 

Walther

Mitglied
Ja. Sta.Tor,

das ist ein klasse Text. Gerne gelesen und nicht geschmunzelt. Oder doch? Retrograd kann man das. Wenn man den Arsch in der Hose des Protagonisten in der beschriebene Lage hat, wohl nicht.

Gruß W.
 
S

suzah

Gast
hallo sta.tor,

diese geschichte ist sehr gut, leider eben auch zu lang für die geforderten 250 worte.

deshalb ist die idee von e.nachtigal, eigene Prosa-Antho zum Thema herauszubringen, ausgezeichnet.

liebe grüße suzah
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor spazieren? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes Übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz, der immer so leer wirkt und mir jetzt noch unüberschaubarer vorkommt. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charitè.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein! Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee. Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Kilometerlange dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was? Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er?
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Hallo,

vielen Dank für Eure positiven Kommentare. Ich habe den Text trotzdem noch einmal leicht überarbeitet.

Wie schon gesagt, wäre auch ich an einer entsprechenden Anthologie sehr interessiert.

Viele Grüße

Sta.tor
 

schreibhexe

Mitglied
Hallo,

das ist ein hervorragender Text. Besonders stark fand ich den Satz

"Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus."

Dicht und treffsicher. Mein erster Eindruck: Blitzartig erleuchtete Szenen im Nebel eines halbwachen Bewusstseins. Am andern Morgen Beklemmung und Erlösung.

Mit literarischen Grüßen

Schreibhexe
 

Sta.tor

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Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz, der immer so leer wirkt und mir jetzt noch unüberschaubarer vorkommt. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charitè.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein! Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee. Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Kilometerlange dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was? Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er?
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charitè.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein! Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee. Grinst und verschwindet. Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Kilometerlange dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was? Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er?
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

Sta.tor

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Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charitè.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein! Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Kilometerlange dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was? Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er?
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charitè.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein, kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein!
Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Endlose dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was?
Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er.
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

domino

Mitglied
Hallo, Sta.tor,

man erlebt die Aufbruchstimmung mit: Satzfragmente, aneinandergereihte Nomen sorgen für die passende Unruhe.

Und dann der erleichternde Schluss!

Liebe Grüße
domino
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Hallo domino,

dann gehe ich mal davon aus, dass Dich die Geschichte angesprochen hat. Dafür vielen Dank. Auch allen anderen Wohlmeinenden.

Viele Grüße
Sta.tor
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charité.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein, kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein!
Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Endlose dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was?
Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er.
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Hallo Chrisch,

die Charité ging Dir gegen den Strich? Was Dir auch alles auffällt. ;)
Ich habs verbessert.
Die blonden Haare lösen sich im Nichts auf, entschwinden aus dem Wahrnehmungskanal.

Vielen Dank für Deine Anerkennung.

Viele Grüße
Sta.tor
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charité.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein, kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein!
Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Endlose dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig Auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was?
Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er.
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 



 
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