Erster Nutznießer

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Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes Übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir, grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen, Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charité.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein, kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein!
Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Endlose dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig Auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was?
Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er.
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

Sta.tor

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Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes Übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir. Grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen. Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander. Keine Gegenwehr, das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charité.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein, kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein!
Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Endlose dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig Auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was?
Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er.
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

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Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes Übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir. Grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen. Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander, keine Gegenwehr. Das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charité.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein, kein telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denk ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein!
Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren, eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit trocken Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Endlose dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig Auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was?
Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er.
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
(Thema: 20 Jahre Mauerfall)
 

Sta.tor

Foren-Redakteur
Erster Nutznießer

26.10.89
Berlin Alexanderplatz. Bowlingabend mit meinen Arbeitskollegen. Kultur und Sport funktioniert noch im Kollektiv. Das Geschehen verlagert sich jedoch schon frühzeitig an den Biertisch. Hitzig wird die derzeitige Situation im Land diskutiert. Emotionen kochen hoch. Wut und Bier verbünden sich im Bauch und drehen dem Gehirn die Sicherungen heraus.
0:00 Uhr. Ausschankschluss. Jetzt nach hause gehen? Oder in den Westen? Richtig spektakulär? Direkt durchs Brandenburger Tor? Abwägung möglicher Gefahren nicht mehr möglich. Der Magen hat die Motorik übernommen.
Alleine Unter den Linden dem grünen Tor entgegen. Die Quadriga als Licht am Ende des Tunnelblicks. Ungelenkes Übersteigen der Straßensperre vor dem Pariser Platz. Sehr weit komme ich nicht. Rufe, Befehle, rennende Menschen vor mir, hinter mir. Grüne Uniformen, Felddienstuniformen, schmerzende Schultergelenke von nach hinten gedrehten Armen. Kalaschnikows, Pistolenhalfter, alles durcheinander, keine Gegenwehr. Das Unterbewusstsein bestätigt alte Vermutungen.
Hohenschönhausen, Bautzen? Gleichgültigkeit. Dreckschwein höre ich. Trotzdem keine Panik. Hab ich noch Zigaretten dabei? Meine Hauptsorge.
Mit Brachialgewalt wieder über die Straßensperre. Vorwärts nimmer… Hineingezwängt in einen der drei bereits bereit stehenden Funkwagen. Die Polizisten eher gelangweilt. Wo soll er hin? Blutprobe? Also Charité.
Lange, helle Krankenhausgänge. Hinsetzen! Nein, kein Telefonieren!
Eine Ärztin kommt. Richterlicher Beschluss zur Blutentnahme? Nein? Dann darf sie nicht.
Oh, denke ich, die sieht gut aus. Lange, blonde Haare verschwinden.
Wieder in den Funkwagen.
Ich werde wach gemacht. Vor der Frontscheibe ein riesiges, graues Tor, das sich langsam öffnet. Fahrt in einen kleinen Innenhof. Aussteigen, lange, graue Gänge, Treppen steigen. Dann ein Raum, sehr hell, völlig undekoriert. Nur Stühle. Ein paar junge Männer. Keine Frauen. Ey, haste Zigaretten dabei? Ich teile großzügig aus. Auch Feuer? Hab ich.
Zwei Polizisten räumen auf und nehmen mir die Schachtel weg. Ich soll mitkommen.
Ein Dienstzimmer, mehrere Zivilisten. Die Zigarette hat mich neu benebelt. Ich soll den Republikfluchtversuch zugeben. Ich will meine Frau anrufen. Nein! Ich werde bockig. Ohne Anrufen keine Aussage. Noch mal raus zum Überlegen. Ich will telefonieren. Nein!
Inhaftieren! Gürtel und Schnürsenkel abgeben!
Lange Gänge, dunkle Treppen, graue Stahltüren. Eine offen. Meine. Mir egal. Ich bin nur noch müde. Rein, rauf auf die Pritsche, den Donnerhall der ins Schloss fallenden Tür ignorierend. Nur schlafen. Irgendwo schreit noch einer erbärmlich.
Erwachen.
Mir geht’s dreckig. Die Stahltür geht auf. Ein Gefängnisaufseher kommt mit einem Frühstückswagen vorbei und überreicht mir ein Tablett mit Brot, Marmelade und einem Becher Tee.
Kommentarloses Verschwinden.
Ich kippe den Tee hinunter und klopfe an die Tür. Ein Wachmann öffnet und ich frage ihn, in welchem Gefängnis ich mich befinde und ob ich telefonieren darf. Ich erfahre, dass es keine Auskunft gibt.
Warten in der Zelle. Kopfschmerzen.
Endlich öffnet sich die Tür. Mitkommen!
Endlose dunkle Gänge. Treppen hoch und runter. Labyrinth des Grauens in grau.
Dann ein Büro. Auch dunkelgrau. Nur ein Tisch und zwei Stühle. An der Wand ein Kalender. Mein Gegenüber bietet mir an Platz zu nehmen. Ein hagerer Mann in grauem Anzug. Das einzig Auffällige an ihm ist sein glänzendes Parteiabzeichen am Revers.
Mein Name stimmt? Ja, stimmt. Meine Absicht, Republikflucht? Verlegendes Kopfwippen.
Nun, was?
Alkohol.
Bewertung der Sache an sich? Vorschlag, alles als groben Unfug zu betrachten.
Der Mann zieht den schmallippigen Mund in die Breite. Groben Unfug?
Hätte ich die Tat vollendet, wären die Sicherheitskräfte nicht eingeschritten, fragt er.
Von der Antwort hängt wahrscheinlich mein weiteres Schicksal ab.
Weiß nicht.
Die Frage wird wiederholt.
Ich will vorher telefonieren. Nein!
Ich denke an Frau und Sohn.
Die Frage wird noch mal wiederholt.
Ach, scheiß egal. Ja!
Der Mann grinst. Natürlich. Die Antwort war offensichtlich richtig.
Wie viele Jahre, frage ich mich. Kann ich jetzt wenigstens telefonieren?
Das ist nicht nötig, sagt er. Irritation.
Unsere Staats- und Parteiführung hat heute Nacht eine Amnestie für Republikflüchtlinge erlassen. Ich bin der erste Nutznießer. Ungläubiges Erstaunen.
Er gibt mir die Hand. Grinst und meint, meiner Frau glaubhaft zu machen, wo ich die Nacht verbrachte, wäre nun wohl mein größtes Problem.



PS: Die Geschichte sollte eigentlich in der aktuellen Schreibaufgabe erscheinen, ist dafür aber leider zu lang.
Aber vielleicht hat ja jemand eine kürzere Story anzubieten.
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