Es sind immer die Jungen

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Es sind immer die Jungen
von M. Siebenthal


Schlimme Sache. Na, es sind immer die Jungen, die halten eben nichts mehr aus. Mehr sagte der Unteroffizier, der mich zu dem Selbstmord meines Kameraden befragte, im Wesentlichen nicht dazu. Mit dem Sturmgewehr habe er sich in den Kopf geschossen, das berichte ich vor der Untersuchungskommission. Ich hätte nur den Schuss gehört, wäre gleich zur Stelle gewesen. Mir wäre die Monate davor nichts aufgefallen, von Depressionen hätte ich nichts gewusst, Andeutungen hätte ich keine bemerkt.
Zum hundertsten Mal greife ich in meine Schenkeltasche. Heraus nehme ich die Marke, und denke, eigentlich sieht sie genauso aus wie in den Filmen. Ein längliches, zweiteiliges Stück Metall, die Ecken abgerundet, aufgezogen auf einer Kette von kleinen Metallkugeln. Sollte man im Einsatz fallen, würden sie dir die eine Hälfte in der Mitte abbrechen, die andere Hälfte bliebe „am Mann“. So haben sie es uns erklärt, damals, in der Ausbildung, vor drei Jahren. Für mehr sei im Einsatz keine Zeit – das ginge ruck-zuck. Reduziertes Sterben, nach einem reduzierten Leben, denke ich und halte die Marke näher an mein Gesicht.
Obwohl sie federleicht ist, liegt sie nun schwer in meiner Handfläche, mit Zeigefinger und Daumen drehe ich sie hin und her. Die Dienstnummer, diese nackte Identität, und die Blutgruppe schimmern im trüben Licht der Kasernenunterkunft. Trägt man seine Marke um den Hals, ist die Stille nie vollkommen, man hört schon bei der kleinsten Bewegung ein leises Geräusch, wenn das Metallplättchen an die Kette schlägt, oder die Kette durch die Öse rattert, wenn man den Kopf dreht. Es ist ein Geräusch, durch das man niemals mehr alleine ist, es erscheint mir stets tröstlich. Diese Marke wird an keiner Kette mehr getragen. Diese Marke schweigt.
Wie jedes Mal liegt sie nicht lange auf meiner Hand - die dünne Scheibe wird schnell warm, mir graut davor, deshalb stecke ich sie wieder in meine Schenkeltasche ein. Als ich sie meinem Kamerad von der Brust zog, war sie noch warm gewesen. Zerbrochen habe ich sie, an Ort und Stelle. Damals, und auch heute, wenn ich mich daran zurückerinnere, geht mir ein und der selbe Gedanke durch den Kopf: Das ging ruck-zuck.
 

Dr Time

Mitglied
Ich muss gestehen, dass ich nicht viel davon weiß, wie ein Unteroffizier so drauf ist. Als Zivi habe ich von dem Verein keine Ahnung. Aber ich denke mal, dass diese Hartherzigkeit nicht die Regel ist. Deshalb beginnt deine Beschreibung für mich etwas unglaubwürdig.

Im ersten Abschnitt gehst du mit dem Konjunkiv so um, als ob der Erzähler von jemand ganz anderem berichtet, welcher der Untersuchungskommission von dem Suizid erzählt. Du schreibst:

von Depressionen hätte ich nichts gewusst, Andeutungen hätte ich keine bemerkt

Oder hat er vielleicht doch etwas von den Depressionen des Kameraden geahnt, aber nichts gesagt? Dann wäre es zwar die richtige Zeitform, aber seine Gewissensbisse wären zu kurz abgehandelt.

Wie gesagt - das fällt mir auf, aber (und jetzt kommt das Lob) danach finde ich den Text wirklich gelungen. Vielleicht noch ein Verbesserungsvorschlag. Mach doch nach...

"...Für mehr sei im Einsatz keine Zeit – das ginge ruck-zuck."
... einen Absatz, damit man das Statement des Ausbilders klarer von den Gedanken des Erzählers trennt. Denn der nächste Satz ist ja:
"Reduziertes Sterben, nach einem reduzierten Leben, denke ich und halte die Marke näher an mein Gesicht."

Insgesamt ist es eine traurige Momentaufnahme, die sehr zum Nachdenken anregt.

LG. Stephan
 
K

KaGeb

Gast
Liebe Margarete,

ein guter Text mit guter Aussage, den ich gern gelesen habe.

Ein paar Ideen dennoch:

Zum hundertsten Mal greife ich in meine Schenkeltasche. Heraus nehme ich die Marke, und denke, eigentlich sieht sie genauso aus wie in den Filmen.
[red]Vielleicht:[/red] [blue]Heraus nehme ich die Marke und denke: eigentlich sieht sie ...[/blue]

Ein längliches[strike],[/strike] zweiteiliges Stück Metall, die Ecken abgerundet, aufgezogen auf einer Kette [strike]von[/strike] [blue]aus[/blue] kleinen Metallkugeln.

Sollte man im Einsatz fallen, würden sie dir die eine Hälfte in der Mitte abbrechen, die andere Hälfte bliebe „am Mann"
[red]Das ist (für mich ein bisschen kompliziert formuliert. Vielleicht sowas wie:[/red]

[blue]Fällt man im Einsatz, brechen sie die Hälfte mittig ab, die andere bleibt am Mann. [/blue]

Reduziertes Sterben, nach einem reduzierten Leben, denke ich und halte die Marke näher an mein Gesicht.
[red]Diese Schreibse kann ich mir gedanklich nicht vorstellen. Sterben an sich reduziert ja, auf jeden Fall des Leben, somit wäre reduziert womöglich in beiden Verwendungen überflüssig. Vielleicht sowas wie: Ich halte die Marke näher vor mein Gesicht, sie, die das Leben endgültig macht, es entwertet wie die Lochzange eines Schaffners (oh Gott, jetzt spinn ich :) )[/red]


Obwohl sie federleicht ist, liegt sie [strike]nun[/strike] schwer in meiner Hand[strike]fläche, mit Zeigefinger und Daumen drehe ich sie hin und her.[/strike]


Die Dienstnummer, diese nackte Identität, und die Blutgruppe schimmern im trüben Licht der Kasernenunterkunft. Trägt man [strike]seine[/strike] [blue]die[/blue] Marke um den Hals, ist die Stille nie vollkommen, man hört [strike]schon[/strike] bei der kleinsten Bewegung ein leises Geräusch, wenn das Metallplättchen an die Kette schlägt, oder die Kette durch die Öse rattert, wenn man den Kopf dreht. Es ist ein Geräusch, durch das man niemals mehr allein[strike]e[/strike] ist, es erscheint mir stets tröstlich. Diese Marke wird an keiner Kette mehr getragen. Diese Marke schweigt.
Wie jedes Mal liegt sie nicht lange auf meiner Hand - die dünne Scheibe wird schnell warm, mir graut davor, deshalb stecke ich sie wieder in meine Schenkeltasche[strike] ein[/strike]. Als ich sie meinem Kamerad[blue]en[/blue] von der Brust zog, war sie noch warm gewesen. Zerbrochen habe ich sie, an Ort und Stelle. Damals, und auch heute, wenn ich mich daran zurückerinnere, geht mir ein und der selbe Gedanke durch den Kopf: Das ging ruck-zuck.

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Wer sich ändert bleibt sich treu.
 



 
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