H
HFleiss
Gast
Henner rief an. Eine Einladung Tamaras, zur morgigen Einschulungsfeier für Myrna. Christa
sagte zögernd zu. „Auch ein bisschen die Familienbande erneuern“, schob Henner nach. Christa ging nicht darauf ein.
Nachmittags lief sie durch die Geschäfte. Jeans wären das Richtige für das Kind, und ein Anorak und ein Pullover. Aber sie wusste die Kleidergröße der Enkelin nicht. Nachdem sie durch die ganze Einkaufspassage gelaufen war, entschied sie sich für eine Riesenpackung Filzstifte und ein paar Ausmalbücher. Die Enkelin malte gern, die Farben konnte sie jederzeit verwenden. Tamara würde scheel das Einschulungsgeschenk mustern, es machte nichts her, es war zuwenig repräsentativ, wie es sich für einen so wichtigen Anlass gehörte. Ein wenig sorgte sich Christa deshalb.
Sie lag mit der Schwiegertochter im Streit. Deshalb hatte sie sich beinahe ein halbes Jahr nicht um die Enkelin kümmern können. Auf einen Anruf hatte sie jeden Tag gehofft. Als sie sich das letzte Mal sahen, hatte Tamara ihr den Aufhänger vom Anorak gerissen, so sehr ereiferte sie sich.
Der Streit hatte harmlos angefangen. Henner trug einen neuen Pullover. „Bei den Fidschis gekauft“, sagte er, weil Christa fragte, woher er ihn hätte, er sehe gut aus an ihm.
Christa mochte es nicht, wenn ihr Sohn solche Wörter gebrauchte. „Du meinst, bei den Vietnamesen“, korrigierte sie ihn.
„Meinethalben. Ist doch egal, wie ich die Fidschis schimpfe. Der Pullover jedenfalls war billig.“
Tamara hatte sich eingemischt. „Das hätten wir alles nicht nötig“, sagte sie spitz. „Henner ohne Job, und du sitzt auf deinem Geld.“
Christa war aufgebraust. „Mit meiner Rente könnte ich mir wie ihr kaum eine Eigentumswohnung kaufen!“, hatte sie erwidert. „Du weißt doch, ich krieg gerade mal ein Almosen vom Staat.“ Und als sie dann ging, zerrte Tamara den Anorak vom Kleiderhaken. Bei dieser Gelegenheit riss der Aufhänger ab.
Sie hatte sich lange nicht beruhigen können, der Streit regte sie auf, und ein paar Nächte lang lag sie hellwach im Bett und sah immer wieder die erbosten Augen Tamaras in der Dunkelheit. Und dass sie Myrna immer gleich ins Kinderzimmer schickten, wenn sie zu Besuch kam! Ein paarmal hatte sie Wochen später zum Telefon gegriffen, sie wollte die Schwiegertochter anrufen, dass sie vorbeikommen würde, konnte sich aber nicht entschließen, die Nummer zu wählen. Tamara würde ihr vorwerfen, sie kümmere sich nicht um ihre Enkelin. Und wütend, wie sie immer auf Christa war, würde sie prompt eine Ausrede hervorkramen. Dass sie ins Theater ginge oder den nächsten Tag nach Mallorca fahre – keine Zeit, liebe Christa. Resigniert legte sie den Hörer aufs Telefon. Sie musste auf den Anruf Tamaras warten.
Nun also, nach diesem halben Jahr, würde sie die Kinder, wie sie Henner und Tamara in Gedanken nannte, wiedersehen. Sie freute sich nicht, die Ungewissheit, ob es heute gut ausgehen würde, regte sie jetzt schon auf.
Als sie ankam, stand Myrna schon mit der Schultüte im Flur, die neue bunte Mappe auf dem Rücken.
„Du kommst doch mit in die Schule?“, fragte Tamara.
„Ist es weit? Ich kann nicht mehr so gut laufen. Schon der Weg zu euch war nicht leicht“, sagte Christa. „Ich bin nicht darauf eingestellt.“
Henner legte den Arm um sie. „Komm mit, anschließend gehen wir was essen. Oder willst du hier die ganze Zeit auf uns warten?“
Sie gingen los, Myrna mit der Schultüte voran, Christa neben Henner. Er bot ihr den Arm, Christa lehnte ab. "Ich bin doch keine alte Frau!“ Henner grinste.
Obwohl er die Vierzig noch nicht erreicht hatte, schleppte er schon an einem Bauch. Sein Gesicht war gedunsen, seit er arbeitslos zu Hause herumsaß. Christa vermutete, er würde den halben Tag mit Biertrinken vor dem Fernseher zubringen. Sie blickte ihn von der Seite an.
Nein, ein Trinker war er nicht. Aber sein Gesicht war gedunsen.
Die Schule lag im Neubauviertel. Es war ein verlassener Kindergarten. Die Lehrerin, eine junge schmale Frau mit hellen Augen, hatte die Plätze der Kinder mit Kärtchen geschmückt, auf den Kärtchen in Druckschrift der Name und Symbole. Überall Symbole, auch an den Haken der Garderobe. Myrna konnte ihren Namen schon lesen. Sie buchstabierte: „Emm, ypsilon ...“
„Sie kann ja schon lesen“, sagte die Lehrerin erschrocken.
Tamara winkte ab. „Nur ihren Namen. Mehr habe ich ihr nicht beigebracht.“
Es ging in die Aula. Christa wusste, dass der Raum, der jetzt als Aula diente, früher der Schlafsaal gewesen war. Sie kannte diese nach dem Baukastenprinzip schnell hochgezogenen zweistöckigen Gebäude noch gut aus der Zeit, als Henner in den Kindergarten ging. Sie glaubte, den Geruch in der Nase zu haben, den Kindergärten am Nachmittag ausströmen.
Die Schule gehörte der katholischen Kirche. Christa fragte sich, während sie dem Chor zuhörte, ob Myrna nun jeden Tag beten müsse, vor dem Unterricht oder dem Schulessen. Es wäre ihr nicht recht gewesen. Sie hatte Henner nicht taufen lassen, er war also auch nicht konfirmiert worden, jeder Gedanke an das Beten war ihm fremd. Aber Tamara hatte sich bei ihm durchgesetzt, ihr einziges Kind sollte nicht in eine öffentliche Schule gehen, wo sie auf dem Schulhof totgeschlagen werden würde. Für sie kam nur eine Konfessionsschule in Frage, dort wisse man noch, was Zucht und Ordnung heiße. Myrna solle aufs Gymnasium gehen und dann studieren, Betriebswirtschaftslehre oder Jura. Henner ließ sich überreden, obwohl er vor der Mutter kein gutes Gewissen hatte.
Die Kinder führten eine Pantomime auf. Blitzlichter flammten auf, die Eltern fotografierten alles, was sich abbilden ließ an diesem Tage. Christa dachte an die Kompaktkamera in der Tasche und wollte sie hervorholen, ließ es dann aber, sie saß zu weit hinten, die Fotos würden zu unscharf und zu dunkel werden. Blumen wurden überreicht, der Lehrerin von einem aufgeregten Vater, den Müttern der Eingeschulten von den erhitzten Kindern.
„Kannst du haben“, sagte Tamara, als sie sah, dass es sich um einen bescheidenen Strauß violetter Astern handelte. Christa nahm den Strauß. Er würde sich gut auf der Anrichte machen. Sie dankte dem irritierten kleinen Mädchen, das in seinem Pantomimekostüm vor ihr stand.
Als die Blumen verteilt waren, klatschte die Lehrerin in die Hände. „Wir fassen uns an den Händen, immer zwei Kinder, und dann gehen wir in die Kirche.“
Der Pfarrer breitete die Arme aus. Eine schwarze Fledermaus, dachte Christa. „Wir beten jetzt darum,r "dass uns die Jungfrau Maria nicht im Stich lässt, damit wir nach einem Jahr in die zweite Klasse versetzt werden“, sagte er. Christas Blick suchte Myrna, die in der ersten Reihe saß. Brav, als sei das Beten nichts Neues für sie, legte Myrna die Hände vor der Brust zusammen.
Ein Kinderchor sang einen kleinen Choral. Der Pfarrer sprach salbungsvoll und mit öliger Stimme. Christa musterte die Eltern, die sich im hinteren Teil der Kirchenbänke aufhielten. Ein paar Frauen wischten sich die Tränen von den Wangen.
Auf dem Schulhof holte Christa ihre Kompaktkamera aus der Tasche und drückte sie Henner in die Hand. „Ein Foto, von Myrna und mir, bitte.“ Henner drückte auf den Auslöser.
Sie machte noch viele Fotos von Myrna, eines mit den Eltern zu beiden Seiten, sie verknipste den ganzen Film, damit sie ihn am Montag zum Entwickeln geben könne.
Tamara verkniff sich ein Lächeln. „Wie eine Fotografin“, sagte sie abschätzig.
Tamaras Worte machten Christa nichts aus. Dieser Tag würde nicht wiederkehren, und irgendwann, wenn sie erwachsen sein würde, wäre ihr Myrna dankbar für die Fotos, sagte sie sich. Trotzig knipste sie ein Foto nach dem anderen.
Tamara wollte nicht ins Restaurant mitkommen, Henner gab nach, und so gingen sie sofort nach Hause. Diesmal lief Christa mit dem Asternstrauß in der Hand hinter den dreien her, als ob sie nicht dazugehöre.
Zu Hause stellte Tamara eine gekaufte Pfirsichtorte auf den Tisch. Myrna war ins Kinderzimmer verschwunden und saß am Computer, stellte Christa fest, als sie auf die Toilette ging und nach der Enkelin schaute. Die neuen Filzstifte lagen verstreut auf dem Teppich.
„Gefällt dir die Schule, freust du dich?“
Myrna nickte mit ernsten Augen. Christa umarmte das Kind. „Und wenn du traurig bist, kommst du zu mir. Versprichst du mir das?“
Wieder nickte Myrna ernsthaft.
Abends servierte Tamara bulgarischen Rotwein. Henner stieg der Wein zu Kopf, er sprach mit den Händen, als wolle er Christa beweisen, dass er noch lebendig war. Tamara redete von neuen Möbeln und einer amerikanischen Band, von der Christa nie etwas gehört hatte. Sie langweilte sich. Ein paar Leute riefen an, gratulierten zur Einschulung. Myrna lag schon im Bett.
„Übrigens“, sagte Tamara plötzlich, „er hat jetzt einen Job gefunden. In einer Strafanstalt, als Vollzugsbeamter. Mit Pension. Zum nächsten Ersten.“
Christa nickte. „Ich hatte es mir gedacht. Irgendwas ist passiert bei euch, dass ihr ...“, sie zögerte, „dass ihr mich eingeladen habt. Aber“, sie lächelte traurig, „ich kann mir Henner nicht als Polizisten vorstellen. Er ist doch viel zu ...“ Ihr fiel das Wort nicht ein.
„Du musst alles mies und madig machen!“ Tamara sprang auf und blitzte sie wütend an. „Deine Mutter könnte ich an die Wand klatschen, Henner.“
Henner saß hochrot da. „Setz dich“, sagte er finster. Tamara trumpfte auf. „Ich setz mich, wann ich will und nicht du. Du Versager. Du Hosenscheißer.“
„Entschuldige dich wenigstens.“
„Fällt mir nicht ein. Ich habe nichts gesagt.“ Tamara ließ sich in den Sessel fallen.
Christa errötete. Sie erhob sich. „War eine schöne Feier“, sagte sie. „Ich dank euch für die Einladung.“ Sie schluckte an Tränen.
Henner brachte sie zur Tür. „Ich weiß nicht, was mit Tamara los ist. Du musst sie ja auch immer auf die Palme bringen, Mutter. Und dein Einschulungsgeschenk war auch nicht alle Welt. Tamara ist wütend.“
„Myrna hat doch alles. Was soll ich ihr schenken? Du hättest mir einen Tipp geben sollen.
Montag richte ich ihr ein Sparbuch ein und zahl jeden Monat was drauf. Und du“, sie sah den Sohn mitleidig an, „spiel nicht immer den Hausherrn. Deine Frau verträgt das nicht.“
Er gab ihr einen Kuss aufs Haar. Die Tür schlug zu. Langsam stieg Christa die Treppe hinab, die Hand am Geländer.
sagte zögernd zu. „Auch ein bisschen die Familienbande erneuern“, schob Henner nach. Christa ging nicht darauf ein.
Nachmittags lief sie durch die Geschäfte. Jeans wären das Richtige für das Kind, und ein Anorak und ein Pullover. Aber sie wusste die Kleidergröße der Enkelin nicht. Nachdem sie durch die ganze Einkaufspassage gelaufen war, entschied sie sich für eine Riesenpackung Filzstifte und ein paar Ausmalbücher. Die Enkelin malte gern, die Farben konnte sie jederzeit verwenden. Tamara würde scheel das Einschulungsgeschenk mustern, es machte nichts her, es war zuwenig repräsentativ, wie es sich für einen so wichtigen Anlass gehörte. Ein wenig sorgte sich Christa deshalb.
Sie lag mit der Schwiegertochter im Streit. Deshalb hatte sie sich beinahe ein halbes Jahr nicht um die Enkelin kümmern können. Auf einen Anruf hatte sie jeden Tag gehofft. Als sie sich das letzte Mal sahen, hatte Tamara ihr den Aufhänger vom Anorak gerissen, so sehr ereiferte sie sich.
Der Streit hatte harmlos angefangen. Henner trug einen neuen Pullover. „Bei den Fidschis gekauft“, sagte er, weil Christa fragte, woher er ihn hätte, er sehe gut aus an ihm.
Christa mochte es nicht, wenn ihr Sohn solche Wörter gebrauchte. „Du meinst, bei den Vietnamesen“, korrigierte sie ihn.
„Meinethalben. Ist doch egal, wie ich die Fidschis schimpfe. Der Pullover jedenfalls war billig.“
Tamara hatte sich eingemischt. „Das hätten wir alles nicht nötig“, sagte sie spitz. „Henner ohne Job, und du sitzt auf deinem Geld.“
Christa war aufgebraust. „Mit meiner Rente könnte ich mir wie ihr kaum eine Eigentumswohnung kaufen!“, hatte sie erwidert. „Du weißt doch, ich krieg gerade mal ein Almosen vom Staat.“ Und als sie dann ging, zerrte Tamara den Anorak vom Kleiderhaken. Bei dieser Gelegenheit riss der Aufhänger ab.
Sie hatte sich lange nicht beruhigen können, der Streit regte sie auf, und ein paar Nächte lang lag sie hellwach im Bett und sah immer wieder die erbosten Augen Tamaras in der Dunkelheit. Und dass sie Myrna immer gleich ins Kinderzimmer schickten, wenn sie zu Besuch kam! Ein paarmal hatte sie Wochen später zum Telefon gegriffen, sie wollte die Schwiegertochter anrufen, dass sie vorbeikommen würde, konnte sich aber nicht entschließen, die Nummer zu wählen. Tamara würde ihr vorwerfen, sie kümmere sich nicht um ihre Enkelin. Und wütend, wie sie immer auf Christa war, würde sie prompt eine Ausrede hervorkramen. Dass sie ins Theater ginge oder den nächsten Tag nach Mallorca fahre – keine Zeit, liebe Christa. Resigniert legte sie den Hörer aufs Telefon. Sie musste auf den Anruf Tamaras warten.
Nun also, nach diesem halben Jahr, würde sie die Kinder, wie sie Henner und Tamara in Gedanken nannte, wiedersehen. Sie freute sich nicht, die Ungewissheit, ob es heute gut ausgehen würde, regte sie jetzt schon auf.
Als sie ankam, stand Myrna schon mit der Schultüte im Flur, die neue bunte Mappe auf dem Rücken.
„Du kommst doch mit in die Schule?“, fragte Tamara.
„Ist es weit? Ich kann nicht mehr so gut laufen. Schon der Weg zu euch war nicht leicht“, sagte Christa. „Ich bin nicht darauf eingestellt.“
Henner legte den Arm um sie. „Komm mit, anschließend gehen wir was essen. Oder willst du hier die ganze Zeit auf uns warten?“
Sie gingen los, Myrna mit der Schultüte voran, Christa neben Henner. Er bot ihr den Arm, Christa lehnte ab. "Ich bin doch keine alte Frau!“ Henner grinste.
Obwohl er die Vierzig noch nicht erreicht hatte, schleppte er schon an einem Bauch. Sein Gesicht war gedunsen, seit er arbeitslos zu Hause herumsaß. Christa vermutete, er würde den halben Tag mit Biertrinken vor dem Fernseher zubringen. Sie blickte ihn von der Seite an.
Nein, ein Trinker war er nicht. Aber sein Gesicht war gedunsen.
Die Schule lag im Neubauviertel. Es war ein verlassener Kindergarten. Die Lehrerin, eine junge schmale Frau mit hellen Augen, hatte die Plätze der Kinder mit Kärtchen geschmückt, auf den Kärtchen in Druckschrift der Name und Symbole. Überall Symbole, auch an den Haken der Garderobe. Myrna konnte ihren Namen schon lesen. Sie buchstabierte: „Emm, ypsilon ...“
„Sie kann ja schon lesen“, sagte die Lehrerin erschrocken.
Tamara winkte ab. „Nur ihren Namen. Mehr habe ich ihr nicht beigebracht.“
Es ging in die Aula. Christa wusste, dass der Raum, der jetzt als Aula diente, früher der Schlafsaal gewesen war. Sie kannte diese nach dem Baukastenprinzip schnell hochgezogenen zweistöckigen Gebäude noch gut aus der Zeit, als Henner in den Kindergarten ging. Sie glaubte, den Geruch in der Nase zu haben, den Kindergärten am Nachmittag ausströmen.
Die Schule gehörte der katholischen Kirche. Christa fragte sich, während sie dem Chor zuhörte, ob Myrna nun jeden Tag beten müsse, vor dem Unterricht oder dem Schulessen. Es wäre ihr nicht recht gewesen. Sie hatte Henner nicht taufen lassen, er war also auch nicht konfirmiert worden, jeder Gedanke an das Beten war ihm fremd. Aber Tamara hatte sich bei ihm durchgesetzt, ihr einziges Kind sollte nicht in eine öffentliche Schule gehen, wo sie auf dem Schulhof totgeschlagen werden würde. Für sie kam nur eine Konfessionsschule in Frage, dort wisse man noch, was Zucht und Ordnung heiße. Myrna solle aufs Gymnasium gehen und dann studieren, Betriebswirtschaftslehre oder Jura. Henner ließ sich überreden, obwohl er vor der Mutter kein gutes Gewissen hatte.
Die Kinder führten eine Pantomime auf. Blitzlichter flammten auf, die Eltern fotografierten alles, was sich abbilden ließ an diesem Tage. Christa dachte an die Kompaktkamera in der Tasche und wollte sie hervorholen, ließ es dann aber, sie saß zu weit hinten, die Fotos würden zu unscharf und zu dunkel werden. Blumen wurden überreicht, der Lehrerin von einem aufgeregten Vater, den Müttern der Eingeschulten von den erhitzten Kindern.
„Kannst du haben“, sagte Tamara, als sie sah, dass es sich um einen bescheidenen Strauß violetter Astern handelte. Christa nahm den Strauß. Er würde sich gut auf der Anrichte machen. Sie dankte dem irritierten kleinen Mädchen, das in seinem Pantomimekostüm vor ihr stand.
Als die Blumen verteilt waren, klatschte die Lehrerin in die Hände. „Wir fassen uns an den Händen, immer zwei Kinder, und dann gehen wir in die Kirche.“
Der Pfarrer breitete die Arme aus. Eine schwarze Fledermaus, dachte Christa. „Wir beten jetzt darum,r "dass uns die Jungfrau Maria nicht im Stich lässt, damit wir nach einem Jahr in die zweite Klasse versetzt werden“, sagte er. Christas Blick suchte Myrna, die in der ersten Reihe saß. Brav, als sei das Beten nichts Neues für sie, legte Myrna die Hände vor der Brust zusammen.
Ein Kinderchor sang einen kleinen Choral. Der Pfarrer sprach salbungsvoll und mit öliger Stimme. Christa musterte die Eltern, die sich im hinteren Teil der Kirchenbänke aufhielten. Ein paar Frauen wischten sich die Tränen von den Wangen.
Auf dem Schulhof holte Christa ihre Kompaktkamera aus der Tasche und drückte sie Henner in die Hand. „Ein Foto, von Myrna und mir, bitte.“ Henner drückte auf den Auslöser.
Sie machte noch viele Fotos von Myrna, eines mit den Eltern zu beiden Seiten, sie verknipste den ganzen Film, damit sie ihn am Montag zum Entwickeln geben könne.
Tamara verkniff sich ein Lächeln. „Wie eine Fotografin“, sagte sie abschätzig.
Tamaras Worte machten Christa nichts aus. Dieser Tag würde nicht wiederkehren, und irgendwann, wenn sie erwachsen sein würde, wäre ihr Myrna dankbar für die Fotos, sagte sie sich. Trotzig knipste sie ein Foto nach dem anderen.
Tamara wollte nicht ins Restaurant mitkommen, Henner gab nach, und so gingen sie sofort nach Hause. Diesmal lief Christa mit dem Asternstrauß in der Hand hinter den dreien her, als ob sie nicht dazugehöre.
Zu Hause stellte Tamara eine gekaufte Pfirsichtorte auf den Tisch. Myrna war ins Kinderzimmer verschwunden und saß am Computer, stellte Christa fest, als sie auf die Toilette ging und nach der Enkelin schaute. Die neuen Filzstifte lagen verstreut auf dem Teppich.
„Gefällt dir die Schule, freust du dich?“
Myrna nickte mit ernsten Augen. Christa umarmte das Kind. „Und wenn du traurig bist, kommst du zu mir. Versprichst du mir das?“
Wieder nickte Myrna ernsthaft.
Abends servierte Tamara bulgarischen Rotwein. Henner stieg der Wein zu Kopf, er sprach mit den Händen, als wolle er Christa beweisen, dass er noch lebendig war. Tamara redete von neuen Möbeln und einer amerikanischen Band, von der Christa nie etwas gehört hatte. Sie langweilte sich. Ein paar Leute riefen an, gratulierten zur Einschulung. Myrna lag schon im Bett.
„Übrigens“, sagte Tamara plötzlich, „er hat jetzt einen Job gefunden. In einer Strafanstalt, als Vollzugsbeamter. Mit Pension. Zum nächsten Ersten.“
Christa nickte. „Ich hatte es mir gedacht. Irgendwas ist passiert bei euch, dass ihr ...“, sie zögerte, „dass ihr mich eingeladen habt. Aber“, sie lächelte traurig, „ich kann mir Henner nicht als Polizisten vorstellen. Er ist doch viel zu ...“ Ihr fiel das Wort nicht ein.
„Du musst alles mies und madig machen!“ Tamara sprang auf und blitzte sie wütend an. „Deine Mutter könnte ich an die Wand klatschen, Henner.“
Henner saß hochrot da. „Setz dich“, sagte er finster. Tamara trumpfte auf. „Ich setz mich, wann ich will und nicht du. Du Versager. Du Hosenscheißer.“
„Entschuldige dich wenigstens.“
„Fällt mir nicht ein. Ich habe nichts gesagt.“ Tamara ließ sich in den Sessel fallen.
Christa errötete. Sie erhob sich. „War eine schöne Feier“, sagte sie. „Ich dank euch für die Einladung.“ Sie schluckte an Tränen.
Henner brachte sie zur Tür. „Ich weiß nicht, was mit Tamara los ist. Du musst sie ja auch immer auf die Palme bringen, Mutter. Und dein Einschulungsgeschenk war auch nicht alle Welt. Tamara ist wütend.“
„Myrna hat doch alles. Was soll ich ihr schenken? Du hättest mir einen Tipp geben sollen.
Montag richte ich ihr ein Sparbuch ein und zahl jeden Monat was drauf. Und du“, sie sah den Sohn mitleidig an, „spiel nicht immer den Hausherrn. Deine Frau verträgt das nicht.“
Er gab ihr einen Kuss aufs Haar. Die Tür schlug zu. Langsam stieg Christa die Treppe hinab, die Hand am Geländer.