Fatum, Wien 1983

In jenem Beisl hörte ich eines Abends über einen Fall reden, der mir viel zu denken gab. Zwei an meinem Tisch kamen auf einen gewissen Svoboda zu sprechen; vor Jahren sei er an Aids gestorben. „Er war bestimmt einer der Ersten hierzulande“, sagte der eine.
Dann war noch von einem Milan aus Usti nad Labem die Rede. „Er war um die zwanzig und Koch“, sagte der andere. Milan sei mit einem Touristenvisum nach Wien gekommen und habe sich nach ein paar Tagen als Flüchtling bei den Behörden gemeldet. „Wirklich noch ein halbes Kind. Lang, sehr dünn, aber ein hübsches Gesicht, träumerische Augen … Die Eltern durften aus Usti kommen, um ihn zurückzuholen. Aber sie redeten ihm sogar noch zu, hier zu bleiben. Und er, er wollte eigentlich in die USA.“
Ich hörte weiter auf das, was sie sich erzählten. Der eine von ihnen war mit Svoboda nachts unterwegs gewesen und gerade hier im Beisl hatten sie Milan zum ersten Mal gesehen. „Er hat dann nur noch Augen für uns gehabt, so erwartungsvoll. Mein Gott, es waren doch genug andere da! Er hat sein Unglück gesucht.“ Er gab zu verstehen, Milan sei primär an ihm interessiert gewesen. „Aber mir war der Tscheche zu jung, zu unerfahren, zu viel erwartend … Also hat der Svoboda ran müssen. Es ist ihm erst gar nicht recht gewesen. Aber dann sind sie den ganzen Winter zusammen gewesen, bis der Svoboda im März gestorben ist.“
„Ja“, sagte sein Gegenüber, „ich habe auch gehört, dass es bei ihm schnell gegangen sein soll.“
„Und er war vorher vollkommen unauffällig. Den Test gab es ja damals noch nicht. Der Verfall war rasend schnell, die Medizin noch so hilflos.“
Da mischte ich mich in ihr Gespräch: „Und dieser Milan?“ fragte ich.
„Keiner sieht ihn mehr seitdem. Er soll noch versucht haben, in die USA zu kommen.“
Svobodas Freund machte sich noch immer ein Gewissen daraus, wie die Vorsehung sich vielleicht seiner damals bedient und ihn hatte verzichten lassen, zugunsten eines unsichtbar schon Gezeichneten. Gut möglich, sagte er, dass der Tod unerkannt mit ihnen ins Beisl gekommen sei. Und hatte er selbst dann dem Tod den Vortritt gelassen?
Als die beiden fortgingen, blieb ich am Tisch sitzen, allein mit Gedanken über Zufall und Fatum. Wenn man nur wüsste ...
 
Zuletzt bearbeitet:

lietzensee

Mitglied
Hallo Arno,
das ist eine sehr starke Geschichte! Mir gefällt vor allem das Setup, dass der Ich-Erzähler nur ein Gespräch in der Bar widergibt. Diese Distanz gibt dem emotionalen Plot gerade besondere Wucht. Ein geschickter Dreh!

Den letzten Absatz würde ich allerdings weglassen oder zumindest stark eindampfen. Auf solche Gedanken sollte der Leser schon selber kommen dürfen. Ein philosophischer Exkurs wirkt nach dem vorherigen Text auch fast wie ein Fremdkörper.

Noch ein Gedanke:
Svobodas Freund machte sich noch immer ein Gewissen daraus, wie die Vorsehung sich seiner damals bedient und ihn hatte verzichten lassen, zugunsten eines unsichtbar schon Gezeichneten. Gut möglich, dass der Tod unerkannt mit ihnen ins Beisl gekommen war, und er selbst hatte dem Tod den Vortritt gelassen.
Verstehe ich es richtig, dass Svoboda den Milan angesteckt hat? Diese Sätze lesen sich für mich so, als würde Svoboda hier als der personifizierte Tod/Todesbringer bezeichnet. Aber da Svoboda selbst gestorben und der Milan nur verschollen ist, fände ich das nicht vollkommen schlüssig. Ich weiß, du hast eine eigene Meinung über die Komposition von Texten. Aber wäre es nicht naheliegend, die Sache umzudrehen? Wenn du andeutest, dass Milan den Svoboda angesteckt hat, dann wäre es auf einmal der (Baisl)Erzähler, der durch Zufall dem Tod entronnen ist. Das fände ich noch stärker und es würde auf jeden Fall auch in die Kategorie Fatum passen.
Als Akronym sollte man glaub ich groß AIDS schreiben.

Viele Grüße
lietzensee
 
Danke. Lietzensee, für die ausführliche Beschäftigung mit meinem Text. Deine Einwände sind überwiegend gut nachvollziehbar. Das gilt auch für den "philosophischen" Schluss. Zur Erklärung: Ich habe hier spontan aus einem Roman einen kleinen Abschnitt leicht bearbeitet als Kurzprosa eingestellt. Die Gedanken am Schluss, die hier formal störend wirken können, haben ihre Bedeutung innerhalb der Romanhandlung. Ja, ich sollte das umarbeiten, will es nur vorher gut durchdenken.

Zur Schreibweise AIDS vs. Aids: Nach Jahrzehnten des Wortgebrauchs ist die von mir gewählte Schreibweise nicht mehr unüblich. Sie wird z.B. von der Deutschen Aidshilfe auf ihrer Website durchgehend verwendet. Ähnliche Entwicklung im Fall EDEKA - Edeka.

Zur Infektiosität: Die beiden Gäste im Beisl und ihr Zuhörer scheinen von hoher Wahrscheinlichkeit auszugehen, dass Milans dauerndes Verschwinden auf Ansteckung durch Svoboda beruht. Das muss nicht so gewesen sein, würde sich jedoch mit dem Ablauf vieler vergleichbarer Fälle decken. Monatelanger ungeschützter Verkehr war hochriskant. Zur Frage, wer wen 1983 angesteckt hat: der Jüngere aus einer tschechischen Kleinstadt, neu in Wien und der Szene - oder der Ältere, der dort längst integriert war? Es kann keinen Beweis geben, aber die Lebenserfahrung spricht wohl für Svoboda.

Freundliche Grüße
Arno Abenschön
 



 
Oben Unten