Fingerübung 2 : Das Täterprofil

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Vergessen und vergeben?

Kränkungen mit sanfter Geduld ertragen, während man an einem Racheplan brütet.

In den Straßen der abendlich erleuchteten Stadt ist es heute sehr ruhig. Doch hinter den vielen hellen Fenstern pulsiert das Leben. Deutlich hört man auf den Straßen einen Aufschrei „Toooor“. Im Fernsehen wird das Viertel-Finale der Fußball-Weltmeisterschaft übertragen.

Nur durch ein Fenster dringt bitterliches Schluchzen. Wer weint denn dort?

Es ist Isolde. Sie sitzt in ihrem Lieblingssessel. Um sie herum sieht es aus, als hätte es geschneit. Der Teppich ist übersäht mit vielen zerknüllten feuchten Taschentüchern. In ihrem Fernseher läuft eine Herz-Schmerz-Geschichte, die Isolde tief ergriffen verfolgt.

Im Grunde ihres Herzens begrüßt Isolde die Tatsache, dass Herbert sie wegen einer anderen Frau verlassen hat. Endlich muss sie nicht mehr den "blöden Fußball“ anschauen, sondern kann ohne Tadel das traurige Schicksal der Heldin miterleben.

Wieder einmal empfindet sie ihre eigene Einsamkeit. Erst kürzlich hat ihre Freundin erzählt: „Du, Isolde, stell dir vor, ich habe Herbert getroffen. Du meine Güte, sah der erbärmlich aus. Er lässt dich fragen, ob du ihm verzeihen kannst, er würde so gern zu dir zurückkommen.“

„Ich weiß nicht“, meint Isolde, „seine Untreue hab ich ihm nicht verziehen, doch werde ich es mir überlegen“.

Isolde durchdenkt die bisherigen Erlebnisse, denkt an ihre Einsamkeit und kommt zu dem Schluss: „Ich probier es vielleicht doch noch mal mit Herbert.“ Einige Tage später ruft ihre Freundin an und fragt: „Ich sitze gerade mit Herbert im Cafe Meier, er fragt, ob du es dir überlegt hast?“ Isolde hat sich bereits entschieden. „Sag ihm, er kann mich besuchen kommen“. Das lässt sich Herbert kein zweites Mal sagen.

Mit Blumen in der Hand steht Herbert wenig später in der Tür und wird hereingelassen. „Ach Isolde“, stottert Herbert, „Du hast mir ja so gefehlt. Ich war ein Dummkopf, bitte verzeih mir.“ Doch davon ist Isolde nicht überzeugt. Die Kränkung sitzt zu tief.

Nun lebt Herbert wieder bei Isolde. Isolde dagegen kann nicht vergessen und vergeben. Bei den geringsten Wünschen von Herbert wird dieser in seine Schranken verwiesen und wagt Herbert Widerspruch oder wird er gar aufmüpfig, bezieht er von Isolde Prügel. Sie will nicht mehr für ihn kochen, waschen und bügeln, sie hasst es, morgens die Zahnpastatube zuzudrehen, weil er es vergessen hat, sie ist es leid, jeden Tag seine verstreuten schmutzigen Sachen hinter ihm herzuräumen und sie kann Fußball nun mal nicht ausstehen. Jeden Abend liegt er in ihrem Lieblingssessel, in einer Hand ein Bier, mit der anderen angelt er sich Erdnüsse aus einer Schale und schreit begeistert „Tooor“. Dabei verschluckt er sich fast immer und muss keuchend nach Luft ringen.

So hat Isolde sich das wirklich nicht vorgestellt. Sie überlegt und kommt auf eine Idee.

Zum nächsten Abend-Fernsehprogramm stellt Isolde vor Herbert ein Schälchen mit frisch geknackten Erdnüssen, die heute jedoch appetitlich glänzen. „Iss nur, lieber Herbert“ säuselt Isolde, „du magst sie doch so gern. Ich hab sie für dich in Butter angeröstet.“ Herbert nickt nur stumm, das Endspiel der Fußball-WM ist so spannend, dass er Isolde nicht einmal anblickt. Wieder langt Herbert kräftig zu, verschluckt sich, muss ganz fürchterlich husten, wird blau im Gesicht und tut keinen Muckser mehr. Mit Tränen in den Augen ruft Isolde den Hausarzt, der bei Herbert nur feststellt „Tod durch Ersticken“.

Der Blick durch das Fenster verrät, Isolde sitzt eigentümlich lächelnd in ihrem Lieblingssessel und schaut tränenüberströmt im Fernseher Herz-Schmerz-Geschichten. Sie denkt an das noch fast volle Fläschchen mit den Herztropfen. Es gehörte dem Großvater, der ebenfalls fußballbesessen war. Er knabberte anstatt Erdnüsse abends gern Isoldes selbstgebackene Kekse.
 
Hallo zwillingsfrau,
wirklich ein guter Beitrag zum Thema. Hättest ihn auch gut als eigene Geschichte einstellen können. War ja schon ein wenig mehr, wenn nicht sogar "rund". Ich meine das jetzt mit höchster Anerkennung. Eine sehr schön lesbare Geschichte mit den kleinen Details, wie der Zahnpastadose, den (ach, ja) herumliegenden Sachen, dem Fussball und dann noch dieses wunderschöne Bild mit den Liebesserien und einer auch so traurigen Prot., die so glücklich, einsam vor dem Fernseher sitzt.

Wirklich "rund", gruss Marcus
 
Die Gunst der Stunde

Die Gunst der Stunde

Eigentlich hatte Charlotte es schon seit ewigen Zeiten satt gehabt, die Sache mit Tobias, ihren Eltern und dem familieneigenen Sanitärfachhandel. Tobias war der Ältere, der Erbe; sie, Charlotte, die Zweite. Ob Spielzeug oder Berufsausbildung, für Tobias war nichts zu kostspielig, Charlotte musste mit dem zufrieden sein, was übrig blieb. Und das war in der Regel nur wenig.
Tobias wurde der Star der Fußballmannschaft, machte seine Meisterprüfung - und sich hinter jedem Rock in Reichweite her. Charlotte hübschte mit einfachen Mitteln ihre Sonderangebotsklamotten zu Designerstücken auf, wurde Buchhalterin im elterlichen Betrieb - und wer nicht regelmäßig mit ihr zu tun hatte, der wusste kaum, dass es sie überhaupt gab.
Und nun stand sie in ihrer Küche, guckte auf die am Boden liegende Leiche ihres Bruders.
Tobias war völlig ahnungslos gewesen, als er zu ihr kam, um den Wasserhahn am Spülbecken zu reparieren. Er hatte sich hingekniet, den Absperrhahn zugedreht - und das Messer in den Rücken gekriegt. Hatte nicht einmal fünf Sekunden gedauert.
Genauso schnell zog Charlotte das Messer aus dem Rücken, steckte es in den ohnehin randvollen Spüler, drückte auf die Starttaste. Fertig.
Der Rest war unproblematisch. Die Leiche wurde in eine Plastikplane aus dem Baumarkt gewickelt, mit der Sackkarre in die Garage gefahren, in den Kofferraum gelegt. Es war Freitagabend, Diskozeit. Eine Kleinigkeit, zur menschenleeren, völlig ungesicherten Grüngutdeponie zu fahren, die Leiche mit der Sackkarre (das Ding ließ sich problemlos zusammenklappen und mitnehmen) zu einem der gigantischen Haufen Schnittgut zu karren. Die Arbeiter auf der Deponie waren so freundlich gewesen, die Mistgabeln nicht allzu weit fortzustellen, so konnte sie sich so ein Ding schnappen und Tobias unter dem ganzen Grünzeug zu verstecken. Es würde Wochen dauern, bis man die Leiche fand.
Nach einer Viertelstunde war sie damit fertig.
Auf dem Heimweg trällerte sie zufrieden ein kleines Liedchen. Nun war sie das nutzlose Exemplar, wie sie ihn schon seit Jahren bei sich nannte, endlich los. Nun war sie, gezwungenermaßen, die Nummer Eins in der Familie und in der Firma. Andere Kinder, andere Erben gab es nicht.
Das Warten auf die günstige Gelegenheit hatte sich gelohnt. Tobias war wie immer zu Fuß die paar Schritte von seiner zu ihrer Wohnung gegangen; lange würde die Reparatur nicht dauern. Es machte also nichts, wenn er von einem zufälligen Zeugen gesehen wurde. Sie konnte ohne Weiteres zugeben, dass er in ihrer Wohnung war und dann einfach behaupten, er habe danach noch ausgehen wollen.
Seiner zahllosen Frauengeschichten wegen würde man den Tobias ohnehin erst in ein paar Tagen vermissen. Man würde entsprechend viele Verdächtige haben und keine Chance, den Täter zu finden. Sie selbst kam als Verdächtige nicht in Frage. Die Eltern waren noch ziemlich jung, das Erbe ließ noch lange auf sich warten. Nach außen hin würde sie sogar diejenige sein, der man die Arbeit und Verantwortung für die Firma aufhalsen würde. All dies wohl kaum ein Mordmotiv!
Und sobald sie wieder zu Hause war, würde sie die alte Küchentapete herunterreißen und soviel Dreck machen, dass niemand auch nur die Spur einer Spur finden würde.
 
Hallo MarleneGeselle,

nicht schlecht, aber es ist fast mehr ein Opferprofil als ein Täterprofil. Und genau genommen steht bei dir das Motiv im Mittelpunkt, eine Fingerübung, die noch kommt. Habe es aber trotzdem gerne gelesen.

Michael
 



 
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