Liselotte Kranich
Mitglied
Floristik und andere Sorgen
Schon als Kind pflückte sie gern Wald- und Wiesenblumen. Die Familie war oft in der Natur. Das Waldbaden, wie man es heute schön nennt, war etwas Selbstverständliches für die Eltern und deren 2 Töchter. Die kleinere Tochter hatte immer ein Blumensträußchen in der Hand. Das fand absolute Befürwortung bei der Mutter und einen eher schwachen Protest bei dem Vater. Die nicht langlebigen Waldblumen verwelkten üblicherweise, noch bevor sie das Zuhause erreichen konnten, und hinterließen Dreck im Auto.
Männer nehmen es mit vielen Sachen im Leben nicht ernst. Das betrifft auf keinen Fall das eigene Auto. Am Anfang ihres beruflichen Werdegangs war sie viel auf dem Land unterwegs. Eines Tages konnte sie den Feldgänseblümchen nicht widerstehen und pflückte einen riesigen Strauß. Als sie mit den Blumen aus dem Fahrzeug des Kollegen ausstieg, ließ sich seine Verärgerung weder übersehen noch überhören. Er hat nämlich sein Auto am Vortag picobello sauber geputzt. Autsch!
Sie beschäftigte sich auch im weiteren Leben gern mit Blumen. Sie stellte Blumensträuße zusammen und verschenkte sie an Menschen, die sie mochte. Dafür hob sie die noch intakte Deko auf, womit ihr Mann äußerst unzufrieden war. Er meinte, dass dafür die Mülltonne beziehungsweise der gelbe Sack gut wären, nicht der Dachboden.
Seitdem die Nachbarin einen Blumenladen im Dorf aufmachte und per WhatsApp unzählige Fotos von Sträußen und Gestecken durch das Netz jagte, gab es eine neue Inspirationsquelle für sie. Die täglichen Waldspaziergänge bekamen einen neuen Sinn. Sie sammelte Moos, Rinde, Tannenzapfen sowie trockene Baumpilze. Für die Ideen war sie der Nachbarin dankbar. Auf viele von denen wäre sie im Leben nicht gekommen. Gelernt ist gelernt.
Sie dagegen kreierte nach Gefühl. Sie steckte nach und nach die Blumen in die Vase, nahm sie wieder heraus und platzierte sie anders. Die Blumen mussten farblich zusammen passen. Sie mochte symmetrisch aufgebaute Sträuße. Sie machte drei Schritte zurück und betrachtete das Gesamtbild aus der Entfernung. Dann ging sie in den Garten, in der Hoffnung das fehlende Etwas zu finden, was der Vollendung im Wege war.
Ihr Mann meinte zu ihr, dass die Nachbarin Floristin mit so einem Tempo kaum Geld verdienen würde. Das war nämlich der Punkt. An Zeit mangelte es ihr nicht. Die langen Krankschreibungen häuften sich. Ihr Tempo konnte sie schlecht beeinflussen. Sie zählte zu den früh Erkrankten, bei denen ein Zittern und eine Muskelsteifigkeit im Vordergrund waren. Muskelverkrampfungen waren auch keine Seltenheit. Sie musste an eine alte Anekdote denken. Dort ging es um einen Drogenabhängigen, der Sozialstunden im Zoo ableistete. Seine Aufgabe bestand darin, die Schildkröten zu füttern. Die Biester hauten ihm jedes Mal ab, sobald er die Käfigklappe aufmachte. Drogenabhängig war sie nicht. Der Rest der Geschichte könnte locker zu ihr passen.
Das war noch kein Ende. Und solange es ging, vermied sie keine Aufgaben mit Beanspruchung der Feinmotorik. Sie musste in Bewegung bleiben. Die Krankheit wird schon eines Tages die Oberhand gewinnen. Sie hoffte nur, dass das spät genug eintreten wird.
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