Flucht über die Nordsee 26: Intermezzo

ahorn

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26. Intermezzo

Paul trottete dem resolut die Straße entlang marschierenden Vater hinterher. Vater war das falsche Wort, eher: Erzeuger. Sein Papa hieß Franz und wurde vor drei Jahren hingerichtet, von dem Mann, hinter dem er sich herschleppte. Herbert, seines Zeichen SS-Standartenführer, hager mit fadem Gesicht und kaum größer als sein oberster Vorgesetzter, dafür stramm im Schritt. Selbst hatte er nicht handangelegt an Franz, trotzdem war er verantwortlich. Aber eins nach dem anderen.

Herbert, Franz und Hildegard, Pauls Mutter, waren in der guten alten Zeit, wie man sagte, mehr als enge Freunde. Kampfgenossen. Verbrüdert für bessere soziale Verhältnisse am Ende der wilden Zwanziger. Sie waren Kommunisten und für ihre Epoche eher freizügig. Hildegard erwartete eine ansprechende Mitgift und Franz - ein Mann von Welt – für Frau Mama der charmantere Schwiegersohn von beiden. Dass er sich nichts aus Frauen machte, spielte dabei keine Rolle. Der Rest ergab sich.

Das Dreierbündnis plus eins lebte weiter in ihrem Dunstkreis, bis Herbert der Auffassung war, dass die Botschaft des Mannes aus Österreich ihn eher überzeugte als die des Herrn aus Trier.
Eine Zeit lang gab es keine Probleme. Erst 1933 zerbrach der Pakt.
Herbert verschwand aus Pauls Leben. Paul zog mit den Eltern nach Hamburg, dem Tor zu Welt. Abhauen wollte seine Mutter, aber Franz, Optimist von Beruf, war fest davon überzeugt, dass es sich mit den Braunen bald erledigt hätte.

1939 bekamen sie einen netten Brief, unterzeichnet von Herbert – Franz‘ Einberufung. Das letzte Mal sah er seinen Vater, dann verschwand er. Hildegard heiratete erneut: Herbert! Im Gefolge der Truppen marschierte er samt Familie in die befreiten Gebiete ein, um den armen frankofonen Belgiern in Charleroi die Segnungen des Deutschtums nahezubringen.

Die Arbeit, die er vollzog, musste ordentlich gewesen sein, denn nach kurzer Zeit wurde er nicht nur befördert, sondern auch nach Antwerpen versetzt, um eine weitere Gruppe jüdischen Glaubens von Hab und Gut zu befreien. Eine Tätigkeit, die sowohl sein Ansehen, sowie das eigene Vermögen steigerte.

Dieser Herr hatte einen strukturierten Tagesablauf, zu dem nicht nur der mittägliche Braten - jeden Tag gab es Braten, gehörte. Auch der Nachtisch wiederholte sich, wie der Sonnenaufgang. Paul bekam seine Lektüre, die Bibel des deutschen Mannes. Die Mutter, nachdem ihr Gatte sie mit der Gerte liebkost, hatte, die Aufgabe, ihren ehelichen Pflichten nachzugehen. Dann wurde es familiär. Vater und Sohn kontrollierten ihr Revier.

An diesem Tag kehrten sie nicht gemeinsam heim. Eine Gruppe Soldaten zogen eine Frau und ein Kind aus einem Hauseingang auf den Bürgersteig. Dienstbewusst marschierte Herbert auf sie zu. Nach Austausch des militärischen Grußes - um genau zu sein - der Vaterlandsverteidiger erwiesen die Ehrenbezeigung. Herbert hob nur seine Nase höher, als er sie bereits zuvor trug.
»Was geht hier vor?«, donnerte er knapp ihnen entgegen.
Der Hauptmann der Wehrmacht salutierte abermals, ergriff erneut den Schopf der Frau. »Verräter am deutschen Volke!«
Pauls Vater sah kurz auf die am Boden Liegende herab. »Juden?«
»Schlimmer«, entgegnete der Offizier. »Blutschänder!«
Herbert wandte sein Gesicht dem Sohne zu. »Paul, was ist schlimmer als ein Tier zu sein?«, fragte er wie ein Oberlehrer.
Der Junge schaute zu ihm herauf. »Blutschande mit einem Tier?«, stotterte er.
Das Familienoberhaupt strich zustimmend über den Schopf des Knaben, zog die Walter PP aus dem Halfter, legte die Mündung an die Schläfe der Festgehaltenen und krümmte den Zeigefinger. Einfach so!

Die Frau brach zusammen, Blut spritze auf die Uniform des Landsers. Herbert nahm die Waffe in seine Linke, drückte sie Paul in die Hand. Wortlos zeigte er auf das Mädchen, welches sich schreiend auf ihre Mutter warf.
Sein Sohn starrte auf den Leichnam, auf das Kind, schrie, schleuderte das Todeswerkzeug aufs Pflaster, rannte davon.


In Tanjas nüchternem Bad saß Antonia mit überschlagenden Beinen auf dem Klodeckel und steckte das Smartphone in die Handtasche. Sie kannte den Text auswendig. Der Anfang der fünften Geschichte ihrer Krimisammlung Das blutige Messer brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie identifizierte sich mit Paul, dennoch war es ihr bewusst, dass er es besser hatte.

Sie musste kurz für sich sein, verdauen, was sie erfahren hatte. Antonia drückte den Oberkörper auf ihre Knie.
Wer log, wer sagte die Wahrheit? Im Geiste deckte sie alle Memory-Karten auf, um ihre Gleichheit zu überprüfen.
Das erste Paradoxon löste sich auf, zur Fusion bereit. Der Admiral hatte keinen Einspruch zu ihrer Transformation gehabt, da die Hochzeit nicht stattfinden sollte. Nur wo war das passende Blatt zu Bärbels Vorteil. Dass sie von Tanjas sexuellen Vorlieben wusste, schloss sie aus und wenn was hätte sie davon. Ein neues Paradoxon manifestierte sich.

Sie wandte sich im Geist dem zweiten Spiel zu. Alina.
Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht, sie war adoptiert. Bloß wer waren ihre Eltern. Waren es Jannette und der falsche Stephen, wie sie ihn bezeichnetet?
Sie schloss diese Annahme erst einmal aus. Blieb logisch. Antonia präferierte das Resultat ihr Erzeuger fremd und mit niemanden verwandt. Wenn doch, wer kam in Frage?
Ein Bild offenbarte sich ihr, das Anglist ihres Stiefvaters. Sie grinste bei dem Gedanken.
Langsam wurde sie verrückt. Für ein paar Sekunden verschmolz sie lückenlos mit Antonia, mutierte zu Tanjas Tochter. Trotzdem ließ sie die Karte offen.
Stephen war Valentins Sohn, obwohl er zur Zeit keine roten Haare hatte, schloss sie nicht aus, dass er welche hatte. Der Schopf gefärbt oder eine Perücke auf dem Schädel trug, falsch wie vieles andere an ihm.
Die Mutter? Jannette? Wer war sie? Ein Hirngespinst von Alina?
Von der Schwester? Nein. Dann spannen beide.
Sie riss sich zu einem Gedankenexperiment hin. Was wusste sie von Tanja? Ihrer Schwester!

Augenzwinkernd setzte sie alles auf Null, definierte, sie sei Franziskas ominöse Tochter, damit eliminierte sie das Paradoxon. Die Rache wallte auf Tanja über, es gab keine lesbische Freundin, somit schloss sie Bärbel in das Komplott mit ein.
Ihre Schwester war nicht rothaarig. Ein Sachverhalt, den sie einkalkulierte. Entweder hatte sie die Erbanlage nicht übernommen oder sie färbte ihre Haare.
Nach ihrer Aussage hatte sie ein Kind, ein Mädchen geboren. Ein weiteres Kartenpaar vereinigte sich. Sie hatte behauptet, dass sie sie im Standesamt angesehen hatte, aus diesem Grund ihren Entschluss revidierte. Eine Lüge, denn sie hatte sie beobachtet, nicht sie hatte sie betrachtet, wie sie es ihr gesagt hatte, sondern Alina.
Wenn Tanja identisch mit Jannette, dann log ihre neue Freundin, den sie musste sie erkannt haben. Gut, sie schwindelte. Warum hatte sie in diesem Fall irgendetwas gegen die Hochzeit einzuwenden. Es sei den Stephen wäre wirklich ein Schwindler. Die zweite Alternative wollte sie nicht zu Ende denken. Zu abstrus die Folgen.
Ihre Annahme falsch, der Beweis missglückt. Tanja war nicht Franziskas Tochter.

Antonia stand auf, schlich zum Badezimmerspiegel. Sie benetzte einen Zeigefinger strich über die Augenbrauen. Es war mehr als ein Spiel. Fäden spannen sich von ihrer Familie zu den Oberländern. Sie hatte nicht genug Memory-Karten gesehen, um den Satz zu gewinnen. Detektivin müsste sie sein, wie Amanda X in Rollen springen, den Täter überführen.

Sie nahm einen kleinen Flakon vom sonst leeren Waschtisch. Tanjas Lieblingsparfüm. Der Duft kroch ihr in die Nase. Ihr Zeigefinger drückte den Zerstäuber herab. Eine Wolke löste sich und schwebte auf ihren Hals.
»Ich bin Antonia«, murmelte sie.
Ein weiterer Schleier segelte auf die Haut.
»Tanjas Tochter«, flüsterte sie mantrahaft den Nebel einatmend.

»Toni wo bleibst du den. Bist du eingeschlafen.«
Tanjas Stimme brachte sie wieder in die Realität.
Sie schaute sich um. »Toni ist nicht hier Mama!«, kicherte sie.


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