Flucht über die Nordsee 63. Jekyll oder Hyde?

ahorn

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Der Mast brich, der Bug schlägt leck.

Gelenkt von den Sirenen,

steuert der Entdecker in den Nebel,
ignoriert die Zeichen, verdrängt den Verstand.
Er nimmt den Kampf auf
mit dem Zyklopen,
der nichts anderes,

als ein Fels in der See.


Unbekannte Gewässer

Jekyll oder Hyde?

Die rechte Hand zur Faust geballt, schlug er derart mit der Linken die Tür zur Pathologie zu, dass der Glaseinsatz zuerst vibrierte, dann zerbrach.

Gab es in dieser Familie normale Menschen? Die Verlobte ein Mann.
Der Kopf drehte sich ihm, obwohl er ihm fest auf den Schultern ruhte. Er beschleunigte seine Schritte, rannte, lief der Wahrheit davon. Die Wissenschaft machte keinen Fehler. Die Ergebnisse waren eindeutig.

Sie nicht sie. Sie ein er. Er hatte mit einem Kerl das Lager geteilt. Egal, wie er daherkam, er war ein Bursche nicht die holde Prinzessin. Ihm blieb der Atem weg, worauf er sich vornahm, mehr Sport zu treiben, und pausierte.
Betrogen hatte sie – er ihn, doppelt hintergangen, ihm Tanja vorgespielt, eine Frau vorgegaukelt. Nein. Sie war eine sie, eher ein er gewesen.
Ihm schwand der Verstand. Er hatte keinen Namen für dieses Ding. Tanja gefakt, Verlobte falsch, obwohl versprochen hatten sie sich. Mit dem nächsten Gedanken hob er die Verlobung auf.
Er klopfte zweimal mit dem rechten Zeigefinger an den rechten Nasenflügel, dann schnippte er, gefolgt von einem Lächeln.
Ex-Verlobtes! Hätte das Ex-Verlobte ihm gebeichtet, dass es ein Kerl wäre, hätte er sich in es verliebt? Ja! Er liebte es weiterhin, aber Vertrauen bestand nicht mehr. Quatsch! Es wäre nie zu ihrer Liaison gekommen, denn Tanja war ein Mädchen gewesen. Nicht, weil er damals eventuell mit ihr geschlafen, sondern sein Herz ihn nie betrogen hatte.

Zumindest war Antonia ein Mädchen. Er hatte sie beim Ballett, dem Turnen auf der Wiese, der Akrobatik betrachtet, ihre Grazie bewundern, ihr zwischen die Beine geglotzt. Dort war nichts.
Wenn es nicht Tanja war, wer war es dann? Woher kannte es die Geschichte? Er raufte sich die Haare, dabei stöberte er in seinen Erinnerungen.

Er hatte viele Aussagen gesammelt. War um den halben Globus gereist. Kein Mädchen wollte auspacken. Dann hörte er von der in Lesotho. Inhaftiert im Gefängnis seines Kumpels. Ein Widerling, ein Schwein, der Gefallen daran hatte, die Häftlinge zu quälen, zu foltern.
Er flog hin, erfuhr, dass die Frau verstorben war. Wieder mal hatte eine Reise ohne Sinn gestartet. Dann war sie da, die Gefangene, die ihm sein Kamerad als Mörderin des Freundes Anton präsentierte, oder hatte er es nur geglaubt. Dabei war es eine routinemäßige Befragung der Zellengenossin gewesen. Blind vor Schuldgefühle sprach er mit ihr, aber warum? Bereits damals hatte sie, Joos schlug sich ins Gesicht, er ihn in seinen Bann gezogen.
Er warf sich auf eine Parkbank, vergrub seinen Kopf zwischen den Händen. Den schlimmsten Fehler, den man machen konnte, hatte er gemacht. Den Gefühlen freien Lauf gegeben, schrie er sie an, schrie er ihn an, obwohl, wann war jemand eine sie, ein er. Wer entschied es?
Warum sie den Wagen verlassen hatte? Damit hatte er ihr den Hauptbeweis in den Mund gelegt. Die Berichte von ihr anschließend stichhaltig. Die Zeit in Durban, die Eltern, alles legte sie ihm zu Füssen. Es gab für ihn nur eine Erklärung: Sie war Tanja.

Wie, wo, wann spielte keine Rolle mehr, obschon sie Tanja nicht ähnlich sah, Größe, Statur passten. Der Rest der Folter geschuldet, aufgedunsen, übersät mit Hämatomen. Der Beweis des Unrechts unumkehrbar.
Ein Liebespaar hatte beobachtet, wie sie Anton durchs Fenster erschossen hätte. Darauf musste er aufbauen, obwohl es gelogen war. Er stellte sich und nahm die Schuld auf sich, erklärte, dass der Tod des lieben Freundes nicht weiter als ein Unfall gewesen wäre. Unter Eid hatte er beschworen, dass er Zeuge des angeblichen Verbrechens gewesen war. Er gehört, gesehen hätte, wie die junge Frau, da unerfahren mit Gewehren, die Schrotflinte Anton durch Fenster reichen wollte und dabei sich der Schuss gelöst hätte.
Die Justiz entließ sie. Seine Strafe für das jahrelange verschweigen, war ein Jahr Einreiseverbot nach Lesotho. Damit konnte er leben. Denn Tanja lebte.
Er war weiterhin von ihrer Identität überzeugt, fand heraus, dass Klara gestorben war, am selben Tag, am selben Ort des Unfalls. Die Logik für ihn klar, dass Klara sich als Tanja ausgab. Es wusste warum. Denn Klara hatte auf Anton geschossen, war vor ihrer Strafe, vor ihrer Tat, an der er nicht unschuldig, geflohen.
Der Zufall half. Eine ihm Unbekannte wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht. Aufenthaltsort Südafrika. Sie schwarzhaarig und stämmig gebaut, trotzdem zweifelte niemand an seiner Aussage. Die Schleusung war perfekt und die falsche Tanja in Europa. Dass er die Gesuchte am Flughafen von Antwerpen verloren hatte, nur ein Eintrag in der Personalakte wert.
Er schlug sich an die Stirn. Einem Mörder hatte er in die Freiheit verholfen. Sein Bruder hatte recht, mit seiner Aussage des dritten Schusses, dass er einen Mann weglaufen sah. War der Zeuge der Täter gewesen? Eine Transe hatte Anton die tödlichen Kugeln verpasst. Von der Strafverfolgung gerichtet, und er? Er hatte ihm zur Freiheit verholfen.
Es hatte seine Freiheit. Warum spielte es das Spiel weiter? Die Antwort kannte er. Es war ein Niemand, hatte keine Identität!
Die Geschichte mit Klaras Tochter passte nicht ins Bild. Joos hatte sie von ihr, er schlug gegen seine Stirn, ihm erfahren. Es gab mehrere in diesem Spiel! Wer? Egal, dennoch war der Sinn plausibel. Es hätte nie direkt erreicht Tanja zu werden. Der einfachste Test hätte bewiesen, dass es männlich war. Es gab für ihn eine Lösung. Ein Verbrechen, das Klaras Identität zum Vorschein brachte und ihn an ihre Position spülte. Niemand würde die Aussagen in Zweifel ziehen, denn, er klopfte an sein Brustbein, er würde die Fakten bestätigen. Auf einmal ergab der Brief einen Sinn. Es hatte ihn geschrieben, denn es wusste von der Entführung. Er hatte ihm die Geschehnisse erzählt. Wieder ein Fehler.
Oder? Er zweifelte. Ein Fehler des Labors? Nein. Ein Fehler seiner Logik? Nein. Doch. Einen Lapsus hatte er sich erlaubt. Denn seine Ex-Verlobte benötigte keine neue Existenz als solche, denn diese besaß sie bereits. Er raufte sich die Haare.
Für ihn, obwohl genetisch ein Mann, blieb sie eine sie. Deswegen hatte sie bereitwillig für ihn bei den Dohnhöfers spioniert. Sie war dort. Die ganze Zeit dort. Mit Ausnahme der Stunden, in denen er sie traf. Drei identische genetische Fingerabdrücke bewiesen es ihm. Die Erste war aus Bärbel Tütkens Wohnung. Sie war dort. War Bärbel involviert? Die Zweite hatte er aus Klaras Epilierer entnommen. Die Letzte hatte sie ihm selbst gegeben. War sie derartig naiv oder gehörte es zu ihrem Plan?
Es war ihm egal. Sie hatte ihn belogen, betrogen.

Die Welt drehte sich um ihn. Er registrierte dieses Verlangen, das unerklärliche Bestreben sich wie Dr. Jekyll in Mr. Hyde zu wandeln. Die schwärzten Mächte in sich auszuleben, alles zu unternehmen, was er sich verbat.
Er spurtete, er rannte, dabei sein Ziel vor dem Augen. Sein Adrenalinspiegel stieg, seine Leydig-Zwischenzellen schüttete Unmengen Testosteron aus. Heute war der Tag. Hatte er sich vorgenommen, nicht zu erscheinen, revidierte er seinen Entschluss. Die Hände zitterten ihm in erquicklicher Begierde, die Schandtat umzusetzen.



Nach Sibirien verkauft

Er klopfte mit dem Zeigefinger in seine hohle Hand. Genug hatte er gesehen, sich erfreut an dem Schauspiel, was sie ihm geboten hatte. Es war eine sie, egal ob ihre Chromosomen männlich waren. An ihr gespieltes Verlangen, die Inbrunst, die Ekstase, die sie vorgaukelte, ergötzten sich die anderen. Denn er sah in ihre Seele, ihre Augen, die ihm die Angst verrieten, die Scham der Unterwürfigkeit ihm widerspiegelten, den Verlust ihrer Freiheit ihm zeigte.
Er ließ den Blick schweifen, musterte die Frauen in ihren hautengen Uniformen. Die Sklavinnen in ihren geschnürten Korsagen, die ihre Brüste hoben, aber nicht verbargen. Sie stöckelten auf ihren zu hohen Schuhen zu den Tischen, um dann unverhohlen, den sabbernden Männern, nicht nur ihre mit Spitze besetzten Strapse darzubieten. Sie priesen den Herren den überteuerten Schaumwein und ihre geschundenen Körper an.

Er schloss den Spalt im Vorhang und schritt durch den in rotes Licht getauchten Gang. Es war das Tier in ihm gewesen, das Wesen, das von ihm Besitz nahm, wenn er in die Enge getrieben wurde. Es hatte von ihm verlangt, sie zu demütigen, sie auf offener Bühne zu vergewaltigen. Nicht von eigener Hand, das konnte die Gestalt, eingeschlossen in seinem Körper nicht. Ihn so weit zu bemächtigen, war sie nicht imstande. Er verabscheute jeglicher Art von Gewalt. Er verzog sein Kinn, als wäre es in der Lage, die dunkle Macht für immer zu vertreiben.
Die linke Hand drückte seine Sonnenbrille auf seine Nase, derweil die andere den Knauf der Tür, auf der ‚PRIVAT‘ geschrieben stand, umfasste.

Ommo spielte mit seiner Goldkette, die wie eine Trophäe auf seiner behaarten Brust ruhte und wies ihm mit einem Zwinkern den Weg. Die Lippen zu einem kurzen Lächeln verzogen, versteckte er sich am Ende des samtigen Vorhangs, der die Bühne von de Ruiter Reich trennte und drückte sein Gesäß an die Wand.
Das andere Ende des Vorhangs schwang auf. Der junge athletische Mann, der die Frau, die sich Tinette nannte, auf der Bühne genommen hatte, stolperte unter heftigen Schlägen des Opfers ins Büro.
„Du Arsch, du elendiger Mistkerl!“
Jerimo wandte sich ihr zu.
Sie schrie: „Du solltest“, dabei ergriff sie sein Glied, als wolle sie es abreißen, „deinen Schwanz an meiner Pussy reiben und nicht …“ Ihre Hand traf seine Wange.
De Ruiters schob seinen Chefsessel zurück, stand auf. Er ergriff einen seidigen cremefarbenen Morgenmantel und schritt auf sie zu und lugte hinter den Vorhang. „Ich weiß nicht, was du hast, die Kunden sind begeistert, alle Mädchen versorgt.“ Er wandte sich zu Tinette. „Das wolltest du doch?“
Sie schnappte sich den Morgenmantel und verhüllte ihren nackten Körper.
Der Klubbetreiber schritt zurück zu seinem Schreibtisch und lobte: „Spaß gemacht hat es dir aber. Richtig in Ekstase bist du gefallen“, dabei lüftete er sein weißes, weit aufgeknüpftes Hemd und fiel auf seinen Bürostuhl. „Ich weiß, was dir Freude bereitet.“
Sie marschierte zum Schreibtisch, schnappte sich Kleenex aus einer Box und wetterte in der Stimmlage eines krähenden Hahns: „Er hätte zumindest auf die Bühne wichsen können“, während sie wie ein Walross schnaufte und mit den Tüchern über ihren Schritt glitt.

Wie vulgär sie sich benahm, dachte sich Joos. Bei ihm auf etepetete, feine Dame spielen und hier zeigte sie ihr wahres Gesicht. Er bereute nichts, pflichtete seinem dunklen ‚Ich‘ bei.

Ommo steckte die Hand unter seinen Hosenbund, zog sie heraus und leckte seinen Zeigefinger ab. „War der Höhepunkt.“ Er lachte.
Sie schritt um seinen Bürotisch, stellte sich hinter de Ruiter, vergrub ihre Finger unter seinem Hemd und blickte, dabei warf sie ihre Haare über die Schulter, zu Jerimo, der wie ein erwischtes Schulmädchen seine Scham bedeckte.
„Hast recht so schlecht war der Kleine nicht.“ Sie grinste, obwohl ihre Augen die Erniedrigung widerspiegelten. „Ausbaufähig!“
Ruiters
strich über ihre Hände. „Genau, das mein ich auch. Ab heute jeden Abend!“
Sie blähte ihre Wangen, riss die Augen auf. Ommo drehte sich mit seinem Stuhl, zerrte sich dabei aus ihrer Umarmung, schnappte einen Schlüssel, warf ihn Jerimo entgegen und befahl: „Zimmer Fünf“.
Der Junge fing den Zimmerschlüssel, verließ, ohne ein Wort von sich zu geben, das Büro durch eine Hintertür.
Die, die sich Tinette nannte, schob ihr Gesäß auf die Tischplatte, woraufhin ihr Mantel aufglitt. „Oh! Du hast dazugelernt. Potenziale heben.“
„Na ja! Ich tue, was ich kann.“ Ommo strich ihr über ihren Schenkel, beugte sich hinab und öffnete eine Schublade. „Für dich!“
Sie nahm die Walter THP entgegen, stopfte sie in die Morgenmanteltasche. „Geht doch!“

Er traute seinen Augen nicht. Was tat der Freund? Er durfte ihr keine Pistole geben. Egal, ob groß oder klein, tödlich auf jedem Fall. Hatte er die Seiten gewechselt? Stand er ihr bei? Eifersucht überkam ihm. Der Drang, das Versteck zu verlassen, ihm, dem Freund eine rein zu knallen, überwältigte ihn. Dennoch verharrte er.

Ruiters drehte erneut mit seinem Stuhl, ergriff einen zweiten Schlüssel, schmetterte ihn auf den Schreibtisch. „Die Drei!“
Tinette trat in gegen sein Bein. „Spinnst!“
Er lachte. „Vertrag ist Vertrag. Potenziale heben!“ – „ Pjotr!“
Ein Kerl wie ein Schrank stürmte ins Büro. Auf einen Wink de Ruiters packte das Muskelpaket die Tänzerin am Genick, zerrte sie zur Hintertür.
Ommo riss ihr den Morgenmantel vom Leib. „Immer schön die Beine breit“, gab er ihr als Tipp mit auf den Weg und hielt sich seinen Bierbauch vor Lachen.

Nachdem das Türblatt hinter Pjotr in seine Laibung geschlagen war, stürmte Joos aus dem Versteck und zeigte zur Hintertür. „Was soll das?“
Sie demütigen, erniedrigen war grausam. Er hatte eine Grenze überschritten, aber sie gewaltsam auf den Strich schicken, weder seine, noch, so dachte er immer, nicht die Art des Freundes.
„Setz dich!“, befahl Ommo.
Er kam der Aufforderung nach. Hob den Morgenmantel auf, angelte die Pistole aus der Tasche, steckte sie in seinen Strumpf und hing das seidige Gewand über die Stuhllehne.
„Du hast mir das Kuckucksei ins Nest gelegt.“ Ommo wies zum Vorhang. „Warum glaubst du, habe ich meinen Laden renoviert?“
Joos griff an seine Sonnenbrille, zog die Mundwinkel herunter und hob die Schultern.
De Ruiters beugte seinen Oberkörper vor. „Kleinholz haben sie daraus gemacht. Dann kam sie. Sie hätte einen Investor.“ – „Sag nichts!“ – „Ich stecke mein sauer verdientes Geld nicht in ein Geschäft, das nicht mehr läuft“ – „Die fahren alle nach Deutschland.“ – „Alle vierzehn Tage machte sie ihren Archwackeltanz und kassierte ab. Den Laden übernehmen!“ – „Verstehst!“
Er verstand nicht, dass sein Freund von einer Bande Schutzgelderpresser überfallen wurde, nichts Außergewöhnliches in der Branche. Daher ging er davon aus, dass Ommo nicht das erste Mal betroffen war. Geläutet hatten des Öfteren die Glocken. Spekulationen! Aber sie? Abgründe taten sich vor ihm auf. Erneut ergriff ihn das Gefühl, das Richtige getan zu haben.

„Schau, der Höhepunkt“, warf ihn Ommo aus den Gedanken und drehte seinen Bildschirm derart, dass beide das Schauspiel betrachten konnten.
„Du zeichnest auf, was in deinen Zimmern geschieht?“
De Ruiters zuckte mit dem Kopf. „Ihre Idee! Mehr herausholen“. Er streckte die Zunge heraus und fischte eine Zigarre aus einer Holzkiste.
„Erpressung?“
„Interessiert mich nicht“, nuschelte Ommo. „Heute wollte sie die ersten Bänder. Konnte es mit der Spritze hinauszögern, sonst wäre sie gleich abgehauen.“ Er biss die Spitze der Zigarre ab. „Vor der Vorstellung!“ Er klopfte auf den Bildschirm. „Entschuldige wegen der schlechten Qualität. Man weiß nie, in welche Hände es kommt.“

Ein Mann, wie Pjotrs Zwillingsbruder, schritt gleich John Wayne in El Dorado durch Bild. „Igor!“
„Du kennst Igors Bullterrier?“ Ommo schlug gegen seine Stirn. „Ach ja! Du warst es.“ Er zündete die Zigarre an, blies eine blaue Wolke durchs Zimmer. „Seitdem braucht er sich keine Gedanken mehr über Familienplanung zu machen.“
Dabei hatte er auf seine Waden gezielt. Er wollte ihn nur daran hindern, zu fliehen. Wie oft hatte ihn Wouters ermahnt, auf den Schießstand zu gehen, aber die Zeit ließ es nicht zu.

Das Blatt der Zimmertür knallte gegen die Wand. Die nackte Frau katapultiert von Pjotrs Pranken, stürzte vor dem Bullterrier zu Boden, der seinen Handrücken an ihre Wange schmetterte. Er erfasste ihren Oberarm, zerrte sie auf ein Bett. Sie warf ihren Kopf zur Seite, strampelte mit den Beinen, zuckte mit den Schulterblättern, die er mit seinen Knien bändigte.
Ein untersetzter Mann erschien, öffnete seinen Gürtel und das Tier auf ihren Schultern, spreizte ihre Schenkel.
„Das reicht.“ De Ruiters schaltete den Bildschirm ab. „Ich kann Gewalt nicht ausstehen.“
Joos hob die Schulterblätter. „Was hast du mit Igor zu schaffen?“
Vor ein paar Wimpernschlägen sah er wie die Ex-Freundin von zwei Ganoven missbraucht, wie sie es nannten, eingeritten wurde, da machte er sich Sorgen um Ommo. Richtige Freundschaft gab es nur zwischen Männern.
Igor war das Letzte, die tiefste Stufe im Rotlichtmilieu. Er kratzte den letzten Rest zusammen. Zwei Bedienungen stellte er an seine Pferdchen, er schüttelte den Kopf, ein widerlicher Ausdruck für das, was sie tun mussten. Eine Frau sollte es sein, zumindest ein weibliches Geschlechtsteil besitzen, und den Preis nennen können. Den Rest füllte er mit Importware auf.
Immerhin war er Kaufmann. Importeur für russische Spezialitäten nannte er seine Unternehmung. Nie konnte man ihm was nachweisen. Nicht einmal dann, das kam vor, wenn seine Ware eigenständig das bewachte Lager verließ.
Joos kratzte sich am Kinn. „Ist Igor nicht in Hamburg?“
Ommo blies eine Wolke hervor und legte seine Füße auf den Tisch. „Juist! Macht jetzt auf Export. Ich hatte was gut bei ihm!“

Welcher Art Schulden Igor bei Ommo hatte, wollte er nicht wissen. „Wie Export?“
De Ruiters platzierte eine quadratische Flasche, auf dem ein Mann im roten Rock und Zylinder vergnügt Schritt auf den Schreibtisch. „Er hat einen Oligarchen aufgetan. Der macht auf Öl und Gas.“ Der Verschluss knackte, derweil stellte Ommo zwei Gläser parat. „Die Damen, die er importierte, exportiert er jetzt.“ Die goldbraune Flüssigkeit rann in die Trinkgefäße. „Nein!“ Er erhob den Zeigefinger, verteilte die Trinkgläser. „Vermietet sie an Bohrplattformen.“ – „Eher an den Typen, der die Frauen als Sozialleistung den Männern zu Verfügung stellt.“ Er schwang sein Glas. „Prost!“
Ommo griff in seine Hemdtasche, warf zwei Geldscheine auf den Tisch. „Mehr war sie nicht wert.“ Erklärte er und nahm einen Schluck. „Einmal besaufen.“
Joos ergriff sein Glas und stieß an. „Dann versaufen wir ihn.“
„Ihn?“

Joos verdrehte die Augen. „Sie war ein Mann.“
„Und?“, konterte Ruiters. Er schlug an seine Stirn. „Ich versteh! Deshalb?“ – „Du pimperst sie, dann erzählt sie dir, dass sie als Mann besser war.“ Er lachte.

Auf die Idee war er kurz gekommen, aber bei ihm lag es anders. Seine Wut beschränkte sich einzig und allein darauf, dass sie sich als Tanja ausgegeben hatte. Zumindest hätte sie ihn aufgeklärt können, nachdem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Kopuliert hatten sie nie, nur Oral oder … er bewegte seine Finger. Sie sei noch nicht reif, hatte sie jedes Mal ihm zugeflüstert oder kurz vorher musste sie dringend los, hatte Kopfschmerzen, ihre Tage.
Ommo lachte. „Also ich habe keinen Unterschied bemerkt.“
„Hast du mit ihr?“
De Ruiters tippte an seine Schläfe. „Mit der nicht. Mit Ayleen!“
„Ayleen?“
„Hast du das nicht gewusst?“
„Was!“
„Ayleen war nicht immer eine Frau.“
Joos blähte seine Wangen, sah Ommo mit aufgerissenen Augen an und schüttete sich einen Schluck Whiskey in den Mund.
„Sie hat vor ein paar Jahren als Barmann für mich gearbeitet. Die Mädchen haben ihm vorgeschwärmt, wie viel sie an einem Abend verdienen.“ – „Dann kam er nach einem halben Jahr zurück. Als Ayleen!“
Er schüttelte den Kopf. „Ach! Was erzählst du? Das geht gar nicht. Psychologische Gutachten, Auflagen, das dauert Jahre bis aus …“
De Ruiters grinste. „Aber nicht in Thailand“ Er rieb den Daumen am Zeigefinger. „Investition hatte er es genannt.“ Er klemmte den rechten Daumen zwischen Ring- und Zeigefinger. „War mit seiner Freundin rüber. Offiziell heißt er weiterhin Jonas.“
„Freundin?“
„Du meinst!“ – „Ne! Schwul war er nicht – eher das Gegenteil. Sagte dir gerade ein Investment. Meine Mädchen lassen sich die Brüste aufpumpen und er …“ Ommo fuhr mit der Hand über seinen Schritt, dabei bewegte er seine Finger wie eine Schere und spülte Whiskey in seine Kehle und brummelte in sein Glas: „Nicht das erste Mal, dafür freiwillig“.
Joos würgte. Nicht, weil er einmal mit Ayleen … das Geschäft widerte ihn an. Dass Frauen, des Geldes wegen, ihren Laib verkauften, diesen dafür manipulierten. Aber Männer?

Ommo schenkte nach, stieß mit seinem Glas an das seines Gastes. „Mal ehrlich! Hast du es nicht gewusst?“ Er klopfte mit der Zunge gegen die Innenwand seiner Wange. „Ihr wart sehr eng miteinander. Ein guter Fang für sie. Du bist ja nicht Arm.“ – „Also ich für mein Teil“, er wies durch das Büro. „Ich musste schwer schuften. Nicht nur wie du als Hobby.“
Er klopfte an seine Sonnenbrille. „Mir war sie zu jung. Es war mir schnell klar, dass sie an mein Erbe wollte“, log Joos.
Sie hatte ihn verlassen, weil er von ihr verlangte, nicht mehr anschaffen zu gehen. Er war nie ein guter Missionar.
„Jetzt hat sie ihren Traumprinzen, sogar“, Ommo griff an seine Brust, „zwei Rippen hat sie sich entfernen lassen. Der Typ steht auf Burleske wie“, er klopfte auf die Geldscheine. „Investition!“
Ommo nahm einen Schluck. „So ein reicher Fatzke aus Norddeutschland.“ Er verschränkte seine Arme am Genick. „Sie war letztens hier. Wenn sie ihre Papiere hat, läuten die Hochzeitsglocken. Du kriegst bestimmt eine Einladung. Solange arbeitete sie freischaffend, aber nur mit Frauen.“ – „Sie steht halt auf Titten!“

Pjotr stampfte durchs Büro und grummelte: „Wa-re-packt“.
Bei dem Anblick kam ihm wieder Igors Männer in den Sinn und warum sie im Club waren. Es gab Gruppen im Milieu, die verstanden keinen Spaß. Erst recht nicht, wenn ein Kunde Mitglieder der Führungsebene beseitigte. Und das musste sie gewesen sein. Frauen galten für sie nichts, keine Menschen, eher Sklaven. Es sei denn, die ganz oben waren weiblichen Geschlechts.
„Was hast du vor zu unternehmen?“
Ruiters zog den linken Mundwinkel empor, worauf sein Goldzahn blinkte. „Weswegen?“
„Die Schutzgeldmafia!“
Tief einatmend, tippte de Ruiters auf seine goldene Markenuhr. „In zwei Stunden und zehn Minuten gebe ich den Schlüssel ab.“
„Wie?“
Der Clubbesitzer runzelte seine Stirn, dabei trällerte er: „Ich habe den Laden verkauft.“ Er rieb die Lippen. „Verschenkt mit allem Drum und Dran inklusive Verbindlichkeiten. Diese Sache mit der Tinette war eher ein Abschiedsgeschenk.“
„An wen?“
„Pjotr! Sollen sich die Russen gegenseitig totschlagen.“

Die Hintertür glitt auf, Jerimo glitt durch den Spalt, schlich, vollständig bekleidet, zum Schreibtisch und übergab Ommo den Zimmerschlüssel.
„Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“, fuhr ihn de Ruiters an.
„Ich habe mich mit Ayleen unterhalten“, entschuldigte er sich und verdeckte seine Lippen. „Ups!“
„Ayleen ist hier?“
„Wegen der …“, erneut versuchte er seine Worte, zurück in den Mund zu schieben.
Ommo senkte den Kopf und sah ihn an. „Jerimo du Schwuchtel, raus mit der Sprache.“
„Du weißt, dass ich keine Geheimnisse behalten kann“, wisperte Jerimo. „Die Mädels und ich habe eine kleine Party für dich in ‚De Rode Tulp‘ vorbereitet." Er grinste. „Sind alle da.“

Joos wies zum Vorhang. „Wer?“
„Frag Pjotr“, blies Ommo in sein Glas. „Ich habe allen Mädchen einen seriösen Beruf vermittelt. Du hast immer recht gehabt.“ Er schlug auf den Schreibtisch. „Prostitution verbitten das einzige Mittel.“
„Außer Chantal“, warf Jerimo ein.
„Na ja, sie ist unverbesserlich!“
„Und …“, setzte sein Gegenüber ein.
„Schnauze“, harschte de Ruiters.
Joos kratze sich hinterm Ohr, strich mit den Fingerspitzen über die Sonnenbrille. „Wie lange kennen wir uns?“
De Ruiters wandte seinen Oberkörper, tippte auf den Wandkalender. „Fast auf den Tag vor zwölf Jahren. Ich erinnere mich genau an diesen Tag, wie deine Band meinen Laden demolierte.“ Er schwang zurück. „Hatte gerade aufgemacht.“ - „Ein einfacher Club mit erotischen Theatervorführungen, nicht einmal Zimmer hatte ich damals.“
„Stimmt! Meine letzte Großrazzia bei der Sitte.“ Joos pochte auf den Schreibtisch. „Aber entschuldigt, habe ich mich gleich am nächsten Tag bei dir.“
„Bist nun mal ein Netter“, lobte Ommo. „Deiner Medusa hast du bis jetzt nur die Schlangenhaare frisiert.“
„Genau! Bis jetzt.“ Er presste den Zeigefinger gegen den Daumen. „Ganz dich bin ich dran.“ Das Gesicht verzogen, strich er mit der Handkante über seinen Hals. „Kopf ab!“
„Dann pass auf, dass du ihr nicht in die Augen schaust“, hauchte Ommo. Es klang wie eine Warnung.
Joos hob die Sonnenbrille. „Bin gerüstet!“
De Ruiters blinzelte. „Im Stechen bin ich besser.“

Ommo stand auf und schlug seinem Freund auf die Schulter. „Komm! Lass uns zur Party gehen.“
„Aber?“, stotterte Jerimo.
De Ruiters stieß ihn in die Rippen. „Dann fangen wir eben eher an.“ Er ergriff die Geldscheine und stopfte sie Joos in die Hemdtasche. „Die Tinette versaufen wir ein anderes Mal.“
Joos stemmte sich hoch. „Neue Pläne? Beruflich.“
„Privatier“, antwortete Ommo. „Die Koffer sind gepackt. Ab an die Cote-Azur!“
„Mit deiner neuen Freundin?“
De Ruiters steckte das Hemd in seine Hose. „Meiner Zukünftigen! Den Hafen der Ehe ansteuern!“
„Wie heißt deine Auserkorene?“
„Janet – steiler Zahn! Ich habe sie in München auf dem Bahnhofsparkplatz kennengelernt. Sie hatte sich ihr Strumpfhöschen aufgerissen. Ich konnte sie doch so nicht mit dem Zug fahren lassen. Da habe ich sie nach Hause gebracht.“ Ommo erhob seinen Zeigefinger. „Sie ist Rechtsanwältin.“



Segeln ist nichts für Mädchen

Bernadette kauerte, versteckt hinter einem Fischernetz, in einer Ecke der winzigen Fischerhütte und schob fröstelnd ihr Nachthemd über ihre Knie. Die Ballerina auf der Spieldose drehte wie immer ihre Pirouetten, als wäre nichts geschehen. Der Tag würde bald anbrechen, der Fischer sie entdecken und ohne seine Absicht sie den Mörder ihrer Eltern übergeben. Flucht, der einzige Weg für sie, ihrem Schicksal zu entfliehen.
Mit zitternden Beinen stand sie auf, schritt zu den Harken, an dem ihr Freund und Sohn des Fischers seine Sachen zum Trocknen aufhing. Sie schlüpfte in seine Hose, zog den löchrigen Pullover über, der nach Meer und Fisch roch, setzte sich, ihre Haare unter den Stoff stopfend, seine Wollmütze auf.

Die Spieldose in der Hand, kroch sie geduckt aus der Hütte, schlich zum Bootssteg und kletterte in das kleine Segelboot, mit dem sie des Öfteren, zusammen mit dem Fischerjungen, zum Angeln gesegelt war.
Ihr Ziel wage, hisste sie das Segel, fing den Südwind ein und erlaubte dem Boot in Richtung Elbmündung zu gleiten.


Seit über einer Stunde hockte er in seinem Versteck, aber von Sophia war keine Spur. Seine gesammelten Erkenntnisse, dass Bärbel Sophia war, hatte er verarbeitet. Den ersten Gedanken daran, sie wäre seine Mutter hatte er verworfen. Die Tatsache, dass sie die Schwester, er strich das Wort, ersetzte es durch Cousine, Tanja adoptiert hatte, untermauerte seine Schlussfolgerung.
Tanja war ihre Tochter. Gezeugt in Schande, vergewaltigt von seinem Erzeuger, ihrer Mutter war dadurch die Chance verwert, ins Kloster einzuziehen. Beide Schwestern tauschten ihre Identitäten. Somit war er Bärbels Kind und sie weiterhin die Tante. War diese Qual eine ihrer Prüfungen?
Er zupfte an seinem Ohrläppchen und flüsterte „Die Geburtsurkunde!“ Klar! Berichtete sie ihm nicht, Antonia wäre ein Versehen gewesen. War sie das wirklich? Das Dokument, welches sie ihm präsentierte, das Original. Hatte Sophia ein Verhältnis mit Karl? Gestanden hatte sie ihm die Liebe nie. Konnte es sein? Seine Mutter, ihrer Schwester beigestanden, und geholfen, indem sie das Kind angenommen hatte.
Wo war es? Weggeben in ein Heim, wie der Spross eines Priesters verwahrt, der Umwelt entzogen. Oder vor Gram verstorben? Die tiefe Sehnsucht zu ihrer Tochter hatte sie veranlasst, aus ihm Antonia zu modellieren. Antonia – Toni! Wie nie zuvor verzahnte sich das Wortspiel in seinem Schädel. Die Erklärungen Tanjas wären nichts anders als Ablenkungen gewesen.
Wie weit Tanja und Sophia alias Bärbel unter einer Decke lagen, war ihm ungewiss. Zumindest hatte seine Tanja sie nicht alarmiert. Er hatte Tanja angerufen, ihr mitgeteilt, er benötigte die Zeit, um in sich zu kehren.
Er ergriff seinen Rucksack, in dem er die nötigsten Sachen geworfen hatte: Zahnbürste, das Geburtstagsgeschenk von Tanja und eine Auswahl von Büchern. Den Inhalt der Reisetasche, welche er am Vorabend heimlich gepackt hatte, hatte er vorsorglich wieder in seinen Kleiderschrank gelegt.
Mit dem Fuß drückte er die zu einem Spalt geöffnete Tür auf, schob sein Gesäß so weit vor, bis sein Kopf den Rand der Öffnung erreichte. Die rechte Hand auf der Tür abgestützt, erhob er sich, dabei fegte er die Spinnweben von seinen Knien und presste anschließend die Verschlagtür in die Laibung. Die Hände am Treppengeländer blickte er hinauf, wandte seinen Kopf zum Hinterausgang und schwang den Rucksack über seine Schultern. Nach einem Schulterblick zur Treppe schlich er zum Hauseingang.

Er nahm den Weg durch den Park. Es war der schnellste und nach seiner Meinung der Sicherste. Den Umstand, die Straße, an der Olgas Brautmodengeschäft lag zu nehmen, verdrängt er.
„Thorben!“
Den rechten Fuß nach hinten gehoben, den linken Daumen unter dem Riemen des Rucksacks, verharrte er.
„Warum warst nicht an unserem Treffpunkt?“, zischte ihn Tami an und legte ihre Finger auf sein Schulterblatt. Die Hand auf seiner Schulter, umkreiste sie ihn, rückte ihr Gesicht an seine Nase. „Hab auf dich gewartet.“
Toni schüttelte ihre Hand ab und riss die Augen auf. „Lüge nicht! Eine halbe Stunde stand ich herum.“
Mit den Knien wippend, hob sie ihre Arme, flatterte wie ein Huhn. „Ach! Meine Mutter hat mich nicht eher losgelassen.“ Sie zog den rechten Mundwinkel empor. „Hättest warten können?“ Ein Lächeln auf den Lippen stieß sie gegen den Rucksack. „Wohin willst?“
Den Kopf gesenkt, zog Toni mit der Spitze des linken Schuhes eine Linie. „Zum Bahnhof“
„Verreisen?“
„Weg“
Tami kniff die Augenbrauen zusammen. „Wie weg?“
Toni zuckte mit den Achseln und zischte: „Weg eben! Lass mich in Ruhe“, dabei hob seinen rechten Fuß.
Ihr Gesicht der Boutique zugewandt, strich sie über seine Taille und biss auf ihre Unterlippe. „Wart! Komme mit. Begleite dich.“
Die Hände wie ein bettelnder Hund vor der Brust lief sie zum Geschäft.
Obwohl sein Herz nach einem Menschen schrie, die Sorgen, die Furcht zu teilen, sagte ihm sein Verstand, die Vernunft, die Erkenntnis zu verschweigen. Er umgriff die Riemen seine Last, rannte wie vom Teufel gejagt die Straße hinab, stolperte um die Häuserecke und lief.

Beim ersten Rumpeln des Großraumwagens atmete er durch, nahm das Gepäck vom angrenzenden freien Fensterplatz und stellte, seinen Rumpf gebeugt, seinen Rucksack zwischen seine Beine. Ein Rock flatterte über seinen Schopf. Ein Mädchen plumpste auf den Nachbarsitz, öffnete ihre hellrosa Umhängetasche, fischte einen Klappspiegel, einen Lippenstift heraus, hielt den Handspiegel vor ihr Gesicht und malte ihre Lippen feuerwehrrot an.
„Von Warten hältst nicht viel! Oder?“, schnarrte Tami und zupfte an ihren Augenbrauen. „Dachte, ich hätte den falschen Zug.“ Klackend schnappte die Spiegeldose zu. „Ich habe dich nur, die Treppe herauflaufen, sehen.“

Toni breitete den Inhalt des Rucksacks auf dem Boden aus, öffnete die Kleiderschranktür, stopfte, beobachtet von Tami, die ihre Arme verschränkt, pausenlos mit ihrer Schuhspitze wippte, Jungenkleider in den leeren Sack.
Das Nötigste hatte er ihr gesagt, dass er ins Internat solle und er mit der Wahl nicht einverstanden. Die Art der Anstalt verschwieg er. Warum wusste er nicht? Es war nicht verwerflich, in ein Mädcheninternat zu gehen. Tami zielte mit ihrem Zeigefinger auf die Tasche. „Ich komme mit“, kam es schnippisch über ihre Lippen.
Auf der Bahnfahrt hatte sie ihm erzählt, dass Olga von ihrer Mutter die Erlaubnis eingeholt hätte, bei einer Freundin zu übernachten.
„Das geht nicht“, antwortete Toni, ohne sich ihr zuzuwenden. „Fahr du wieder heim. Ich muss allein mit Sophia sein.“
Die Augen weit geöffnet, zog sie ihren Kopf zurück. „Du hast eine Freundin, dachte …“
Die Rechte am Genick richtete er sich auf. „Sophia ist mein Segelboot!“ Er zupfte an seinen Ohrläppchen und dachte ‚meine Tante‘.

Ihm war bewusst, dass er das Schiff nicht allein beherrschte. Ein zweiter Mann war vom Vorteil. Weit hatte er nicht vor, zu segeln, nur bis Mellum. Klare Seeluft, klare Gedanken.
„Mit einem Boot wollte ich schon immer fahren", konterte sie.
Er musterte ihren grauschwarzen Minirock, ihr rosa Top. „Das ist nicht für Mädchen!“.
„Nur weil’s mal einen Rock angezogen hast, heißt das lange nicht, dass dich über Mädchen lustig machen kannst.“
Die Logik in ihren Worten verstand er nicht. Zumindest war er erleichtert, inwieweit sie ihm die Lüge mit den Kleidern für die Hochzeit abgenommen hatte.
Toni kniete nieder, nahm die Bücher, den Kompass, stand auf und kehrte ihr den Rücken zu.
„Wohin willst?“
Im Schritt verharrt, hob Toni die Schultern. „Proviant suchen.“
„Wie Bitte?“
Er drehte sich zu ihr um, steckte den rechten Zeigefinger in die Mundhöhle. „Essen.“
Dumm war sie gleichermaßen, eben ein Mädchen.

Kopfschüttelnd rannte Toni die Holztreppe hinab, lief in die Küche und schnappte sich den Weidenkorb der verstorbenen Großmutter. Zumindest war sie es weiterhin, egal ob Bärbel oder Sophia seine Mutter war. Er deponierte die Bücher in den Korb, hing ihn über seine Armbeuge und schritt zum Vorratsschrank.
Sein Gewissen plagte ihn. Der Schreck der Wahrheit hatte ihn in seinem alten Trott geworfen. War es nicht sein Ansinnen, sein Bestreben gewesen, mit dem Törn sein altes Leben über Bord zu werfen, sein wahres Ich zu erkunden. Was konnte Tami dafür? Nichts!
Er öffnete erneut den Vorratsschrank, holte eine Flasche Cola heraus. Cola-Light gab es nicht. Die Mundwinkel emporgezogen, befüllte er zwei Gläser.

Eins der beiden Gläser fiel auf die Holzdielen, zerbrach in Stücke, verteilte dabei seinen Inhalt. Nicht, dass ihm der Anblick, die Männerbüx an ihren Beinen erschreckte, obwohl es keine von seinen war, er trug nur weite und die letzten zwei hatte er in den Rucksack verstaut. Es war eine von Tanjas, die überzeugt war, dass derartige Jeans ihre Rundung unterstrich. Das dunkelblaue T-Shirt mit dem Piratenmotiv ließ ihn ebenfalls nicht zusammenzucken, da es eins von seinen war.
Der Umstand, dass sie ihren Zopf umklammerte und an ihrem Oberschenkel hielt, an dem er nicht zu suchen hatte, sowie eine Schere mit der anderen Hand, ließ ihn versteinern.
„Was hast du getan?“
Sie schob die Unterlippe hervor. „Hast gesagt, ich sehe aus wie’n bemalter Junge.“ Sie hielt ihm den abgeschnittenen schwarzen Zopf entgegen. „Jungen können segeln!“
Er erinnerte sich an den Ausspruch. Ihr Gesicht hatte jungenhafte Züge, kantig, herb.
Sie rieb über ihren Nacken, strich durch das restliche Haar. „Wollte mir de Dinger eh abschneiden.“ Sie zuckte. „Praktischer!“
Die Lider geschlossen, dachte er an Alina, die den gleichen Spruch darauf hatte. Für ihn war es undenkbar, sich die Haare abzuschneiden. Jedenfalls freiwillig.
Das verbliebene Glas weiterhin gefasst, schlich er auf sie zu, sah ihr ins Gesicht. „Ohne Lippenstift und Schminke?“, murmelte er und senkte den Kopf. „Aber!“
„Kein Problem.“ Sie lachte, griff in eine Schublade des Schrankes, öffnetet Knopf und Reißverschluss der Hose und stopfte ein zu einem Ball geformtes Paar Socken zwischen ihre Schenkel.
„Alles, wo’s sein muss!“
Er wies auf ihre Brust und zog einen Mundwinkel herauf. „Alles, wo’s sein muss?“, wiederholte er papageienhaft.
Sie verschränkte ihre Arme. „Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht! Vielleicht’n weiter Pullover.“
Toni schaute aus dem Fenster. „Es ist Sommer, und auf meinen Boot sieht dich niemand.“
Den Blick gen Zimmerdecke klopfte sie an ihren Nasenflügel. „Habt ihr’nen Verbandskasten?“
Die Lippen verdeckt, betrachtete er ihren Hals. „Hast du dich geschnitten?“

Toni fasste ans Treppengeländer. Was sollte der Quatsch? Mellum unbewohnt, abgesehen von den Vogelglubschern, wie der Großvater sie genannt hatte, die ausharrend im Schilf Federvieh zählten. Denen es egal war, ob Mann oder Frau, Mädchen oder Junge die Insel betraten, solange die Besucher ihre Schätze nicht aufschreckten. War sie naive? Glaubte sie an seine Geschichte, dass Ziepeltrienen am Bord Unglück brachten?
Er presste ihren Zopf an seine Nase und inhalierte den Duft von Lavendel und Zitrone. Das Haarkleid, die Seele des Weibes? Grimms Märchen schwebten ihm durchs Gehirn. Rapunzel. Waren die Gefühle, die sie empfand, mehr als Freundschaft?
Vor ein paar Wochen hätte er vor Freude einen Purzelbaum geschlagen, sie umarmt. Ihr einen Kuss auf ihre rosa Wange gedrückt. Sein Puls, ohne Erregung, roch er an ihrer Flechtfrisur. Zuneigung wie zu einer Schwester nahm er wahr. Sein Herz war vergeben.

Tami umgriff die Mullbinde, überkreuzte die Arme, fasste mit den Fingern an den Saum des T-Shirts und zuckte mit den Augenbrauen. „Dreh dich um“, befahl sie.
Er tat ihr den Gefallen, obwohl unlogisch, da sie ihm bereits bei ihrem zweiten Treffen freiwillig ihre Brüste präsentiert hatte. Toni zupfte an seinem Ohrläppchen. Nicht nur die. Er presste die Lippen, schüttelte den Kopf. Widersprüchlich? Nein! Konsequent! Welches Mädchen zeigt dem Freund, in den sie sich frisch verliebt hatte, ihren Busen. Erfahrung hatte er keine, er holte sich sein Wissen aus Büchern. Reden mit ihr, der wahre Gedanken. Jetzt? Die Stunden auf der Insel waren trefflicher dafür geeignet. Die Ödnis, die Seeluft, der Ort, die Zeit, ihr alles anzuvertrauen, ihr ein Schweigegelübde zu entlocken.
Toni drückte seinen linken Zeigefinger an die Unterlippe, schwang den Kopf im Takt und berührte ihren Oberkörper. „Na ja!“
Sie zuckte mit den Achseln. „Männerbrust!“, brummte sie eine Oktave tiefer.

Tami kickte ihren Kopf zur Seite. „Lass uns gehen!“
Toni presste den Unterleib an die Fensterbank und drückte seine Nase an die Scheibe des Fensters und raunte: „Zu früh!“ Er klopfte ans Glas. „Der Hafenmeister würde uns entdecken.“
Ihre Stirn gerunzelt, schritt sie auf ihn zu, legte ihre Rechte auf seine Schulter. „Is doch dein Boot! Oder …“
Er wandte sich zu ihr um. „Erst seit ein paar Tagen.“ Die Oberlippe leckend, schielte er zu einem Wecker, der auf dem Nachttisch stand. „In einer Stunde glotzt er seine Lieblingsserie im Fernsehen, dann hört und sieht er nichts.“
Den rechten Ringfinger am Kinn, drehte Tami eine Pirouette, streifte mit ihren Linken über die Wand des Kinderzimmers. „Hast etwas dagegen, wenn ich mir das Haus deiner Urgroßmutter anschaue?“
Die Schultern erhoben, kehrte Toni ihr den Rücken zu. „Tue dir keinen Zwang an!“, hauchte er der Fensterscheibe entgegen.
„Kennst mich“, spöttelte sie. „Wohin fahren wir eigentlich?“
„Mellum.“
Zwei Kinder tobten im Watt.



Die Sünderin klagt an

Tanja saß am Küchentisch, drehte eine Visitenkarte und blickte zum Fenster. Eine Frau stand vor diesem, sah in die Nacht, als erwartete sie den Morgen. „Du kannst ihm vertrauen. Er ist verrückt, durchgeknallt aber ehrlich“, sprach sie. „Er wird euch helfen.“ Die Frau schlug auf die Fensterscheibe. „Wie konnte ich nur meine Erlaubnis geben!“
Tanja senkte den Kopf und warf die Karte auf den Tisch. „Sie ist alt genug.“

„Ein Kind!“ Sie schlug mit ihrem Schädel gegen die Scheibe. „Nur Unheil verbreitest du. Verführst meinen Mann, schläfst mit ihm und den anderen bringst du um.“
Tanja richtete ihren Oberkörper auf. „Ja! Das mit Anton gebe ich zu. Ich habe nie verheimlicht, was ich getan habe. Gelitten die ganzen Jahre habe ich. Versteckt. Aber Doc?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“
Erneut klirrte das Glas. „Lüge nicht, gesteh! Erwischt habe ich euch.“ Es kreischte wie Kreide auf einer Schultafel, als sie mit ihren Fingernägeln über den Fensterrahmen kratzte. „Gebeten hatte er dich, dass endlich Schluss sei. Er in Unterhose. Du nackt auf deinem Bett. Die Beine gespreizt. Die Finger …“
Tanja schlug auf den Tisch. „Deswegen hast du mich in Stich gelassen, wegen eines Missverständnisses. Weiß Gott, nie hatte ich etwas mit Doc. Er war wie ein Vater für mich.“
„Lass den Allmächtigen heraus!“

„Wieder auf den Weg der Tugend brachte mich Doc.“ Tanja stützte den Kopf ab. „Mit unzähligen Kerlen habe ich geschlafen, aber nie mit ihm.“ Sie zog ihre dünnen Augenbrauen zusammen. „Spaß hat es mir gemacht. Geld gab es obendrein.“
Tanja drehte sich eine Locke. Was erzählte sie? Hatte sie sich nicht vorgenommen, reinen Tisch zu machen, dafür endlich das einzufordern, was einer Tochter von ihrer Mutter verlangte. Fürsorge und Liebe erwartet sie, nicht Vorhaltungen. Warum blieb sie sich treu? Log, log, log.
Die Frau griff sich in ihre Haare. „Willst du damit sagen..?“
„Anschaffen!“, überlagerte Tanja ihren Satz. „Nenne es beim Name! Heute sehe ich es genauso.“
Ihr Gesicht gegen an Fensterrahmen gepresst, drehte die Frau am Fenstergriff. „Warum? Des Geldes wegen? Du hastest eine gute Stelle im Krankenhaus.“
Tanja legte ihre Unterarme auf den Küchentisch und blickte zur Seite. „Weil es mir Spaß gemacht, mich bereits beim ersten Mal angetörnt hat. Er war nett, machte mir Komplimente. Dabei wusste ich gleich, was er wollte. Wir sind aufs Zimmer und besiegelten unseren Vertrag.“ Sie biss auf ihre Unterlippe. „Du bist die Erste, der ich das beichte.“
„Die ganze Geschichte mit der Vergewaltigung gelogen?“
„Woher weißt du, die …“, zischte Tanja.
„Die Spatzen pfeifen sie von den Dächern!“
„Ja gelogen!“ Sie schlug mehrmals auf den Tisch. „Ich konnte niemanden die Wahrheit sagen. Dabei hatte ich aufgehört. Gebeten hatte er mich, auf den Knie gerutscht war er vor mir.“
Wer steuerte ihr Lippen? Sie verstand selbst nicht mehr, was sie sagte.

Die Frau klopfte mit der flachen Hand gegen die Fensterscheibe und grummelte: „Also doch. Deswegen wolltet ihr nach Deutschland.“
„Wovon sprichst du?“ Tanja verdrehte die Augen. „Ach! Du meinst. Ich habe dir gerade gesagt, dass Doc nichts damit zu tun hatte. Er wollte nach Hamburg und mir hat er einen Studienplatz in Göttingen besorgt.“ Sie beugte sich vor. „Anton war es!“
„Beschuldige keine Unschuldige. Versuch deine Tat, nicht zu rechtfertigen!“
Tanja tippte an ihre Stirn. „Unschuldig? Der Clubbesitzer war Antons Kumpel. Er wusste, was ich tat, verlangte für sein Schweigen, dass ich mit seinem Geschäftspartner …“
„Mord bleibt Mord.“
„Es war ein Unfall. Ja. Ich dachte, er war es gewesen, zählte eins und eins zusammen. Erst sein Verlangen, dann die Schatulle mit dem Segelbootmotiv aus Muscheln, dass er der Entführer war.“
„Wieder eine von deinen Märchen. Nutte.“
Tanja drehte sich erneut eine Locke. Märchen ist gut , dachte sie sich. Was ist eine Mär, was eingebildet, was erlebt?
Sie übertrieb es. Dabei wollte sie von ihr die Wahrheit erfahren. Warum die Frau, die sie Mutter nannte, sie immer wieder in Stich gelassen hatte.
„Mutter!“
„Ach! Anton war ein großherziger Mensch. Nie hätte er dich zu so etwas gezwungen.“ Sie zupfte an der Gummidichtung des Fensters. „Außerdem“, sie sah zu Boden, „war er dein Vater.“
Tanja schluckte.
„Enttäuscht! Du warst der Ansicht, Doc wäre es gewesen?“
In diesem Momente dachte Tanja an nichts.
„Doc habe ich geliebt, denn einzigen Mann in meinem Leben, dem ich verfallen war. Er konnte keine Kinder bekommen.“ Sie presste die Stirn an Glas. „Ich habe es später erfahren.“

Die Gedanken kreisten in ihrem Gehirn. „Tanja, Stephen und Franziskas erstes Kind!“
„Franziskas Kind, welches sie abgetrieben hat“, konterte die Frau.
„Ja!“
„Es hat nie existiert. Fantasie. Franziska lügt, wenn sie ihren Mund aufmacht.“ Sie lachte. „Soll ich dir die Wahrheit erzählen?“
Tanjas Unterkiefer sank, gefolgt von ihren Schultern, hinab. „Bitte!“
„Bis zu einem gewissen Grad waren wir alle Freunde. Nicht, wie du vielleicht denkst. Jedenfalls nicht am Anfang“, begann sie ihre Geschichte.
Sie hatte sich von ihrem Freund getrennt, liebte einen anderen, erzählte sie. Doc! Dass er längst in festen Händen war, wusste sie. Sie gestand ihm ihre Sympathie. Für ihn war dies kein Problem. Sein Herz wäre groß gewesen. Er liebte die Menschen, nur eben unterschiedlich.
Damals hätte er als Assistenzarzt im Krankenhaus gearbeitete und sie hatte ihr Studium absolviert. Fast eine Woche kamen sie nicht aus dem Bett. Am Wochenende wäre Anton erschien. Er zog sich aus, legte sich dazu.
„Da wurdest du gezeugt.“
Anton hätte von seinem Alten die Schnauze voll gehabt. Seine Nazi-Ansichten sowie das Dorfleben hätten ihn angekotzt.
Raus wollte er. Die Welt sehen. Nach Indien reisen. Alle drei wären begeistert gewesen, daher hätten sie sich ihm angeschlossen. Vorher jedoch wollte er es ihnen zeigen. Wie er es geschafft hatte, konnte sie nicht mehr sagen, nur dass die Idee vom Friedenscamp neben Alfons Hof auf seinem Mist gewachsen war.
Die Sache lief aus dem Ruder. Franziska schwänzelt um Anton herum. Sie hätte jeden erzählt, sogar denen, die es nicht wissen wollten, dass sie Anton versprochen wäre.
„Dabei war sie minderjährig. Ein Kind“, stöhnte sie. „Ich stellte fest, dass ich schwanger war.“ Sie griff in ihr Haar. „Beichten wollte ich. Eine blöde Idee.“
Ihr Ex-Freund erschien in der Kirche, machte ihr jedoch keine Vorwürfe. Er hätte ihr ins geflüsterte, sie solle tun, als zeugten sie auf dem Altar ein Kind.
„Ich hatte ihm nichts gesagt.“
Aufgestachelt von Alfons trieb sie der Mob aus dem Dorf, berichtete sie weiter. Sie flohen. In einem Hotel in Passau verbrachten sie die ersten Tage. Ihr Ex-Freund erschien mit Franziska im Schlepptau, um seine Verantwortung zu tragen. Sie verschwieg ihm, dass er nicht der Vater war. Die anderen zogen weiter und sie mit ihm zusammen.
„Auf den Senkel ist er mir gegangen mit seiner heilen Familienwelt, dabei war er verheiratete, hatte selbst ein Kind. Ich habe die Verrückte gespielt und er hat das Weite gesucht. Na ja, schlecht war er nicht.“

Wie oft hatte Tanja diese Geschichte gehört. Jedes Mal anderes erzählt, aber im Kern gleich und mit demselben Ergebnis. Sie hatte es satt. Keiner berichtete die Wahrheit, alles war gelogen oder von der Zeit verfremdet. Wie ihre Märchen, welche sie spann. Es musste endlich damit Schluss sein. Endlich ein neues Leben beginnen. Ein Leben ohne Lügen führen.
„Tanja, Stephen“, fing sie ihre Frage wieder auf.
„Tanja? Doc ist ihr Vater und Anton, glaube ich, ihr Erzeuger.“ Die Frau strich über den Fenstergriff. „Blieb in der Familie. Aber was hat sie …“
Tanja fuhr ihr ins Wort. „Wie?“
„Doc und Anton waren Brüder! Wusstest du das nicht? Direkt gesagt hatte er es mir nicht, aber ich habe Augen im Kopf. Erst erzählte er, dass er seinen Bruder wiedergesehen hatte, dann hängt er mit Doc ab.“
Tanja zog ihre Augenbrauen zusammen. Wenn sie nicht wüsste, dass ihre Mutter zurzeit keine Drogen nahm. Sie hätte sie angenommen, sie wäre vollgekifft. Ihre Sätze widersprachen sich und waren für sie eher unlogisch.
„Nein.“ Tanja schloss die Augen. „Stephen?“
„Welchen Stephen?“
„Den Mann, den ich geheiratet habe.“
„Soweit ich weiß, Valentins Junge.“ Sie atmete tief ein. „Anton war ein Guter. Er hat sich Franziskas angenommen, ihr ein Heim gegeben. Sie nie berührt. Valentin war regelmäßig bei ihr und teilte mit ihr das Bett.“
Tanjas Lungenflügel entließen ihren Inhalt.
Das Fensterglas vibrierte. „Anton hätte dich nie zur Prostitution gezwungen. Deine Schuld auf ihn abwälzen. Schande. Geh! Lass mich allein.“
Tanja ging ohne ein Wort des Abschiedes. Die Frau am Fenster brach zusammen, versengte ihren Kopf zwischen ihre Knie und schluchzte.

Tanja japste, rang nach Luft, zerrte an ihrem weißen, rotgepunkteten Kleid. Sogar dieses schnürte sie ein, obwohl Aishe kräftiger um die Taille war. Sie senkte den Kopf, drehte ihren weinroten Pumps auf seinem Absatz. Ihr Fuß quoll heraus. Nichts passte ihr mehr. Bald sähe sie wie das Michelin-Männchen aus, dabei war sie bei ihrer ersten Schwangerschaft bis auf ihren Melonenbauch schlank geblieben. Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen Pfeiler der S-Bahn-Station an. Mit zitternden Fingern öffnetet sie ihre Handtasche und fischte die vergilbte Visitenkarte heraus.
Sie murmelte, „Joos van Düwen Chief Inspector …“, gleichzeitig verdeckte sie Mund und Nase. Ein Brechreiz überkam sie. Sie würgte, beugte sich zur Seite und spie ihr Abendessen auf die gezackten Pflastersteine. Zum Glück war sie allein.
All die Jahre hatte jeder sie als verrückt hingestellt. Die Geiselnahme für einen dummen Mädchenstreich gehalten, obwohl?
Tränen quollen aus ihren Augen, rannen über ihre mit Rouge bedeckten Wangen.
Ob dieser Joos van Düwen, dieser verrückte, aber ehrliche Kerl, das Schwein war, die Gestalt, welche sie verfolgte, konnte sie nicht beweisen. Der Schlüssel war er, dem war sie sicher.
Das Fahrlicht der heranrasenden S-Bahn erhellte den Bahnsteig.
Sie steckte die Visitenkarte in ihre Handtasche, schrie. „Ich habe ihn“, der Bahn entgegen und presste ihren Rock, den der Fahrwind lüpfte, gegen ihre Oberschenkel, warf ihren Kopf zurück und stöckelte auf den haltenden Zug zu.



Flucht über die Nordsee

Bernadette zerrte ihre Hose herauf und stand auf.
Ihr Kopf lugte gerade hinter dem Erdwall hervor, da erklang eine kindliche Stimme: „Was machst auf meiner Insel“, schnauzte sie ein Junge in ihrem Alter an.
Seine Kleidung war zerlumpter als ihre, das Gesicht schmuddelig, die Hände dreckig und die Fingernägel verkrustet.
„Strullen!“
Sie sprach wie ein Mädchen. „Pinkeln!“, setzte sie, weitaus lauter im tiefen Bass, soweit es ihr möglich war, hinterher.
„Im Sitzen?“
Der Knabe schien sie, als seinesgleichen zu halten. „Und Kacken. Schiettest du im Stahn!“
Er ballte eine Faust. „Des ist meine Insel. Ich bin der König von Nigelhörn!“
Bernadette verkniff sich ein Lachen. „Der König?“, presste sie hervor und wies über den Erdwall. „Das ist dein Schloss!“
„Wag nicht, dich lächerlich zu machen“, grummelte er. „Ich bin Fiete-Frithjof der Große, Pirat auf allen Meeren.“

Er war verrückt. Zumindest wusste Bernadette jetzt, auf welchem Eiland sie sich befand. Total vom Kurs war sie abgekommen, zu weit draußen auf der See. An der Küste zu bleiben, hatte sie sich vorgenommen.
Bernadette hielt die flache Hand an ihre Augenbrauen und drehte sich um ihre Achse. „Dummerweise ist dein Piratenschiff beim letzten Sturm gesunken und deine Mannschaft hat gemeutert.“
Frithjof senkte den Kopf und zeichnete mit den Zehen Linien in den Sand und murmelte: „Fast“. „Sie hab’n mich im Laderaum entdeckt“, er schielte sie an, „wollt in Hamburg auf’nen Überseefrachter anheuern.“ Der Junge hob seinen Kopf und klopfte auf seine Brust. „Auf große Fahrt. Amerika! Aber vorher war ich bei Piraten, nur das ewige Kartoffelschälen hat mich genervt.“ Friedhof nickte in Richtung Bernadettes Segelboot und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. „Ist des dein Nussschale?“
Sie presste die Lippen. „Glaubst du, ich bin hergeschwommen.“
Er rieb an seinem Nasenflügel. „Was hältst davon, wenn wir zusammen nach Hamburg segeln?“
Den Kopf zum Himmel gewandt, verschränkte sie ihre Arme. „Nichts!“, zischte sie und wies in die Ferne. „Ich muss nach Westen.“
Fritjof klopfte auf seine Schenkel und lachte. „Des ist aber Osten.“
„Ist egal! Nur weg von hier.“
Er zwinkerte ihr zu. „Bist wechgelaufen?“
Sie verbarg ihre Trauer hinter ihrer Angst. „Das geht dich nichts an.“

„De haben mir Proviant dagelassen. Beim Mampfen können wir‘uns ja einigen, wohin de Reise geht?“


Toni saß, die Oberschenkel zusammengepresst, die Unterschenkel abgespreizt im Dünengras und drehte die Kapitänsmütze seines Großvaters, welche sich Tami beim Verlassen des Hauses aufgesetzt hatte. Dabei stand sie ihr besser als ihm. Kaum hatten sie die am Vorabend seine Sophia gekapert, enterte Tami das Ruder und machte auf großen Kapitan.
Er warf die Kopfbedeckung in die Luft, fing sie auf und legte sie neben das aufgeschlagene Buch. Haarsträhnen von der Stirn streichend, ergriff er seine Seekarte, den Stechzirkel. Er rollte die Karte aus und stieß die Zirkelspitze in die Abbildung der Insel Mellum. Daraufhin zirkelte er bis Wangerooge, Langeoog, Norderney über Juist bis Borkum, bis zum Ende des Plans, dem Ende der Welt. Die Zähne gefletscht warf er die Seekarte ins Gras, ergriff den Seefahrtskalender und schlug ihn auf. Die Lippen leckend, blätterte er bis zur Karte ‚mittleres Nordeuropa‘. Den Kalender auf den Knien, die Zunge herausgestreckt, bohrte er die Zirkelspitze in die Außenjade und spreizte den Stechzirkel bis Borkum. Er zirkelte sich über den Plan und arbeitete sich bis Ailsa Craig vor.
Seinen Kopf zur Seite gelehnt, steckte er seinen Zeigefinger in den Mund und benetzte ihn mit Spucke. Den nassen Finger hielt er in die Luft, sodass die leichte Brise ihn an der Luvseite abkühlte. Nachdem er den Finger an seinem Pullover trocken gerieben hatte, schürzte er die Lippen, wandte den Oberkörper, legte die Handkante über den Augenbrauen an seine Stirn an und blickt zum Leuchtturm ‚Hohe Weg‘.
Wie eine sich entspannende Feder schnellte sein Brustkorb vor. Seine zu einer Faust geballter Hand schmetterte auf seinen Oberschenkel, worauf der Kalender samt Zirkel, vom Knie getrieben, ins Dünengras schleuderte.

Tamis Gesicht erschien an der Kajütentür. Sie kletterte aufs Deck, sprang über die Reling auf den Bootssteg und schlenderte auf Toni zu.
Ihren Mund verdeckt, beugte Tami ihren Rumpf. Dann reckte sie den linken Arm über ihren Kopf, trat auf ihn zu und murmelte: „Morgen“, dabei rieb sie sich die Augen.
Toni strich über sein Kinn und lächelte sie an. „Moin, moin! Gut geschlafen?“
„Wie’ne Prinzessin“, flüsterte sie, gähnte. „Du?“
„Super“, log er sie an.
Kaum ein Auge hatte er zugemacht. Die ganze Nacht gegrübelt. Immerfort kreisten seine Gedanken: Bärbel, Sophia, Tanja, Antonia.
„Lass uns Frühstücken, dann bring ich dich zur Küste.“
Sie warf ihren Kopf zurück, als besäße sie weiterhin ihre Haarpracht, und fiel neben ihn ins Gras. „Wieso?“ Sie ergriff die Seekarte. „Willst allein die Welt erkunden?“
Die Zähne gefletscht, schnappte er sich seine Karte. „Unmöglich! Das würde Wochen dauern.“

„Wo willst hin?“
Toni nahm den Seekalender, schlug die Seite mit der Karte auf und tippte auf eine Insel.
Hinter seinem Ohr entlangstreichend beugte sich Tami zum Kalender. „Glasgow?“
„Quatsch!“ Er klopfte auf das Blatt. „Ailsa Graig ein Eiland in der irischen See.“
„Warum?“
Er stand auf. „Ist meine Sache.“
Tami drückte ihren Daumen auf den Schriftzug von Glasgow und den Zeigefinger auf ihre Position. „So weit weg ist‘s nicht.“
Toni schritt auf und ab, flatterte dabei wie ein Vogel mit den Armen. „Mit einem Ozeanliner vielleicht“, er wies auf sein Boot, „aber nicht mit der Sophia, eine Zweimann-Jolle, die für Regatten ausgerüstete ist, Tempo, Wendigkeit. Der Westdrift entgegen, tagelang kreuzten, da hängt man wie ein nasser Seesack über der Reling.“
Tami breitete die Seekarte aus. „Wie wäre es mit …“ Ihr Finger schwebte über das Blatt, bis sie zustieß.
Toni beugte sich hinab. „Ijsselmeer?“
„Zum Beispiel!“
Er blickte in den wolkenlosen Himmel, zog seine Schultern herauf und raunte: „Mit ausreichend Pausen vier, fünf Tage, bei günstigem Wind drei. Warum fragst du?“
Sie hob ihre Mundwinkel, presste die Oberarme an ihren Körper, spreizte die Unterarme ab und senkte ihre Hände. „Ich komm mit!“
Toni zeigte ihr einen Vogel. „Du spinnst!“
„Hey, bleib locker! Was du kannst, kann ich auch!“
„Was?“
Tami stand auf, wischte den Sand von ihrem Hintern. „Na abhauen!“
Toni griente. „Ich hau nicht ab.“ Er wedelte mit seinen Fingern. „Ich mache Ferien.“
Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und wandte sich ihm zu. „Ich auch.“
„Deine Eltern würden das nie erlauben!“
Sie tippte an ihre Schläfe. „Aber deine Mutter.“
Er überkreuzte seine Arme, legte die Hände auf seine Schultern und konterte: „Die weiß Bescheid“.
Ein Umstand, welcher von ihm nicht gelogen war. Denn, obwohl sie nicht mehr lebte, sprach er mit ihr, wenn es darauf ankam.
Sie gab ihm eine Kopfnuss. „Meine auch.“
Er grinste, nickte.
Tami zuckte mit den Achseln und lächelte ihn an. „Zum Teil! Hab sie angerufen!“
„Wir haben Netz?“
„Einen Balken.“

Toni zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche heraus, hielt es zum Himmel und musterte die Anzeige, während Tami auf ihn einredete.
„Echt!“, frohlockte er.
Der Empfang erfreute ihn, nicht der überlaufende Nachrichtenspeicher, alle Botschaften von einem Absender, der weder Tanja noch der Admiral war. Er nahm sich vor, wenn er allein war, ihm zu antworten.
Tami schleuderte ihre Faust gegen seine Hüfte. „Krass! Oder?“
Toni sperrte den Mund auf. „Was?“
„Wie hat’s nicht gesagt!“
„Wer?“
„Meine Alte. Hörst mir nicht zu?“ Tami atmete tief ein. „Langsam. Für Jungenhirne. Olga hat Ferienhaus in Holland. Sie gefragt Mutter, ob ich mit ihr zwei Wochen Ferien. Sie nicht gesagt“, sie bewegte ihren Zeige- und Ringfinger, wie eine laufende Figur, „wie.“
Er verstand nur die Hälfte, erfasste aber die Tragweite.
„Wann hast du sie gesprochen?“
„Gestern Abend als geschnarcht hast.“
„Ich schnarche nicht“, erboste sich Toni. „Das geht nicht!“
„Wenn man auf dem Rücken liegt?“
„Das mein ich nicht, außerdem lag ich auf Deck und du in der Koje. Du kannst nicht mitkommen.“
„Warum?“
„Weil, weil.“ Er flatterte mit den Armen zum Abheben bereit.
Tami verschränkte die Arme. „Ich ein Mädchen bin?“

Die Nordsee war für ihre Verhältnisse ruhig. Tami folgte zwar mürrisch Tonis Anweisungen, die er ihr zurief, dennoch erkannte er, dass ihre Euphorie sich in Grenzen hielt. Die meiste Zeit saß sie mit überkreuzten Beinen, die Arme nach hinten gestreckt, ihren Oberkörper stützend, vor seinen Füßen und regte ihren Kopf der Sonne entgegen, sodass die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmten.
„Wo ist das Klo?“
Die rechte Hand am Ruderstock, mit der Linken fest ein Seil umfasst, starrte Toni zur Mastspitze herauf. „Achtern über die Reling und ablassen. Immer mit dem Wind“, befahl er, wie ein Kapitän eines Zerstörers.
Tami zeigte auf die Wasserfläche. „Ins Meer?“
„Glaubst du, die Roben und die Fische haben eine Toilette?“
Die Hände vorm Schritt, die Knie verschränkt, klemmte Tami ihren Kopf zwischen ihre Schulterbeine. „Aber ich muss …“
„Hättest auf Mellum gehen können.“ Er wandte ihr sein Gesicht zu. „War im Reet. In der Kajüte ist Papier“, erklärte er, wies, das Seil fest mit den Fingern umklammert, nach vorn. „Am Bug backbord vom Vorluk ist eine Klappe, darunter ist ein Eimer, da kannst du es reinwerfen.“ Er blinzelte sie an. „Der Umwelt zuliebe.“
„Wie? Die Kacke!“
Toni verdrehte die Augen. „Drummel! Das Klopapier.“
Mit einer Rolle Toilettenpapier bewaffnet, schwänzelte Tami zum Bug.
„Leine dich an!“, schrie Toni.
„Das Meer ist ganz ruhig“, konterte Tami, griff an ihre Rettungsweste und schwang ihr Becken.
Er verdeckte seinen Mund und schrie ihr glucksend hinterher: „Wenn was daneben geht, dann schrubbst du Außenboards.“
Er verabscheute es, wenn Landratten aus falscher Scham den Bug verschmierten. Über das Heck war die Notdurft reinlicher zu versenken. Er hätte weggesehen.

Sie hatten weiterhin gute Winde, machten deshalb mehr Fahrt, kamen schneller voran, als Toni es für möglich gehalten hatte. Daher entschied er zu ankern und Tami erklärte sich bereit, als Smutje das Mittagessen zu bereiten, obwohl ihre Augen Toni verrieten, dass sie nicht so seefest war, wie sie es vorgab.
„Ich dich auch“, hauchte Toni, gefolgt von einem Luftkuss, in sein Smartphone.
„Mit wem hast telefoniert?“
Toni versteckte sein Handy unter seinen Hintern und zischelte: „Mit niemandem“, derweil er einen der zwei Näpfe, die Tami trug, ergriff. Er senkte den Kopf. Eine dunkelrote Masse blubberte, gesprenkelt, mit zinkgelben erbsengroßen Klumpen vor sich hin. Er versenkte einen Löffel in die Substanz, hob das Besteck und das Material tropfte fadenbildend in die Schale zurück.
„Was ist das?“
Tami hockte sich in den Schneidersitz, tauchte ihren Löffel in ihren Napf und entgegnete: „Ravioli. Stand auf der Dose.“ Genüsslich stopfte sie erst die Mahlzeit mit dem Löffel in ihren Mund, dann wies sie mit diesen nach Backbord. „Welche Insel ist das?“.
Seinen Mund verzogen, stellte Toni seine Schale ab. „Langeoog.“
Mit dem Ärmel ihres Pullovers wischte Tami sich die Lippen ab. „Nach dem Mittag können wir ja schwimmen gehen.“
„Tue dir keinen Zwang an. Ich hole dich aber nicht nach zwei Minuten wieder heraus, wenn du erfroren bist.“
„Warum?“, sie wies erneut zur Küste. „Die baden auch.“
„Wir sind eine Seemeile vom Strand.“
„Ist das viel?“
Toni spreizte den Daumen ab und hielt diesen über seine Schulte und raunte: „Bitte? Beschwere dich dann nicht, wenn ich ohne dich weiter segle.“
Tami lehnte sich zurück, stützte ihren Oberkörper ab und reckte ihr Gesicht zum Himmel. „Wozu die Eile, ist doch schön hier?“
„Vor dem Niedrigwasser will ich vor Memmert ankern.“
„Auf Langeoog war ich mal mit den Eltern. Hat mir gefallen.“
„Auf der Insel sind Menschen, auf Memmert ist niemand“, stöhnte Toni. „Außer Vogelkieker. Aber nicht im Hochsommer unter der Woche.“
Tami blickte zur Seite. „Das weißt du?“
„Ja“, brummte er. „War mit Tanja und meinem Bio-Lehrer“, er hob die rechte Schulter, „Referendar. Ornithologe auf Mellum. Langweilig! Ich habe gelesen. Er hat ihr in der Vogelwarte seine Notizen gezeigt.“ Er hob den rechten Mundwinkel. „Ich weiß gar nicht, was an blöden Listen interessant ist? Auf dem Rückweg hat Tanja ihn andauernd angegrient.“
Mit dem Handballen schlug Tami gegen ihre Stirn und verdrehte die Augen.

Während der Überfahrt nach Langeoog hatte Toni gegrübelt und nach Abwägung aller Vor- und Nachteile sich entschieden, Tami in Holland an Land zu setzten, um die Fahrt allein fortzusetzen. Ihre Geste, die er nicht verstand, ließ in Zweifeln, ob der Plan der Richtige, der richtige Weg für ihn war. Die Anker zu lichten, und die Segel zu setzten, war eines, aber in Seegebiete vorzudringen, die der Seemann nicht kannte, für die er keine Seekarten besaß, was anderes.
„Hol den Anker ein“, befahl er. „Mach alles was lose ist unter Deck fest! Ich vertaue die Segel.“
Tami salutierte. „Ei, Ei Sir. Warum?“
„Du wirst es sehen.“
Nach getaner Arbeit trafen sich beide am Ruder.
„Jetzt?“, fragte Tami.
„Setzt dich! Maniküre deine Fingernägel.“
Erst in diesem Moment fiel Toni auf, dass Tami ihre todschicken Fingernägel kürzer als seine gekürzt hatte.
Er nahm das Geschenk, das er von Tanja bekommen hatte, und packte es aus.
Tami im Schneidersitz saß auf dem Boden, betrachtete, mit gesenktem Blick, ihre verstümmelten Nägel. „Was ist das?“
„Ein Sateliten-Navigationsgerät“, trötete er und öffnete eine Klappe unterhalb des Kompasses, der zwischen Ruder und Kajütentür auf einem Sockel thronte. „Genauer als der alte Seekompass.“ Er schlug auf das Glas des Kompasses. „Richtung und Ort. Damit kannst du vor Grönland schippern, ohne die Ortsmissweisung zu beachten.“
„Ja, Ja“, gab ihm Tami gelangweilt recht.

Toni befestigte die letzte Schraube, das Schiff schlingerte und legte sich auf die Seite.
Woraufhin Tami sich an den Rahmen der Kajütentür klammerte. „Jetzt?“, stöhnte sie.
Die Hand an der Reling beugte sich Toni über die Bordwand. „Punktladung. Genau im Priel. Sechzehn Stunden Landgang!“
Tami wandte ihren Kopf. „Auf diesem …“
„Wenn du willst, kann ich dich zwischen drei und acht wecken. Segel setzten“, fiel er ihr ins Wort, kletterte über die Reling und kommandierte: „Schlafsäcke, Rucksack, Proviant“.

Er hätte sie am Mast gebunden, wenn sie zugestimmt hätte. Sein Körper schrie, schlafen. Es war bis dato sein längster Segeltörn gewesen. Unterstützt hatte sie ihn, am Fock ihre Frau gestanden, trotzdem schmerzten ihn alle Glieder.
Bepackt mit ihren Sachen staksten sie durchs Watt.
Tami hob ihr rechtes Bein, der Schlick tropfte ihr vom Fuß. „Auf Langeoog wär’s bestimmt cooler gewesen.“
Er blickte zum Horizont. „Das ist Juist.“

Obwohl er hundemüde gewesen war, war die letzte Nacht für ihn schlaflos, wie die vorige verlaufen. Immerhin befand er sich noch auf bekannten Gewässern, aber die für ihn unbekannten Seegebiete zeichneten sich bereits am Horizont ab.
Toni kam aus der Hocke, streifte sich seine weite Jeans über den Hintern und vollendete damit den ersten Teil seiner Morgentoilette. Als wäre es eine Eingabe, drehte er sein Haar zum Zopf, befestigte es mit einem Stöckchen, das vor seinen Füßen lag und stülpte die marineblaue Seemannsmütze, jene, die Tanja gerne trug, über seinen Schopf. Tanjas stahlblauen Strickpullover, den er sich zur Nacht übergezogen hatte, schmieg sich an seine Oberschenkel. Er zog ihn glatt und schritt um den Bretterverschlag. Einem Anbau, der an der Vogelwarte angelegt war und Brennholz für den Winter beherbergte.

„Was macht ihr hier?“, schrie ihn eine Fremde an.



Besuch der Queen.

„Aspirant-Commissaris“, flüsterte ein gegenüber Joos junger Polizist, dabei steckte er den Kopf durch den Spalt zwischen Türrahmen und Türflügel, dessen Glaseinsatz mit einem Poster beklebt war.
Joos sah auf, schwang den Kopf zur Seite, bedeckte sein Gesicht, zog die Finger über seine Wange und starrte ihn an.
Manchmal hasste er diese Grünschnäbel, die der Ansicht waren mit Saluten, sowie Dienstgradunterwürfigkeit im harten Leben einen Fall zu lösen. Teamarbeit war der Schlüssel zum Erfolg.
Er grinste. „Aspirant-Inspecteur de Vries.“
De Vries leckte über seine Oberlippe. „Kann ich sie stören?“
„Das haben sie bereits!“
„Eine Daaame möchte sie sehen! Dringend!“ Er wandte erst den Kopf zum angrenzenden Großraumbüro, dann zurück zu ihm. „Privat!“
Er verdrehte sein Auge. „Wer ist den diese Daaame“, wiederholte er die Bezeichnung in der gleichen Tonlage.
Der Aspirant-Inspecteur steckte die Hand in seine Uniformhose, zerrte einen Zettel heraus.
Nicht einmal einen Namen konnte der Typ sich merken, brummte er in sich hinein.
„Madame“, der Polizist hielt das Papier an sein Gesicht. „Tanja Dohnhöfer-Tütken.“

Ihm blieb sein Herz stehen. Hatte sie sich aus Igors Fängen befreit? Wollte sie ihn bloßstellen?
Er streckte den Hals, richtete seinen Jackenkragen und strich über die goldene Krone seines Schulterabzeichens. „Bitte!“
De Vries schloss die Tür hinter sich.
Er räumte seinen Schreibtisch auf, indem er alle Unterlagen in eine Schublade warf. Da er sie nicht reizen wollte, setzte er sich seine Sonnenbrille auf. Sie hasste es, wenn das rechte Auge sie betrachtete, das Linke starr, Tod, kalt sie missachtete. Bei Verhören verwirrte der Blick die Täter, verleitete sie zu einem Geständnis. So weit war er nicht bei ihr. Mit seiner Zunge glitte er über seine Schneidezähne, hauchte in seine Nase, legte seine Unterarme auf den Tisch, richtete den Oberkörper auf und erwartete das Klopfen des Lakaien.

„Bitte!“
De Vries schwang das Türblatt auf, behielt die Türklinke mit der einen Hand umgriffen und zeigte wortlos mit der anderen auf die Frau.
Joos erblickte eine Dame, eine wahrhaftige Dame. Sie marschierte, stolzierte wie die englische Königin bei der Abnahme der Garde. Mit erhobenem Kopf, gekrönt mit einem sandgelben Dutt, schritt sie durch die Reihen, nur, dass die Soldaten nicht aus Fleisch und Blut, sondern Bürotische waren. Ihre orangefarbene Henkeltasche in ihrer linken Armbeuge, den Unterarm an der Jacke ihres orange-schokoladenbraun karierten Kostüms platziert. Die Rechte wie zum Salut am Bügel ihrer Sonnenbrille gelegt.
Mit festem Schritt einen Fuß, vor den anderen, schien es, als bohrten sich die hohen, schlanken Absätze ihrer orangefarbigen Pumps in die verschließende Auslegeware, zeigten auf, wer der Herr war.

Ihm fiel die Kinnlade herunter, als er sie erkannte. Das Wort Klara, welches er auf der Zunge spürte, damit drohte über seine Lippen zu springen, schluckte er hinunter. Sie stockte auf Höhe des Inspecteurs unmerklich ihren militärischen Gang und bedeckte kurzzeitig ihren Mund.
Hatte sie ihn erkannt, spekulierte er. Unmöglich! Klara war fast ein Baby, als er sie das letzte Mal auf dem Schoß wiegte. Bei Josephines Hochzeit, sinnierte er. Gestrichen! Er hatte jeglichen Kontakt mit ihr vermieden. Ansonsten hatte er sie beobachtet, soweit es ging, ihren Lebensweg begleitet.
Ihren Marsch wieder aufnehmend, durchbohrte sie erneut den Teppich, bis sie seinen Schreibtisch erreichte. Er erhob sich, schloss den obersten Knopf seiner Uniformjacke. Ein höfliches Lächeln auf den Lippen, hielt er ihr seine Hand hin.
„Frau?“ Mehr sagte er nicht, um ihr nicht etwas in den Mund zu legen, das er später bereute. Fehler zu wiederholen, war nicht sein Naturell.
Klara ergriff seine Hand. „Tanja Tütken.“ Sie zog ihre linke Schulter an ihre Wange und grinste, wie ein ertapptes Schulmädchen. „Pardon! Tanja Dohnhöfer-Tütken. Ich habe vor Kurzem geheiratet.“
„Herzlichen Glückwunsch.“
„Danke!“ Klara kniff ein Auge zu und schielte ihn halb von der Seite an. „Sie sind Joos van Düwen?“

„Seit meiner Geburt“, gab er ihr mit einem Lächeln, um die Situation zu lockern, von sich.
Er zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Bitte setzten sie sich!“
Sie strich ihren orange-schokoladenbraun karierten Rock an ihr Gesäß, nahm Platz, überschlug ihre Beine und stellte ihre Handtasche, weiterhin umklammert, auf ihren Schoß.
„Herr van Düwen, sie sprechen ein ausgezeichnetes Deutsch“, lobte sie.
Er setzte sich. „Meine Eltern haben uns Jungen dazu animiert, alle drei Sprachen zu beherrschen: flämisch, wallonisch sowie deutsch.“
Klara zog ihre schokoladenbraun gefärbten Augenbrauen zusammen. „Deutsch?“
„Im Grenzgebiet lebt die deutsche Minderheit!“ Joss zuckte mit den Achseln. „Tee, Kaffee?“
Sie wandte ihren Oberkörper, umfasste ihr Knie, das in seidig glänzenden hautfarbenen Strumpfware steckte und schielte ihn erneut an. „Früchtetee?“
„Magen?“
Sie senkte den Kopf. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich frisch verheiratet bin.“
Die Spitze stutze ihn. Wollte sie ihm eine Schwangerschaft unterbreiten, auf milde hoffen.
Joos wechselte ins Flämische und befahl: „De Vries ein Malve-Tee ferner ein Kaffee, schwarz, stark.“
Der Polizist, der weiterhin die Türklinke in festen Griff hielt, hob die linke Augenbraue. „Malve-Tee“
Joos ballte eine Faust. „Mensch, das Zeug was sie immer saufen und raus.“

„Madame Tütken-Dohnhöfer ...“
Klara hob ihre Nase und zischte: „Dohnhöfer-Tütken“.
„Madame Dohnhöfer-Tütken“, setzte er erneut an, „sie sind sicherlich nicht erschienen, um bei einer Tasse Tee über die deutsche Minderheit in Belgien zu plaudern.“
„Nein!“ Klara war ruhig, nur ihre rechte Hand vibrierte. Sie öffneten den Metalverschluss ihrer Handtasche. Ihre Finger zitterten, als sie ein kreditkartengroßes Stück Papier herauszog. „Die hat mir eine Freundin überreicht.“
Joos lehnte sich vor. Es war eine alte Visitenkarte. Im ersten Momente spekulierte er, inwiefern Josephine ihr diese übergeben hätte, verwarf sofort den Gedanken, denn weder sein Dienstgrad geschweige noch das Logo, waren auf den neusten Stand.
Er zückte eine Karte von einem Stapel, legte sie über die Alte und grinste. „Die ist neuer!“
Die Visitenkarte, die Klara mitgebracht hatte, segelte auf den Schreibtisch, woraufhin Joos diese einem Fingernagel zur Seite schob.
Joos strich über ihre Hand. „Jetzt verraten sie mir, was sie zu mir treibt?“
Klara presste ihre orangerot bemalten Lippen zusammen, fuhr mit der Zunge über ihre Oberlippe, danach erzählte sie die Geschichte von der Scheune.
Er kannte die Erzählung von Josephine, sowie der anderen falschen Tanja. Mit den Unterschieden, dass der Bericht von seiner Tochter abwich. Kein Wort von amourösen Abenteuern kam dort vor. Gespielt, gelesen hatten sie in der Scheune. Am Abend Tanja heimgeschickt. Auf der Stiege wäre eine Stufe zerbrochen, dadurch Tanja in die Tiefe gestürzt. Ab diesem Punkt verliefen alle drei Geschichten im Gleichklang.
Klara, die sich als Tanja ausgab, erwähnt keine Namen, dafür ihr Bericht eins zu eins identisch mit dem seiner Ex-Verlobten, wie einstudiert, auswendig gelernt. Wer von wem abgeschrieben hatte, blieb außerhalb seiner Wahrnehmung. Trotzdem hielt er Klaras Aussage für das Original. Ihre Sprechweise hatte mehr Gefühl, schwang, zitterte. Nur bei einer Szene klang ihre Stimme nüchtern, obwohl ihre Augen feucht waren, wie die eines Lesers, welcher mit dem Protagonisten mitlitt.
„Sie wurden?“, verlangte er ein Zeugnis.
„Ja!“. Klara senkte den Blick. „Danach hat er mich gefesselt und ist verschwunden!“
In all den Protokollen, die er immer, immer wieder studiert hatte, stand nichts darüber, inwieweit sie damals misshandelt, vergewaltigt wurde.

„Bedank de Vries.“ Joos wandte sich Klara zu. „Zucker?“
„Danke nein!“
„Ihr Schicksal nimmt mich mit. Ich verabscheue Gewalt. Diese erbärmlichen Kerle“, er ballte eine Faust, „zerdrücken, zerquetschen. Pornografie, Prostitution unterbinden, die Freier betrafen. Jeden, der einer Frau, einem Mädchen“, er schlug auf den Tisch, „die Genitalen abreißen.“ Er sengte den Kopf, stützte seine Stirn auf seinen Händen ab und presste hervor: „Aber wie, wenn ich es könnte, soll ich ihnen nach all den Jahren helfen.“
Die eigene Schuld marterte ihn. Hätte er damals nicht an einen dummen Mädchenstreich geglaubt, sein eigenes Schicksal damit verknüpft, sich zu erkennen gegeben, in die Ermittlung eingegriffen. Sie säße ihm nicht gegenüber.

Die Augen zu schlitzten, die Lippen geschürzt, zitterten Klaras Finger auf ihren mit Rouge bedecktem Wangenknochen. „Er ist wieder da!“
Joos zog den Kopf zurück, hob die Augenbrauen. „Wer?“
Mit einem Griff fischte Tanja einen Brief aus ihrer Handtasche und knallte ihn vor seine Nase.
Mit einem Zögern nahm er ihn an sich. Dann als könne er es nicht mehr aushalten, ertragen, riss er einen Brief aus heraus. Es war der gleiche Brief, den er bekommen hatten. Bunte Letter aus Zeitungen, Zeitschriften bildeten den Text. Die Form, die Farbe wichen von seinem ab, dennoch war der Inhalt deckungsgleich.


„Jubiläum im zwanzigsten Jahr,
damals krümmte ich euch kein Haar.
Wollte meinen Spaß haben,
mich an eurer Unschuld erlaben.
Zu alt seid ihr bereits für mich,
eure Töchter aber nicht.
Zur gleichen Zeit, am gleichen Ort,
fahren wir am Reiterhofe fort.
Wenn ihr nicht kommt alle Sechs,
und bring das Pfand, das ich find,
dann hol ich mir eins nach dem anderem.
Solang sie Jungfrauen sind“,

las er vor und schüttelte, abwiegelnd, den Kopf. „Kinderstreich!“
Der Satz, dass er sich nicht einmischen solle, fehlte, was die Seriosität des Briefes unterstrich. Es sei denn – diese Spekulation hatte er nicht gestrichen – die Frauen selbst Urheber des Briefes.
„Dachten wir, dann habe ich ihn gesehen“, zischte Klara und leckte über ihre Oberlippe. „Wir wollen ihm eine Falle stellen!“
„Wie Bitte?“
„Wir haben Klara gefunden“, sie verdrehte die Augen, „Josephine kennt jemanden, der sie entdeckt hat!“ Sie schnippte mit ihren Fingernägeln. „Die Mädchen machen mir Sorgen. Wir haben gar keine Kinder.“
Joos sperrte den Mund auf. Sie nannte Namen. Ihre vorherige Diskretion, schlug in Intimität um, als spreche sie mit einem engen Freund.
Klara atmete tief ein. „Ich hatte ein Säugling, habe es gleich weggeben“ – „Klaras Baby ist nach der Geburt gestorben und“, sie hob die linke Augenbraue, „Josephine hat einen Jungen. Gerade zwei.“

Joos senkte die Schulterblätter, lehnte sich zurück. „Ich verstehe überhaupt nicht.“
Was hatte sie vor? Wollte sie ihm eine Falle stellen? Wusste sie, wer er war, dass er Schuld hatte? Er musste sich vorsehen.
„Ich wollte das Ganze abblassen, zur Polizei gehen. Aber damals hat uns niemand geglaubt. Josephine beabsichtigt, es durchzuziehen.“
Er murmelte: „Ohne Mädchen?“, wobei er sich am Genick kratzte.
Die nach ihrer Aussage nicht existierten, somit konnte ihnen niemand, etwas zufügten. Sie redete dummes Zeug.
„Wir haben uns Mädchen besorgt. Meine Schwester …“ Joos flog ein Lächeln über das Gesicht. Klara bestätigte, dass die Ex-Verlobte eine Hochstaplerin war. „Meine Schwägerin, sowie …“ Klara blickte zur Zimmerdecke. „Na ja, eine Freundin.“
Er kniff sein Auge zu, stützte sein Kinn auf und beugte sich vor. „Sie können zurückrudern.“
„Nein!“ Klara malträtierte ihre Handtasche und grollte: „Er war bei mir“, dabei neigte sich ebenfalls vor, bis ihre Nase eine Armbreite vor seiner zum Stehen kam. „Er kennt unser Kind.“



Seemannsgrab

Es war ein Riese. Nein! Eine Riesin schrie Toni an. Eine Frau mannshoch gewachsen mit kantigen, faltigen Gesicht. Ihren in eine tiefschwarze Wachsjacke, die eine durchschnittliche Frau als Mantel trug, eingehüllten Oberkörper, stützte sie mit einem Stock ab. Einem Krückstock, der von einem Künstler bearbeitet war, indessen sein früheres Leben als Treibholz nicht verleugnete. Auf ihren Schädel thronte ein breitkrempiger anthrazitfarbener Filzhut, wie der eines Schäfers. Dieser bedeckte ihr schulterlanges, zerzaustes steingraues Haar.
Nur ihr bodenlanger, mausgrauer Popelinerock, der fehlende Vollbart, sowie, der an ihrer linken Pranke baumelnde Weidenkorb, trennten ihr Aussehen von Rübezahl.

Tami schälte ihren Kopf aus dem Schlafsack, klopfte auf Tonis Nachtlager. „Warum stehst in der Nacht auf und schreist?“, erboste sie sich und schob ihre Nase zurück in den Sack.
Die derbe Alte fuchtelte mit ihrem Stock und befahl: „Raus!“, während sie die Glut des Abends austrat. „Feuer hab ihr gemacht. Offenes Feuer ist verboten!“
Mit geschlossenen Augen kroch Tami aus ihrer Schlafstätte. Toni atmete auf. Zum Glück hatte sie den dicken Norweger anbehalten und ihre Socken im Schritt, dachte er sich. Toni zupfte an seinem Ohrläppchen. Warum erfreute ihn Besagtes?
Die Krücke der Frau zielte auf sein Boot und zog ihre finsteren Augenbrauen zusammen. „Ihr Bengel habt die Jolle geklaut und euch hier versteckt?“
Toni überkreuzte die Arme, legte seine Finger auf sein Schlüsselbein. „Wir haben das Boot nicht gestohlen. Sophia gehört mir!“
„Ja“, druckste Tami.
„Wollt ihr eine alte Frau belügen!“
Tami stotterte: „Wir kommen von …“,
„Juist“, vervollständigte Toni ihren Satz. „Haben die Tide unterschätzt und …“
„Seit aufgelaufen. Ihr Diebe!“, komplettierte die Alte mit ihrer Logik.
Die Rechte zur Faust geballt, stampfte Toni aufs Dünengrass und kreischte: „Ich bin kein Verbrecher. Die Sophia gehört mir, mir. Mir!“
Die Riesin stellte den Weidenkorb ab, hinkte zum Fensterladen.
Tami sprang an Tonis Seite, flüsterte: „Wo warst?“
„Pinkeln.“
Mit einem Ellenbogen schlug die Frau gegen den Riegel, nahm die Sperre vom Laden, öffnete den Holzschutz und lächelte. „Kommt ihr Lausbuben! Frühstücken“

Die Vogelwarte war kaum größer als ein Bauwagen. Am Fenster stand ein Klapptisch umringt von zwei klapprigen Stühlen sowie einem Hocker. Ein Regal mit Akten lehnte an der einen Stirnseite, eine Liege an der anderen. Dem Fenster gegenüber weilte ein Schreibtisch mit Bürostuhl, links daneben eine Art Miniküche. In der Ecke zwischen Küche und Klappliege befand sich ein Kanonenofen.
Die Grauhaarige schritt, dabei zog sie ihr linkes Bein nach, zum Bürotisch, stellte den Korb ab. Danach warf sie ein Handtuch über eine museumsreife, mechanische Schreibmaschine. „Tee?“
„Welchen?“, brummelte Tami, zog ihre Schultern zusammen und überschlug die Hände vorm Schritt.
Die Frau schleuderte wie ein junges Mädchen ihren Filzhut auf die Liege, fischte eine Brille und eine Schachtel aus dem Korb, setzte sie auf ihre kantige, schrumplige Nase und grummelte: „Malve-Apfel“. Sie und wies zum Tisch. „Hinsetzten!“

Tami setzte auf dem Stuhl vis-à-vis der Tür hin. Toni hockte sich auf den Hocker und schielte über seine Schulter zur Alten.
Die Alte füllte einen Kessel und stellte ihn auf den Gaskocher. Dann hinkte sie zum freien Sitzplatz und setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hin.
Sie ergriff eine Pfeife, die neben einer Blumenvase mit vertrockneten Wildblumen lag. Ihr Gesicht auf die beiden Jugendlichen gerichtete, klopfte sie die Tabakspfeife in einen einem Aschenbecher aus, stopfte aus einer Dose Tabak hinein. Ihren Blick abwechselnd von Tami zu Toni wendend, klemmte sie das Mundstück der Pfeife zwischen ihre verdorrten Lippen. Sie zog an der Pfeife, zündete den Knaster an und blies den nach Kirsche und Tannennadeln riechenden Rauch den Kindern entgegen.
Ihre Augen geschlossen, lehnte sie sich zurück, verschränkte die Arme, ohne ihre Rechte vom Pfeifenkopf zu lassen. „So mee Deerns! Was macht ihr wirklich hier?“
„Wir sind keine Mädchen“, zeterten die Ausreißer unisono.
Eine blaue Wolke aus ihren Mund blasend, riss sie Toni die Mütze vom Schopf. Seine sandblonde Haar segelte auf seine Schultern.
„Er ist’n Junge“, stand Tami ihm bei.

„Egal!“, donnerte die Alte. „Ich bin bei abfließenden Wasser rüber. Einkäufe! Bin im Klabautermann versackt.“ Ihre Pupillen flirrten. „Kein vernünftiger Segler fährt dann auf dieser Inselseite dicht an Memmertsand vorbei. Es sei denn …“ Sie fixierte Tami, sodann Toni. „Er ist Pirat.“ Die Stirn gerunzelt, zog sie an der Pfeife. „Schmuggler!“
Wie nach dem Ziehen des Stöpsels in der Badewanne sprudelten die Worte über Tamis Lippen. Sie erzählte die Geschichte ihrer Fahrt. Toni verschloss vor Angst seine Lider, sie berichtete mehr, als ihm lieb war.
Die Frau zog erneut an ihrer Pfeife, verdrehte die Augen, bis der Wasserkessel pfiff und dieser Tonis Redeschwall unterbrach.

„Ich bin die Elisabeth“, sagte die Alte und klopfte auf den Tisch. „Meine Freunde nennen mich Else.“
Tami wies auf Toni. „Thorben“, dann auf ihr Brustbein, „Tami.“
Else beugte ihren Oberkörper vor. „Deck den Tisch!“. Sie zeigte auf den Küchenschrank. „Teller, Besteck. Aufschnitt, Marmelade und Rundstücke sind im Korb und gieß den Tee auf. Das Gepfeife macht mich wirr.“
„Warum ich?“
„Weil du ein Mädchen bist“, Else wandte sich Toni zu, „und wir alten Seebären uns ungestört unterhalten wollen.“
Das Wort Seebär ging Toni runter wie Öl. Die Alte wurde ihm sympathisch.
„Reife Leistung“, lobte Else und ergriff Tonis Hand. „Erst recht für einen Jungen mit solch zarten, kleinen Fingern.“
Er zog seine Hand aus ihrer Umklammerung. „Danke.“
„Hatte früher eine Hanse-Jolle“, schwärmte Else. „Stolzes Boot. Bei wenig Wind behäbig. Aber?“ Sie hob den Zeigefinger. „Bei harten Steam: wendig, schnell, fast giftig.“ Sie blickte aus dem Fenster. „Ich habe sie an einen alten Freund verhökert.“ Else klopfte auf ihr linkes Bein. „Rheuma. Es ist nicht erquicklich, alt zu werden.“

Den Kopf in den Nacken werfend, schleuderte Tami die Teller auf den Klapptisch.
„Sie kommen aus Hamburg?“, versuchte Toni von der Peinlichkeit, dass seine Freundin den Tisch deckte, abzulenken.
„Du“, zischte Elisabeth. „Seeleute duzen sich.“
„Du kommst aus Hamburg?“, berichtigte er.
„Woraus schlussfolgerst du das?“
„Rundstücke!“
Else lächelte. „Du bist ein aufmerksames Kerlchen.“
„Was machst dann hier?“, warf Tami ein und die Lebensmittel auf den Tisch.
„Ausspannen. Wie sagt ihr heutzutage: Chillen. Mich auf den Tod vorbereiten.“
„Wie!“, riefen die Kinder.
Else winkte ab. „Der Trubel der Stadt, die neureichen hochnäsigen Nachbarn gehen mir auf die Nerven.“ Sie strich über ihr Gesicht. „Wist ihr Kinder, ich wollte wie ihr von zu Hause ausbüxen.“

Sie war in Tonis, Tamis Alter, begann sie ihre Erzählung. Elisabeth war, wie man früher sagte, das Nesthäkchen. Ihre älteste Schwester verheiratet, die andere an Typhus verstorben. Ihr Bruder lebte zu dieser Zeit bei ihnen. Ein ausgezeichneter Segler, wie sie schwärmte. An der Olympiade 1936 hätte er es fast auf das Treppchen geschafft. Er erzählte ihr immer von seinen Segeltörns. In ihren Gedanken segelte sie mit, nahm den Nachbarsjungen mit auf ihre Reise. In ihrem gemeinsamen Versteck brachten sie die Fantasien zu Papier. Sie schrieb und er zeichnete die Landschaften, die Inseln, die Schiffe. Eines Tages berichtete ihr Freund, dass seine Eltern und er wegzogen.
„Wir sind getürmt“, murmelte Else.
Tami beugte sich über den Tisch. „Hab ihr es geschafft?“
Else schüttelte, den Mund zu einem Lächeln verzogen, den Kopf. „Nein! Auf Neuwerk war Schluss.“
„Wieso?“, fragte Toni.
„Die Ascheimermänner haben uns gefangen.“
„Ascheimermänner?“, wiederholten die Kinder.
Else lächelte abermals. „Meine Mutter nannte die von der SA so, weil sie in ihren braunen Uniformen aussahen wie die Männer, die die Ascheimer leerten.“
„Dein Bruder war stolz auf dich?“, wollte Toni wissen.
„Glaube! Oft hat er uns nicht besucht.“ Sie senkte den Blick. „Er hatte sich freiwillig gemeldet. In den Krieg ziehen.“ Sie ballte eine Faust. „Das Vaterland verteidigen. Dem Führer folgen, dienen.“ Die Hand an der Stirn schloss sie ihre Lider. „Ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich weiß nicht einmal, wo sein Grab ist.“
Tränen kullerten aus ihren Augen. Sie nahm ein Taschentuch, tupfte sich die Trauer ab.
„War er nicht bei der Marine? So als Segler?“, harkte Tami nach.
Else grinste. „Natürlich! Bei den ganz Verwegenen in einer Sardinenbüchse“, erzählte sie und blies eine blaue Wolke in den Raum. „Bis zum Kaleun hatte er sich hochsalutiert.“
Tami Stirn faltete sich. „Kaleun?“
Toni verdrehte die Augen und zischte: „Der Kapitän auf einem U-Boot“.

Der Krieg war fast vorbei, fuhr Else mit ihrer Geschichte fort. Eine Ehre wäre es für ihn gewesen, wie sie es aus seinem letzten Brief erfahren hatte, die Errungenschaften des Reiches vor den Untermenschen in Sicherheit zu bringen.
Elisabeth schlug auf den Tisch und schrie: „Quatsch. Irgendwelche Nasis wollten sich und ihre Beute …“ Sie atmete aus, nahm einen Zug an ihrer Pfeife und flüsterte: „Es war nicht das einzige U-Boot, was am Ende des Krieges auslief. Irgendwo im Atlantik soll es geschehen sein.“ Sie fasste an ihre Nase. „Manchmal hoffe ich, dass er geschafft hat. In Argentinien oder Bolivien lebt, eine große Familie um sich gescharrt. Wenn ich ihm nur ein Seemannsbegräbnis schenken könnte.“
Toni vermochte nicht mehr seine Gefühle zu verstecken. Else gab ihn ein Taschentuch, mit dem er sich seine Tränen abtupft. Sogar Tami wischte sich mit dem Ärmel des Pullovers die Wangen trocken.
„Aber er hat doch ein Seemanns …“
Toni stieß ihr seinen Ellenbogen in die Seite. „Seeleute werden dem Meer übergeben und nicht verschlugt.“

„Hier!“ Frithjof hielt Bernadette ihren Zopf entgegen. Tränen rannen über ihre Wangen. „Ey, mit den langen Haaren siehst aus wie ein Mädchen.“
Sie schniefte: „Bin ich“.
„Wenn dich verstecken willst, musst du dich tarnen“, erklärte er. „Oder weinst wegen deiner Eltern. Ich wäre froh, wenn meine weg wären.“
Aus ihrem Wimmern wurde ein Heulen. Er nahm sie in die Arme. „Entschuldige. Deswegen bin ich abgehauen.“ Er fischte ein grau-weiß kariertes Taschentuch aus seiner Büx und tupfte ihr die Tränen vom Gesicht, wie es früher die Mutter bei ihm getan hatte.
Sie stieß ihn von sich und streckte die Zunge heraus. „Bleib mir mit dem alten Lappen weg. Der ist eklig.“ Sie rieb die letzten Tränen von ihrer Wange. „Was meinst du“, sie wies durch den Raum, „wie lange müssen wir hier ausharren?“
Fiete-Frithjof beugte sich über den Tisch, der kaum größer als eine ausgebreitete Tageszeitung war und stierte aus dem Fenster. „Bis der Sturm durch und das Wetter gelichtet hat. Ein, zwei Tage.“
Weiterhin auf dem Hocker sitzend schaute sich Bernadette in der Hütte um, die gerade die Maße einer Kapitänskajüte besaß. Die dicken Schichten des Staubes bewiesen ihr, dass seit Langem diese bereits unbewohnt war. Ein Feldbett, ein Kanonenofen in der Ecke und ein klappriger Schreibtisch, dem Fenster gegenüber, waren die einzigen Einrichtungsgegenstände.
Bernadette stand auf, ergriff einen Besen und hielt ihn Frithjof entgegen. „Lass uns klar Schiff machen!“
Er werte ab. „Bin ich etwa ein Mädchen?“
Sie strich durch ihr geschorenes Haar. „Ich etwa?“
„Wie zu Hause.“
Sie ergriff einen Putzlappen. „Bist du deshalb von daheim weg, weil du putzen musstest?“
Er zeigte ihr einen Vogel. „Weil mein Alter mich verkloppt hat.“
Bernadette verschloss ihren Mund.
„Als er noch wie alle anderen Arbeit auf der Werft hatte, war er anders. Dann fing er das Saufen an. Grölte, wenn der Führer die Macht ergreift, wird alles besser“, fuhr Frithjof fort.
„Der Führer?“
„Der Hitler!“
„Kenn ich nicht!“
„Interessiert dich nicht für Politik?“
„Nein.“
Er stampfte mit dem Besen auf. „Solltest! Seitdem mein Alter mit den braun Uniformierten rumhängt, wurde es noch schlimmer.“
„Du meinst die Ascheimermänner, meine Mutter“, sie senkte ihr Haupt, „sagte immer, die vergehen wieder.“

Der Staub wirbelte am Besen auf. „Dann ist meine Schwester mit einem Schauspieler nach England. Musst wissen, sie ist Tänzerin. Ich sollte bei der Hitlerjungen mitmachen. Er wollte beweisen, dass wir anständige Deutsche sind.“
Sie runzelte die Stirn. „Weil deine Schwester mit einem Schauspieler abgehauen ist.“
„Er ist Jude.“
Bernadette zog ihren Mundwinkel herauf. „Und?“
„Weist wirklich nichts“, schnaufte er. „Die Juden sind Volksfeinde.“
Sie tippte an ihre Schläfe. „Meine Eltern haben, hatten mehrere gute Freunde jüdischen Glaubens.“
„Rat mal, warum ich zu meiner Schwester will?“


Toni legte das Buch zur Seite, ergriff seine Angel, dessen Leine sich straffte. Er drehte an der Kurbel, zerrte, bis der Kopf des Fisches die Wasseroberfläche durchstieß. Beide Hände fest am Griff seiner Angel zog Toni den Fisch an Land, schlug daraufhin hinter dessen Kopf, bis er nicht mehr zappelte.
Ein Prachtexemplar war er nicht, aber für ein Abendessen ausreichend. Denn Toni hatte sich vorgenommen, bis Sonnenuntergang zu segeln und erst am Ziel mit Tami eine warme Mahlzeit einzunehmen.
Er verstaute seinen Fang unter Deck, kletterte aus der Kajüte, sprang über die Reling und machte sich auf den Weg zurück zur Vogelwarte.


„Jetzt siehst du aus, wie ein richtiger Junge“, frohlockte Else und legte die Schere beiseite. „Na ja. Ich finde Buben mit langem Schopf verwegener, wie Piraten. Du hättest dir die Haare nicht abschneiden müssen.“ Sie wandte sich Toni zu. „Nun zu dir!“
Er umfasste seine Pracht und zickte: „Die bleiben, wie sie sind“.
Elisabeth klatschte in die Hände. „Bleibt bis morgen.“
Für Toni klang es verlockend, gerne hätte er ihr zugehört. Ihre Geschichten waren wie die von seinem Großvater. Die Parallelen? Bei ihm hörten sich die Schilderungen wie Märchen an. Fantastische Legenden, gesponnen aus Seemannsgarn. Bei ihr? Nein! Er hatte keine Zeit zu verlieren, sich vorgenommen Tami abzuliefern und sein Ziel anzusteuern, egal, wie lange es dauerte.
Else strich über Tamis Schulter. „Ziehe den Pullover aus! Er ist voller Haare!“
Die Freundin fasste an den Saum und streifte den Norweger über ihren Kopf.
Elses verdeckte ihren Mund. „Du bist ja ein Mädchen!“
Tami zog ihre Augenbrauen zusammen. „Klaro! Was dachtest?“
Die alte Dame blickte von einem Kind zum anderen.

Tami legte ihre Hand auf Tonis Schultern und reichte ihm ein Glas Wasser. „Dass die Else mich für einen …“ Sie schüttelte sich, verzog das Gesicht, als verschluckte sie einen Frosch. „Dich für’n Mädchen?“ Sie tippte an ihre Schläfe. „Die Alte war total durchgeknallt, sollte mal lieber zu einem Augenarzt gehen.“
„Worüber habt ihr euch unterhalten, als ich angeln war?“
„Durchgeknallt! Spann herum, dass wir ein süßes Paar wären. Ich früh genug lernen solle, dass Frauen ihre Freiheit bräuchten und nie so werden solle, wie die anderen Kerle. Sie hätte ihre Erfahrungen gesammelt.“ Tami kicherte. „Wie blöd die Alte geglotzt hat, als sie gesehen hat, dass ich nen Mädchen bin. Ich hatte gedacht, die platzt. Dann ihr blöder Spruch, dass wir Deern aufpassen sollen.“ Sie tippte abermals gegen ihre Schläfe. „Du ein Mädchen? Total blind die Alte.“ Erneut kicherte sie. „Obwohl im Röckchen sahst fast wie eins aus.“
Toni runzelte seine Stirn.
„Hat mir bewiesen“, fuhr Tami fort, „dass wirklich von deiner Mutter und“, sie stockte im Satz und räusperte sich, „gezwungen wurdest, bei Olga die Klamotten anzuziehen. Dich dann geschämt hast und so getan als wärst eins.“ Sie erhob den Zeigefinger und grinste. „Ich bin dir auf die Schliche gekommen. Aber wir sind nur Freunde. Verstehst!“
Toni zuckte mit den Achseln und befahl: „Matrose nicht sabbeln, ab zur Fock. Wir ankern vor Schiermonnikoog!“
Sie schaute in den Himmel. „Ist hell. Warum ankern?“
Toni wies zum Horizont. „Das Wetter gefällt mir nicht. Außerdem schaffen wir es heute sowieso nicht mehr ans Ziel. Morgen haben wir einen ganzen Seetag.“
Der Sturm hatte sich über Nacht gelegt und die Ausreißer hissten früh das Segel. Die See war rau, der Wind stramm. Toni fror. Mehrmals hatte er Tami gebeten, ihm einen Pullover zu geben. Sie verkroch sich in der Kajüte.
„Tami“, schrie er. „Mir ist kalt!“
Seine nassen Finger umgriffen das Ruder, hielten das Seil.
Die Kajütentür flog auf. Sie sprang, ihren Mund verdeckt, hervor, warf ihm den Rucksack zu.
Ob er das Kommando ‚klar zur Halse‘ gegeben hatte, wusste er nicht mehr. Wie in Zeitlupe schwebte der Sack an ihm vorbei. Tami trat aufs Deck. Sein rechter Arm drückte das Ruder, die linke Hand gab das Sicherungsseil frei. Er schrie. Der Baum schwang backbord. Die Sophia neigte sich und Tami verschwand.


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ahorn

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4. Akt Der Mast brich, der Bug schlägt leck.

Gelenkt von den Sirenen,
steuert der Entdecker in den Nebel,
ignoriert die Zeichen, verdrängt den Verstand.
Er nimmt den Kampf auf
mit dem Zyklopen,
der nichts anderes,
als ein Fels in der See.

10. Kapitel Unbekannte Gewässer

Jekyll oder Hyde?
Die rechte Hand zur Faust geballt, schlug er derart mit der Linken die Tür zur Pathologie zu, dass der Glaseinsatz zuerst vibrierte, dann zerbrach.

Gab es in dieser Familie normale Menschen? Die Verlobte ein Mann. Ihre – nein – die Schwester oder Tochter ein Junge.
Der Kopf drehte sich ihm, obwohl er ihm fest auf den Schultern ruhte. Seine Schritte beschleunigten. Er rannte, lief der Wahrheit davon. Die Wissenschaft machte keinen Fehler. Die Ergebnisse waren eindeutig.

Sie nicht sie. Sie ein er. Er hatte mit einem Kerl das Lager geteilt. Egal, wie er daherkam, er war ein Bursche nicht die holde Prinzessin. Ihm blieb der Atem weg, worauf er sich vornahm, mehr Sport zu treiben, und pausierte.
Betrogen hatte sie – er ihn, doppelt hintergangen, ihm Tanja vorgespielt, eine Frau vorgegaukelt.
Ihm schwand der Verstand. Er hatte keinen Namen für dieses Ding. Tanja gefakt, Verlobte falsch, obwohl versprochen hatten sie sich. Mit dem nächsten Gedanken hob er die Verlobung auf.
Er klopfte zweimal mit dem rechten Zeigefinger an den rechten Nasenflügel, dann schnippte er, gefolgt von einem Lächeln.
Ex-Verlobtes! Hätte das Ex-Verlobte ihm gebeichtet, dass es ein Kerl sei, hätte er sich in es verliebt? Ja! Er liebte es weiterhin, aber Vertrauen bestand nicht mehr. Quatsch! Es wäre nie zu ihrer Liaison gekommen, denn Tanja war ein Mädchen gewesen. Nicht, weil er mit ihr geschlafen, sondern sein Herz ihn nie betrog hatte.

Obwohl! Antonia war ebenfalls ein Junge. Hatte er nicht seine rechte Hand verwettet, dass er weiblich. Hatte er sie - ihn nicht beim Ballett, dem Turnen auf der Wiese, der Akrobatik betrachtet, ihre – seine Grazie bewundern, ihn- sie zwischen die Beine geglotzt – da war nichts!
Wieder stolperte ihn das Problem einer Bezeichnung durch den Schädel. Die Lösung in diesem Fall eindeutig. Das Kind! Er hatte es nie nackt gesehen, Tanja dagegen - ihr Liebreiz, ihre Zärtlichkeit, ihre knackigen Brüste und ihr weicher Flaum, der seine Männlichkeit zum Höhepunkt getrieben hatte, schon.
Wenn es nicht Tanja, wer war es dann? Woher kannte es die Geschichte? Er raufte sich die Haare, dabei stöberte er in seinen Erinnerungen.

Er hatte viele Aussagen gesammelt. War um den halben Globus gereist. Kein Mädchen wollte auspacken. Dann hörte er von der in Lesotho. Inhaftiert im Gefängnis seines Kumpels. Ein Widerling, ein Schwein, der gefallen daran hatte die Häftlinge zu quälen, zu foltern.
Er flog hin, erfuhr, dass die Frau verstorben - wieder eine Reise ohne Sinn. Dann war sie da, die Gefangene, die ihm sein Kamerad als Mörderin des Freundes Anton präsentierte, oder hatte er es nur geglaubt. Dabei war es eine routinemäßige Befragung der Zellengenossin gewesen. Blind vor Schuldgefühle sprach er mit ihr, aber warum? Bereits damals hatte sie – er schlug sich ins Gesicht – er ihn in seinen Bann gezogen.

Er warf sich auf eine Parkbank, vergrub seinen Kopf zwischen den Händen. Den schlimmsten Fehler, den man machen konnte, hatte er gemacht. Den Gefühlen freien Lauf gegeben, schrie er sie - für eine sie hielt er ihn damals- an.
Warum sie den Wagen verlassen hatte! Damit hatte er ihr den Hauptbeweis in den Mund gelegt. Die Berichte von ihr anschließend stichhaltig. Die Zeit in Durban, die Eltern, alles legte sie ihm zu Füssen. Es gab für ihn nur eine Erklärung: Sie war Tanja.

Wie, wo, wann spielte keine Rolle mehr. Obwohl sie Tanja nicht ähnlich sah, Größe, Statur passten, der Rest der Folter geschuldet, aufgedunsen übersät mit Hämatomen. Der Beweis des Unrechts unumkehrbar.
Ein Liebespaar hatte beobachtet, wie sie Anton durchs Fenster erschossen hatte. Darauf musste er aufbauen, obwohl es gelogen war. Er stellte sich und nahm die Schuld auf sich, erklärte, dass der Tod des lieben Freundes nicht weiter als ein Unfall gewesen war. Er damals ein Zeuge des anscheinen Verbrechen, er unter Eid geschworen, dass das Ableben von Anton ein Unglücksfall war. Er gehört, gesehen hatte, wie die junge Frau, da unerfahren mit Gewehren, die Schrotflinte Anton durch Fenster reichen wollte und dabei sich der Schuss gelöst hatte.

Die Justiz entließ sie. Seine Strafe für das jahrelange verschweigen, war ein Jahr Einreiseverbot nach Lesotho. Damit konnte er leben, denn Tanja lebte.
Er war weiterhin von ihrer Identität überzeugt, fand heraus, dass Klara gestorben, am selben Tag, am selben Ort des Unfalls. Die Logik klar, dass Klara sich als Tanja ausgab. Es wusste warum. Denn Klara hatte auf Anton geschossen, war vor ihrer Strafe, von der Tat, an der er nicht unschuldig, geflohen.
Der Zufall half. Eine ihm Unbekannte wurde mit internationalen Haftbefehl gesucht – Aufenthaltsort Südafrika. Sie schwarzhaarig und stämmig gebaut, trotzdem zweifelte niemand an seiner Aussage. Die Schleusung war perfekt und Tanja wieder in Europa. Dass er die Gesuchte am Flughafen von Antwerpen verloren hatte, nur ein Eintrag in der Personalakte wert.

Er schlug sich an die Stirn. Einen Mörder hatte er in die Freiheit verholfen. Sein Bruder hatte recht, mit seiner Aussage des dritten Schusses, dass er einen Mann weglaufen sah. Der Zeuge der Täter gewesen! Eine Transe hatte Anton die tödlichen Kugeln verpasst. Von der Strafverfolgung gerichtet – und er, er hatte ihm zur Freiheit verholfen.
Es hatte seine Freiheit. Warum spielte es das Spiel weiter? Die Antwort kannte er. Es war ein Niemand, hatte keine Identität!
Die Geschichte mit Klaras Tochter passte nicht ins Bild. Er hatte sie von ihr – er schlug gegen seine Stirn - ihm erfahren. Es gab mehrere in diesem Spiel! Wer? Egal, dennoch war der Sinn plausibel. Es hätte nie direkt erreicht Tanja zu werden. Der einfachste Test hätte bewiesen, dass es männlich. Es gab für ihn eine Lösung. Ein Verbrechen, das Klaras Identität zum Vorschein brachte und ihn an ihre Position spülte. Niemand würde die Aussagen in Zweifel ziehen, denn er, er klopfte an sein Brustbein, würde die Fakten bestätigen. Auf einmal machte der Brief einen Sinn. Es hatte ihn geschrieben, denn es wusste von der Entführung. Er hatte ihm die Geschehnisse erzählt - wieder ein Fehler.

Die Welt drehte sich. Er registrierte dieses Verlangen, das unerklärliche Bestreben sich wie Dr. Jekyll in Mr. Hyde zu wandeln. Die schwärzten Mächte in sich auszuleben, alles zu unternehmen, was er sich verbat.
Er spurtete, er rannte dabei sein Ziel vor Augen. Sein Adrenalinspiegel stieg, seine Leydig-Zwischenzellen schüttete Unmengen Testosteron aus. Heute war der Tag. Hatte er sich vorgenommen, nicht zu erscheinen, revidierte er seinen Entschluss. Die Hände zitterten ihm in erquicklicher Begierde, die Schandtat umzusetzen.


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