Flucht über die Nordsee 67. Flucht über die Nordsee

ahorn

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67. Flucht über die Nordsee

Bernadette zog ihre Hose herauf und stand auf.
Ihr Kopf lugte gerade hinter dem Erdwall hervor. »Was machst du auf meiner Insel«, schnauzte sie ein Junge in ihrem Alter an.
Seine Kleidung war zerlumpter als ihre, das Gesicht schmuddelig, die Hände dreckig und die Fingernägel verkruststet. »Pinkeln!«
»Im Sitzen?«
Der Knabe schien sie, als seinesgleichen zu halten. »Kackst du im Stehen!«, fauchte Bernadette.
Er ballte eine Faust. »Das ist meine Insel«, keuchte er. »Ich bin der König von Nigelhörn!«
Bernadette verkniff sich ein Lachen. »Der König!«, presste sie hervor und wies über den Erdwall. »Und das ist dein Schloss!«
»Wag es nicht, dich lächerlich über mich zu machen«, grummelte er. »Ich bin Frithjof der Große, Pirat auf allen Meeren.«

Er war verrückt. Zumindest wusste Bernadette jetzt, auf welchem Eiland sie sich befand. Total vom Kurs war sie abgekommen, zu weit draußen auf der See. An der Küste zu bleiben, hatte sie sich vorgenommen.
Bernadette hielt die flache Hand an die Augenbrauen und drehte sich um ihre Achse. »Dummerweise ist dein Piratenschiff beim letzten Sturm gesunken und deine Mannschaft hat gemeutert.«
Frithjof senkte den Kopf und zeichnete mit den Zehen Linien in den Sand. »Fast«, murmelte er. »Sie haben mich im Laderaum entdeckt«, er schielte sie an, »wollt in Hamburg auf einen Überseefrachter anheuern.« Der Junge hob sein Haupt. »Auf große Fahrt. Amerika!«, triumphierte er, klopfte auf seine Brust. »Aber vorher war ich bei Piraten, nur dass ewige Kartoffelschälen hat mich genervt.« Friedhof nickte in Richtung Bernadettes Segelboot und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Ich das deine Nussschale?«
Sie presste die Lippen. »Glaubst du, ich bin hergeschwommen!«
Er rieb an seinem Nasenflügel. »Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam nach Hamburg segeln?«
Den Kopf gen Himmel, verschränkte sie ihre Arme. »Nichts!«, zischte sie und wies in die Ferne. »Ich muss nach Westen!«
Fritjof klopfte auf seine Schenkel und lachte. »Das ist aber Osten!«
»Ist egal! Nur weg von hier!«
Er zwinkerte ihr zu. »Bist wohl weggelaufen?«
Sie verbarg ihre Trauer hinter der Angst, die sie hatte. »Das geht dich nichts an«, schniefte sie.

»Sie haben mit ein wenig Proviant dagelassen. Beim Essen können wir uns ja einigen wohin die Reise geht!«


Toni saß, die Oberschenkel zusammengepresst, die Unterschenkel abgespreizt im Dünengras und drehte die Kapitänsmütze seines Großvaters, die ihm Tami beim Verlassen des Hauses aufgesetzt hatte. Er warf die Kopfbedeckung in die Luft, fing sie auf und legte sie neben das aufgeschlagene Buch. Haarsträhnen von der Stirn streichend, ergriff er die Seekarte, den Stechzirkel, rollte die Karte aus und stieß mit der einen Spitze des Navigationsbesteckes in die Abbildung der Insel Mellum. Er zirkelte bis Wangerooge, Langeoog, Norderney über Juist bis Borkum, bis zum Ende des Plans, dem Ende der Welt, warf die Seekarte ins Gras, schlug den Seefahrtskalender auf. Die Lippen benetzend, blätterte er bis zur Karte ‚mittleres Nordeuropa‘. Den Kalender auf den Knien, die Zunge herausgesteckt, bohrte er die Zirkelspitze in die Außenjade, spreizte den Stechzirkel bis Borkum. Zirkelnd über den Plan, arbeitete er sich bis Ailsa Craig vor.

Den Kopf zur Seite gelegt, steckte er seinen Zeigefinger in den Mund, leckte ihn ab und streckte ihn in den Wind. Die Lippen geschürzt dreht er den Oberkörper, legte die Handkante über den Augenbrauen an die Stirn und blickt zum Leuchtturm Hohe Weg.
Wie eine sich entspannende Feder schnellte sein Brustkorb vor, die zu einer Faust geballt Hand schmetterte auf seinen Oberschenkel und die Karte samt Zirkel schleuderte vom Knie getrieben ins Dünengras.

Tamis Gesicht erschien an der Kajütentür. Sie kletterte aufs Deck, sprang über die Reling auf den Bootssteg und schlenderte auf Toni zu.
Den Handrücken der rechten Hand am Mund, ihren Rumpf beugend, den linken Arm reckend über den Kopf trat sie auf ihn zu. »Morgen«, murmelte sie und rieb die Augen.
Toni strich über sein Kinn und lächelte sie an. »Moin, moin! Gut geschlafen!«
»Wie eine Prinzessin«, flüsterte sie, gähnend. »Und du!«
»Super«, log er sie an. Kaum ein Auge hatte er zugemacht. Die ganze Nacht gegrübelt. Immerfort kreisten seine Gedanken: Bärbel, Sophia, Tanja, Antonia. »Lass uns Frühstücken, dann bring ich dich zur Küste.«
Sie warf den Kopf zurück, als besäße sie weiterhin ihre Haarpracht, und fiel neben ihn ins Gras. »Wieso?« Sie ergriff die Seekarte. »Willst allein die Welt erkunden!«
Die Zähne fletschend schnappte er die Karte. »Unmöglich! Das würde Wochen dauern!«, schnaufte er.

»Wo willst du hin?«
Toni nahm den Seekalender, schlug die Seite mit der Karte auf und tippte auf eine Insel.
Hinterm Ohr entlangstreichend beugte sich Tami zum Kalender. »Glasgow?«
»Quatsch!« Er klopfte auf das Papier. »Ailsa Graig ein Eiland in der Irischen See!«
»Warum?«
»Ist meine Sache!«, schnaufte er und stand auf.
Tami drückte ihren Daumen auf den Schriftzug von Glasgow und den Zeigefinger auf ihre Position. »So weit weg ist es nicht«.
Die Arme flatternd wie ein Vogel, schritt Toni auf und ab. »Mit einem Ozeanliner vielleicht«, er wies auf sein Boot, »aber nicht mit der Sophia, eine Zweimann-Jolle die für Regatten ausgerüstete ist, Schnelligkeit, Wendigkeit. Der Westdrift entgegen, tagelang kreuzten, da hängt man wie ein nasser Seesack über der Reling.«

Tami breitete die Seekarte aus. »Wie wäre es mit …« Ihr Finger schwebte über das Blatt, stieß zu.
Toni beugte sich herab. »Ijsselmeer?«
»Zum Beispiel!«
Er blickte in den wolkenlosen Himmel, zog die linke Schultern herauf. »Mit ausreichend Pausen vier fünf Tage, bei günstig Wind drei«, raunte er und zupfte an seinem Ohrläppchen. »Warum fragst du?«
Sie hob ihre Mundwinkel, presste die Oberarme an ihren Körper, spreizte die Unterarme ab und senkte die Hände. »Ich komm mit!«
Toni zeigte ihr einen Vogel. »Du spinnst!«
»Hey, bleib locker! Was du kannst, kann ich auch!«
»Was?«
Tami stand auf, wischte den Sand von ihrem Hintern. »Na abhauen!«

Toni griente. »Ich hau nicht ab.« Er wedelte mit den Fingern vor der Brust. »Ich mach Ferien!«
Eine Hand auf seine Schulter legend, wandte sie sich ihm zu. »Ich auch!«
»Deine Eltern würden das nie erlauben!«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Aber deine Mutter!«
Er überkreuzte die Arme, legte die Hände auf die Schultern. »Die weiß Bescheid«, trällerte er. Ein Umstand, der nicht gelogen, denn, obwohl sie nicht mehr lebte, sprach er mit ihr – wenn es darauf ankam.
Sie gab ihm eine Kopfnuss. »Meine auch!«
Er grinste, nickte.
Mit den Achseln zuckend, lächelte sie ihn an. »Zum Teil! Hab sie angerufen!«
»Wir haben Netz?«
»Einen Balken!«

Toni zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche heraus, hielt es musternd gen Himmel, während Tami auf ihn einredete.
»Echt!«, frohlockte er.
Der Empfang erfreute ihn, nicht der überlaufende Nachrichtenspeicher, alle Message von einem Absender, der weder Tanja oder der Admiral. Er nahm sich vor, wenn er allein war, ihm zu antworten.
Tami schleuderte ihm ihre Faust gegen seine Hüfte. »Ist krass! Oder?«
Toni sperrte den Mund auf. »Was?«
»Wie hat sie nicht gesagt!«
»Wer?«
»Meine Alte, hörst du mir nicht zu?« Tami atmete tief ein. »Langsam! Für Jungengehirne«, sprach sie gedehnt. »Olga hat Ferienhaus in Holland. Sie gefragt Mutter, ob ich mit ihr zwei Wochen Ferien. Sie nicht gesagt«, sie bewegte ihren Zeige- und Ringfinger, wie eine Figur, die lief, »wie.«
Er verstand nur die Hälfte, erfasste aber die Tragweite.
»Wann hast du sie gesprochen?«
»Gestern Abend als du geschnarcht hast.«
»Ich schnarche nicht!«, erboste sich Toni. »Das geht nicht!«
»Wenn man auf den Rücken liegt?«
»Das mein ich nicht, außerdem lag ich auf Deck und du in der Koje. Du kannst nicht mitkommen.«
»Warum?«
»Weil, weil.« Er flatterte mit den Armen zum Abheben bereit.
Tami verschränkte die Arme. »Ich ein Mädchen bin?«

»Wo ist das Klo?«
Die rechte Hand am Ruderstock, mit der Linken hart ein Seil umfassend, starrte Toni zur Mastspitze herauf. »Achtern über die Reling und ablassen. Immer mit dem Wind«, grummelte er.
Tami zeigte auf die Wasserfläche. »Ins Meer?«
»Glaubst die Roben und Fische haben Toiletten!«
Die Hände vorm Schritt, die Knie verschränkt, zog Tami ihren Kopf zwischen ihre Schulterbeine. »Aber ich muss ...«
»Hättest auf Mellum gehen können.« Er wandte ihr sein Gesicht zu. »War im Reet. In der Kajüte ist Papier«, schnaufte er, wies das Seil in den Fingern nach vorn. »Am Bug backbord vom Vorluk ist eine Klappe, darunter ein Eimer, da kannst du es reinwerfen.« Er blinzelte sie an. »Der Umwelt zuliebe!«
»Wie die Kacke!«
Toni verdrehte die Augen. »Drummel! Das Klopapier!«

Mit einer Rolle Toilettenpapier bewaffnet, schwänzelte Tami zum Bug. »Lein dich an!«, schrie er.
»Das Meer ist ganz ruhig«, konterte Tami, griff an ihre Rettungsweste und schwang ihr Becken.
Grinsend nahm Toni die Hand an den Mund. »Wenn was daneben geht, dann schrubbst du Außenboards.«
Er verabscheute es, wenn Landratten aus falscher Scham das Bug verschmierten. Über das Heck war die Notdurft reinlicher zu versenken. Er hätte weggesehen.

»Ich dich auf«, hauchte Toni, gefolgt von einem Luftkuss, in sein Smartphone.
»Mit wem hast du telefoniert?«
Toni versteckte das Handy unter seinen Hintern. »Mit niemanden!«, zischte er und ergriff einen der zwei Näpfe die Tami trug. Er senkte den Kopf. Eine dunkelrote Masse blubberte, gesprenkelt mit zinkgelben erbsengroßen Klumpen vor sich hin. Er versenkte einen Löffel in die Substanz, hob das Besteck und das Material tropfte fadenbildend in die Schale.
»Was ist das!«
Tami hockte sich in den Schneidersitz, tauchte ihr Essgerät in ihren Napf. »Ravioli«, entgegnete sie. »Stand auf der Dose«, wisperte sie und stopfte die Mahlzeit in ihren Mund. Mit dem Löffel wies sie über Bord. »Welche Insel ist das?«.
Den Mund verzogen, stellte Toni seine Schale ab. »Langeoog.«

Sie wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ihres Pullovers ab. »Nach dem Mittag können wir ja schwimmen gehen!«
»Tue dir keinen Zwang an. Ich hohle dich aber nicht nach zwei Minuten wieder raus, wenn du erfroren bist«, brummte Toni.
»Warum?«, sie wies erneut zur Küste. »Die Baden auch.«
»Wir sind eine Seemeile vom Strand.«
»Das ist nicht viel!«
Toni spreizte den Daumen ab und hielt diesen über seine Schulter. »Bitte«, raunte er. »Beschwer dich dann nicht, wenn ich ohne dich weiter segle.«
Tami lehnte sich zurück, stützte ihren Oberkörper ab und reckte ihr Gesicht zum Himmel. »Wozu die Eile, ist doch schön hier!«
Er schwang mit dem Kopf. »Vorm Niedrigwasser will ich vor Memmert ankern.«
»Auf Langeoog war ich mal mit meine Eltern, hat mir gefallen.«

»Auf der Insel sind Menschen, auf Memmert ist niemand«, stöhnte Toni. »Außer Vogelkieker. Aber nicht im Hochsommer unter der Woche.«
Tami blickte zur Seite. »Das weißt du?«
»Ja«, brummte er. »War mit Tanja und meinem Bio-Lehrer«, er hob die rechte Schulter, »Referendar!«, flog abfällig über seine Lippen. »Ornithologe«, sprach er gedehnt, »auf Mellum. Langweilig! Hab gelesen. Er hat ihr in der Vogelwarte seine Aufzeichnungen gezeigt.« Er hob den rechten Mundwinkel. »Weiß gar nicht, was an blöden Listen interessant ist. Auf dem Rückweg hat Tanja ihn andauernd angegrient.«
Mit dem Handballen schlug Tami sich auf die Stirn und verdrehte die Augen.

»Mach alles was lose ist unter Deck fest! Ich vertaue die Segel«, befahl Toni.
Tami salutierte. »Ei, Ei Sir« bestätigte sie. »Aber warum?«
»Wirst sehen!«
Nach getaner Arbeit trafen sich beide am Ruder.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Setzt dich! Maniküre deine Fingernägel!«
Erst in diesem Moment fiel Toni auf, dass Tami ihre todschicken Fingernägel gekürzt hatte, kürzer als seine.
Er nahm das Geschenk, das er von Tanja bekommen hatte, und packte es aus.
Tami im Schneidersitz saß auf dem Boden, betrachtete, mit gesenktem Blick, ihre verstümmelten Nägel. »Was ist das«, murmelte sie.
»Ein Sateliten-Navigationsgerät«, trötete er und öffnete eine Klappe unterhalb des Kompasses, der zwischen Ruder und Kajütentür auf einem Sockel thronte. »Genauer als der alte Seekompass.« Er schlug auf das Glas des Kompasses. »Richtung und Ort. Damit kannst vor Grönland schippern, ohne die Ortsmissweisung zu beachten.«
»Ja, Ja«, gab ihm Tami gelangweilt recht.

Toni befestigte die letzte Schraube, das Schiff schlingerte, legte sich auf die Seite.
Tami klammerte sich an der Laibung der Kajütentür. »Und jetzt«, stöhnte sie.
Die Hand an der Reling beugte sich Toni über die Bordwand. Meerwasser umspülte den Kiel. »Punktladung!«, triumphierte er. »Genau im Priel! Sechzehn Stunden Landgang!«
Tami dreht den Kopf. »Auf diesem ...«
»Wenn du willst kann ich dich zwischen drei und acht wecken. Segel setzten«, fiel er ihr ins Wort und kletterte über die Reling. »Schlafsäcke, Rucksack, Proviant«, kommandierte er.

Er hätte sie am Mast gebunden, wenn sie zugestimmt hätte. Sein Körper schrie, schlafen. Es war bis dato sein längster Segeltörn gewesen. Unterstützt hatte sie ihn, am Fock ihre Frau gestanden, trotzdem schmerzten ihn alle Glieder.
Bepackt mit ihren Sachen staksten sie durchs Watt.
Tami hob ihr rechtes Bein, der Schlick tropfte ihr vom Fuß. »Auf Langeoog wäre es bestimmt cooler gewesen.«
Er blickte zum Horizont. »Das ist Juist.«


Toni kam aus der Hocke, zog die weite Jeans über den Hintern und vollendete damit den ersten Teil seiner Morgentoilette. Als wäre es Vorahnung drehte er sein Haar zum Zopf, befestigte es mit einem Stöckchen, das vor den Füßen lag und stülpte die marineblaue Seemannsmütze, die Tanja gerne trug, über den Schopf. Den stahlblauen Strickpullover der Cousine, der seine Hüfte bis zu den Oberschenkeln umschmeichelte, glatt ziehend, schritt er um den Bretterverschlag. Dem Anbau, der an der Vogelwarte angelegt, Brennholz für den Winter beherbergte.

»Was macht ihr hier!«, schrie ihn eine Fremde an.


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67. Flucht über die Nordsee

Bernadette zog ihre Hose herauf und stand auf.
Ihr Kopf lugte gerade hinter dem Erdwall hervor. »Was machst du auf meiner Insel«, schnauzte sie ein Junge in ihrem Alter an.
Seine Kleidung war zerlumpter als ihre, das Gesicht schmuddelig, die Hände dreckig und die Fingernägel verkruststet. »Pinkeln!«
»Im Sitzen?«
Der Knabe schien sie, als seinesgleichen zu halten. »Kackst du im Stehen!«, fauchte Bernadette.
Er ballte eine Faust. »Das ist meine Insel«, keuchte er. »Ich bin der König von Nigelhörn!«
Bernadette verkniff sich ein Lachen. »Der König!«, presste sie hervor und wies über den Erdwall. »Und das ist dein Schloss!«
»Wag es nicht, dich lächerlich über mich zu machen«, grummelte er. »Ich bin Frithjof der Große, Pirat auf allen Meeren.«

Er war verrückt. Zumindest wusste Bernadette jetzt, auf welchem Eiland sie sich befand. Total vom Kurs war sie abgekommen, zu weit draußen auf der See. An der Küste zu bleiben, hatte sie sich vorgenommen.
Bernadette hielt die flache Hand an die Augenbrauen und drehte sich um ihre Achse. »Dummerweise ist dein Piratenschiff beim letzten Sturm gesunken und deine Mannschaft hat gemeutert.«
Frithjof senkte den Kopf und zeichnete mit den Zehen Linien in den Sand. »Fast«, murmelte er. »Sie haben mich im Laderaum entdeckt«, er schielte sie an, »wollt in Hamburg auf einen Überseefrachter anheuern.« Der Junge hob sein Haupt. »Auf große Fahrt. Amerika!«, triumphierte er, klopfte auf seine Brust. »Aber vorher war ich bei Piraten, nur dass ewige Kartoffelschälen hat mich genervt.« Friedhof nickte in Richtung Bernadettes Segelboot und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Ich das deine Nussschale?«
Sie presste die Lippen. »Glaubst du, ich bin hergeschwommen!«
Er rieb an seinem Nasenflügel. »Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam nach Hamburg segeln?«
Den Kopf gen Himmel, verschränkte sie ihre Arme. »Nichts!«, zischte sie und wies in die Ferne. »Ich muss nach Westen!«
Fritjof klopfte auf seine Schenkel und lachte. »Das ist aber Osten!«
»Ist egal! Nur weg von hier!«
Er zwinkerte ihr zu. »Bist wohl weggelaufen?«
Sie verbarg ihre Trauer hinter der Angst, die sie hatte. »Das geht dich nichts an«, schniefte sie.

»Sie haben mit ein wenig Proviant dagelassen. Beim Essen können wir uns ja einigen wohin die Reise geht!«


Toni saß, die Oberschenkel zusammengepresst, die Unterschenkel abgespreizt im Dünengras und drehte die Kapitänsmütze seines Großvaters, die ihm Tami beim Verlassen des Hauses aufgesetzt hatte. Er warf die Kopfbedeckung in die Luft, fing sie auf und legte sie neben das aufgeschlagene Buch. Haarsträhnen von der Stirn streichend, ergriff er die Seekarte, den Stechzirkel, rollte die Karte aus und stieß mit der einen Spitze des Navigationsbesteckes in die Abbildung der Insel Mellum. Er zirkelte bis Wangerooge, Langeoog, Norderney über Juist bis Borkum, bis zum Ende des Plans, dem Ende der Welt, warf die Seekarte ins Gras, schlug den Seefahrtskalender auf. Die Lippen benetzend, blätterte er bis zur Karte ‚mittleres Nordeuropa‘. Den Kalender auf den Knien, die Zunge herausgesteckt, bohrte er die Zirkelspitze in die Außenjade, spreizte den Stechzirkel bis Borkum. Zirkelnd über den Plan, arbeitete er sich bis Ailsa Craig vor.

Den Kopf zur Seite gelegt, steckte er seinen Zeigefinger in den Mund, leckte ihn ab und streckte ihn in den Wind. Die Lippen geschürzt dreht er den Oberkörper, legte die Handkante über den Augenbrauen an die Stirn und blickt zum Leuchtturm Hohe Weg.
Wie eine sich entspannende Feder schnellte sein Brustkorb vor, die zu einer Faust geballt Hand schmetterte auf seinen Oberschenkel und die Karte samt Zirkel schleuderte vom Knie getrieben ins Dünengras.

Tamis Gesicht erschien an der Kajütentür. Sie kletterte aufs Deck, sprang über die Reling auf den Bootssteg und schlenderte auf Toni zu.
Den Handrücken der rechten Hand am Mund, ihren Rumpf beugend, den linken Arm reckend über den Kopf trat sie auf ihn zu. »Morgen«, murmelte sie und rieb die Augen.
Toni strich über sein Kinn und lächelte sie an. »Moin, moin! Gut geschlafen!«
»Wie eine Prinzessin«, flüsterte sie, gähnend. »Und du!«
»Super«, log er sie an. Kaum ein Auge hatte er zugemacht. Die ganze Nacht gegrübelt. Immerfort kreisten seine Gedanken: Bärbel, Sophia, Tanja, Antonia. »Lass uns Frühstücken, dann bring ich dich zur Küste.«
Sie warf den Kopf zurück, als besäße sie weiterhin ihre Haarpracht, und fiel neben ihn ins Gras. »Wieso?« Sie ergriff die Seekarte. »Willst allein die Welt erkunden!«
Die Zähne fletschend schnappte er die Karte. »Unmöglich! Das würde Wochen dauern!«, schnaufte er.

»Wo willst du hin?«
Toni nahm den Seekalender, schlug die Seite mit der Karte auf und tippte auf eine Insel.
Hinterm Ohr entlangstreichend beugte sich Tami zum Kalender. »Glasgow?«
»Quatsch!« Er klopfte auf das Papier. »Ailsa Graig ein Eiland in der Irischen See!«
»Warum?«
»Ist meine Sache!«, schnaufte er und stand auf.
Tami drückte ihren Daumen auf den Schriftzug von Glasgow und den Zeigefinger auf ihre Position. »So weit weg ist es nicht«.
Die Arme flatternd wie ein Vogel, schritt Toni auf und ab. »Mit einem Ozeanliner vielleicht«, er wies auf sein Boot, »aber nicht mit der Sophia, eine Zweimann-Jolle die für Regatten ausgerüstete ist, Schnelligkeit, Wendigkeit. Der Westdrift entgegen, tagelang kreuzten, da hängt man wie ein nasser Seesack über der Reling.«

Tami breitete die Seekarte aus. »Wie wäre es mit …« Ihr Finger schwebte über das Blatt, stieß zu.
Toni beugte sich herab. »Ijsselmeer?«
»Zum Beispiel!«
Er blickte in den wolkenlosen Himmel, zog die linke Schultern herauf. »Mit ausreichend Pausen vier fünf Tage, bei günstig Wind drei«, raunte er und zupfte an seinem Ohrläppchen. »Warum fragst du?«
Sie hob ihre Mundwinkel, presste die Oberarme an ihren Körper, spreizte die Unterarme ab und senkte die Hände. »Ich komm mit!«
Toni zeigte ihr einen Vogel. »Du spinnst!«
»Hey, bleib locker! Was du kannst, kann ich auch!«
»Was?«
Tami stand auf, wischte den Sand von ihrem Hintern. »Na abhauen!«

Toni griente. »Ich hau nicht ab.« Er wedelte mit den Fingern vor der Brust. »Ich mach Ferien!«
Eine Hand auf seine Schulter legend, wandte sie sich ihm zu. »Ich auch!«
»Deine Eltern würden das nie erlauben!«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Aber deine Mutter!«
Er überkreuzte die Arme, legte die Hände auf die Schultern. »Die weiß Bescheid«, trällerte er. Ein Umstand, der nicht gelogen, denn, obwohl sie nicht mehr lebte, sprach er mit ihr – wenn es darauf ankam.
Sie gab ihm eine Kopfnuss. »Meine auch!«
Er grinste, nickte.
Mit den Achseln zuckend, lächelte sie ihn an. »Zum Teil! Hab sie angerufen!«
»Wir haben Netz?«
»Einen Balken!«

Toni zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche heraus, hielt es musternd gen Himmel, während Tami auf ihn einredete.
»Echt!«, frohlockte er.
Der Empfang erfreute ihn, nicht der überlaufende Nachrichtenspeicher, alle Message von einem Absender, der weder Tanja oder der Admiral. Er nahm sich vor, wenn er allein war, ihm zu antworten.
Tami schleuderte ihm ihre Faust gegen seine Hüfte. »Ist krass! Oder?«
Toni sperrte den Mund auf. »Was?«
»Wie hat sie nicht gesagt!«
»Wer?«
»Meine Alte, hörst du mir nicht zu?« Tami atmete tief ein. »Langsam! Für Jungengehirne«, sprach sie gedehnt. »Olga hat Ferienhaus in Holland. Sie gefragt Mutter, ob ich mit ihr zwei Wochen Ferien. Sie nicht gesagt«, sie bewegte ihren Zeige- und Ringfinger, wie eine Figur, die lief, »wie.«
Er verstand nur die Hälfte, erfasste aber die Tragweite.
»Wann hast du sie gesprochen?«
»Gestern Abend als du geschnarcht hast.«
»Ich schnarche nicht!«, erboste sich Toni. »Das geht nicht!«
»Wenn man auf den Rücken liegt?«
»Das mein ich nicht, außerdem lag ich auf Deck und du in der Koje. Du kannst nicht mitkommen.«
»Warum?«
»Weil, weil.« Er flatterte mit den Armen zum Abheben bereit.
Tami verschränkte die Arme. »Ich ein Mädchen bin?«

»Wo ist das Klo?«
Die rechte Hand am Ruderstock, mit der Linken hart ein Seil umfassend, starrte Toni zur Mastspitze herauf. »Achtern über die Reling und ablassen. Immer mit dem Wind«, grummelte er.
Tami zeigte auf die Wasserfläche. »Ins Meer?«
»Glaubst die Roben und Fische haben Toiletten!«
Die Hände vorm Schritt, die Knie verschränkt, zog Tami ihren Kopf zwischen ihre Schulterbeine. »Aber ich muss ...«
»Hättest auf Mellum gehen können.« Er wandte ihr sein Gesicht zu. »War im Reet. In der Kajüte ist Papier«, schnaufte er, wies das Seil in den Fingern nach vorn. »Am Bug backbord vom Vorluk ist eine Klappe, darunter ein Eimer, da kannst du es reinwerfen.« Er blinzelte sie an. »Der Umwelt zuliebe!«
»Wie die Kacke!«
Toni verdrehte die Augen. »Drummel! Das Klopapier!«

Mit einer Rolle Toilettenpapier bewaffnet, schwänzelte Tami zum Bug. »Lein dich an!«, schrie er.
»Das Meer ist ganz ruhig«, konterte Tami, griff an ihre Rettungsweste und schwang ihr Becken.
Grinsend nahm Toni die Hand an den Mund. »Wenn was daneben geht, dann schrubbst du Außenboards.«
Er verabscheute es, wenn Landratten aus falscher Scham das Bug verschmierten. Über das Heck war die Notdurft reinlicher zu versenken. Er hätte weggesehen.

»Ich dich auf«, hauchte Toni, gefolgt von einem Luftkuss, in sein Smartphone.
»Mit wem hast du telefoniert?«
Toni versteckte das Handy unter seinen Hintern. »Mit niemanden!«, zischte er und ergriff einen der zwei Näpfe die Tami trug. Er senkte den Kopf. Eine dunkelrote Masse blubberte, gesprenkelt mit zinkgelben erbsengroßen Klumpen vor sich hin. Er versenkte einen Löffel in die Substanz, hob das Besteck und das Material tropfte fadenbildend in die Schale.
»Was ist das!«
Tami hockte sich in den Schneidersitz, tauchte ihr Essgerät in ihren Napf. »Ravioli«, entgegnete sie. »Stand auf der Dose«, wisperte sie und stopfte die Mahlzeit in ihren Mund. Mit dem Löffel wies sie über Bord. »Welche Insel ist das?«.
Den Mund verzogen, stellte Toni seine Schale ab. »Langeoog.«

Sie wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ihres Pullovers ab. »Nach dem Mittag können wir ja schwimmen gehen!«
»Tue dir keinen Zwang an. Ich hohle dich aber nicht nach zwei Minuten wieder raus, wenn du erfroren bist«, brummte Toni.
»Warum?«, sie wies erneut zur Küste. »Die Baden auch.«
»Wir sind eine Seemeile vom Strand.«
»Das ist nicht viel!«
Toni spreizte den Daumen ab und hielt diesen über seine Schulter. »Bitte«, raunte er. »Beschwer dich dann nicht, wenn ich ohne dich weiter segle.«
Tami lehnte sich zurück, stützte ihren Oberkörper ab und reckte ihr Gesicht zum Himmel. »Wozu die Eile, ist doch schön hier!«
Er schwang mit dem Kopf. »Vorm Niedrigwasser will ich vor Memmert ankern.«
»Auf Langeoog war ich mal mit meine Eltern, hat mir gefallen.«

»Auf der Insel sind Menschen, auf Memmert ist niemand«, stöhnte Toni. »Außer Vogelkieker. Aber nicht im Hochsommer unter der Woche.«
Tami blickte zur Seite. »Das weißt du?«
»Ja«, brummte er. »War mit Tanja und meinem Bio-Lehrer«, er hob die rechte Schulter, »Referendar!«, flog abfällig über seine Lippen. »Ornithologe«, sprach er gedehnt, »auf Mellum. Langweilig! Hab gelesen. Er hat ihr in der Vogelwarte seine Aufzeichnungen gezeigt.« Er hob den rechten Mundwinkel. »Weiß gar nicht, was an blöden Listen interessant ist. Auf dem Rückweg hat Tanja ihn andauernd angegrient.«
Mit dem Handballen schlug Tami sich auf die Stirn und verdrehte die Augen.

»Mach alles was lose ist unter Deck fest! Ich vertaue die Segel«, befahl Toni.
Tami salutierte. »Ei, Ei Sir« bestätigte sie. »Aber warum?«
»Wirst sehen!«
Nach getaner Arbeit trafen sich beide am Ruder.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Setzt dich! Maniküre deine Fingernägel!«
Erst in diesem Moment fiel Toni auf, dass Tami ihre todschicken Fingernägel gekürzt hatte, kürzer als seine.
Er nahm das Geschenk, das er von Tanja bekommen hatte, und packte es aus.
Tami im Schneidersitz saß auf dem Boden, betrachtete, mit gesenktem Blick, ihre verstümmelten Nägel. »Was ist das«, murmelte sie.
»Ein Sateliten-Navigationsgerät«, trötete er und öffnete eine Klappe unterhalb des Kompasses, der zwischen Ruder und Kajütentür auf einem Sockel thronte. »Genauer als der alte Seekompass.« Er schlug auf das Glas des Kompasses. »Richtung und Ort. Damit kannst vor Grönland schippern, ohne die Ortsmissweisung zu beachten.«
»Ja, Ja«, gab ihm Tami gelangweilt recht.

Toni befestigte die letzte Schraube, das Schiff schlingerte, legte sich auf die Seite.
Tami klammerte sich an der Laibung der Kajütentür. »Und jetzt«, stöhnte sie.
Die Hand an der Reling beugte sich Toni über die Bordwand. Meerwasser umspülte den Kiel. »Punktladung!«, triumphierte er. »Genau im Priel! Sechzehn Stunden Landgang!«
Tami dreht den Kopf. »Auf diesem ...«
»Wenn du willst kann ich dich zwischen drei und acht wecken. Segel setzten«, fiel er ihr ins Wort und kletterte über die Reling. »Schlafsäcke, Rucksack, Proviant«, kommandierte er.

Er hätte sie am Mast gebunden, wenn sie zugestimmt hätte. Sein Körper schrie, schlafen. Es war bis dato sein längster Segeltörn gewesen. Unterstützt hatte sie ihn, am Fock ihre Frau gestanden, trotzdem schmerzten ihn alle Glieder.
Bepackt mit ihren Sachen staksten sie durchs Watt.
Tami hob ihr rechtes Bein, der Schlick tropfte ihr vom Fuß. »Auf Langeoog wäre es bestimmt cooler gewesen.«
Er blickte zum Horizont. »Das ist Juist.«


Toni kam aus der Hocke, zog die weite Jeans über den Hintern und vollendete damit den ersten Teil seiner Morgentoilette. Als wäre es Vorahnung drehte er sein Haar zum Zopf, befestigte es mit einem Stöckchen, das vor den Füßen lag und stülpte die marineblaue Seemannsmütze, die Tanja gerne trug, über den Schopf. Den stahlblauen Strickpullover der Cousine, der seine Hüfte bis zu den Oberschenkeln umschmeichelte, glatt ziehend, schritt er um den Bretterverschlag. Dem Anbau, der an der Vogelwarte angelegt, Brennholz für den Winter beherbergte.

»Was macht ihr hier!«, schrie ihn eine Fremde an.


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67. Flucht über die Nordsee

Bernadette zog ihre Hose herauf und stand auf.
Ihr Kopf lugte gerade hinter dem Erdwall hervor. »Was machst du auf meiner Insel«, schnauzte sie ein Junge in ihrem Alter an.
Seine Kleidung war zerlumpter als ihre, das Gesicht schmuddelig, die Hände dreckig und die Fingernägel verkruststet. »Pinkeln!«
»Im Sitzen?«
Der Knabe schien sie, als seinesgleichen zu halten. »Kackst du im Stehen!«, fauchte Bernadette.
Er ballte eine Faust. »Das ist meine Insel«, keuchte er. »Ich bin der König von Nigelhörn!«
Bernadette verkniff sich ein Lachen. »Der König!«, presste sie hervor und wies über den Erdwall. »Und das ist dein Schloss!«
»Wag es nicht, dich lächerlich über mich zu machen«, grummelte er. »Ich bin Frithjof der Große, Pirat auf allen Meeren.«

Er war verrückt. Zumindest wusste Bernadette jetzt, auf welchem Eiland sie sich befand. Total vom Kurs war sie abgekommen, zu weit draußen auf der See. An der Küste zu bleiben, hatte sie sich vorgenommen.
Bernadette hielt die flache Hand an die Augenbrauen und drehte sich um ihre Achse. »Dummerweise ist dein Piratenschiff beim letzten Sturm gesunken und deine Mannschaft hat gemeutert.«
Frithjof senkte den Kopf und zeichnete mit den Zehen Linien in den Sand. »Fast«, murmelte er. »Sie haben mich im Laderaum entdeckt«, er schielte sie an, »wollt in Hamburg auf einen Überseefrachter anheuern.« Der Junge hob sein Haupt. »Auf große Fahrt. Amerika!«, triumphierte er, klopfte auf seine Brust. »Aber vorher war ich bei Piraten, nur dass ewige Kartoffelschälen hat mich genervt.« Friedhof nickte in Richtung Bernadettes Segelboot und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Ich das deine Nussschale?«
Sie presste die Lippen. »Glaubst du, ich bin hergeschwommen!«
Er rieb an seinem Nasenflügel. »Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam nach Hamburg segeln?«
Den Kopf gen Himmel, verschränkte sie ihre Arme. »Nichts!«, zischte sie und wies in die Ferne. »Ich muss nach Westen!«
Fritjof klopfte auf seine Schenkel und lachte. »Das ist aber Osten!«
»Ist egal! Nur weg von hier!«
Er zwinkerte ihr zu. »Bist wohl weggelaufen?«
Sie verbarg ihre Trauer hinter der Angst, die sie hatte. »Das geht dich nichts an«, schniefte sie.

»Sie haben mit ein wenig Proviant dagelassen. Beim Essen können wir uns ja einigen wohin die Reise geht!«


Toni saß, die Oberschenkel zusammengepresst, die Unterschenkel abgespreizt im Dünengras und drehte die Kapitänsmütze seines Großvaters, die ihm Tami beim Verlassen des Hauses aufgesetzt hatte. Er warf die Kopfbedeckung in die Luft, fing sie auf und legte sie neben das aufgeschlagene Buch. Haarsträhnen von der Stirn streichend, ergriff er die Seekarte, den Stechzirkel, rollte die Karte aus und stieß mit der einen Spitze des Navigationsbesteckes in die Abbildung der Insel Mellum. Er zirkelte bis Wangerooge, Langeoog, Norderney über Juist bis Borkum, bis zum Ende des Plans, dem Ende der Welt, warf die Seekarte ins Gras, schlug den Seefahrtskalender auf. Die Lippen benetzend, blätterte er bis zur Karte ‚mittleres Nordeuropa‘. Den Kalender auf den Knien, die Zunge herausgesteckt, bohrte er die Zirkelspitze in die Außenjade, spreizte den Stechzirkel bis Borkum. Zirkelnd über den Plan, arbeitete er sich bis Ailsa Craig vor.

Den Kopf zur Seite gelegt, steckte er seinen Zeigefinger in den Mund, leckte ihn ab und streckte ihn in den Wind. Die Lippen geschürzt dreht er den Oberkörper, legte die Handkante über den Augenbrauen an die Stirn und blickt zum Leuchtturm Hohe Weg.
Wie eine sich entspannende Feder schnellte sein Brustkorb vor, die zu einer Faust geballt Hand schmetterte auf seinen Oberschenkel und die Karte samt Zirkel schleuderte vom Knie getrieben ins Dünengras.

Tamis Gesicht erschien an der Kajütentür. Sie kletterte aufs Deck, sprang über die Reling auf den Bootssteg und schlenderte auf Toni zu.
Den Handrücken der rechten Hand am Mund, ihren Rumpf beugend, den linken Arm reckend über den Kopf trat sie auf ihn zu. »Morgen«, murmelte sie und rieb die Augen.
Toni strich über sein Kinn und lächelte sie an. »Moin, moin! Gut geschlafen!«
»Wie eine Prinzessin«, flüsterte sie, gähnend. »Und du!«
»Super«, log er sie an. Kaum ein Auge hatte er zugemacht. Die ganze Nacht gegrübelt. Immerfort kreisten seine Gedanken: Bärbel, Sophia, Tanja, Antonia. »Lass uns Frühstücken, dann bring ich dich zur Küste.«
Sie warf den Kopf zurück, als besäße sie weiterhin ihre Haarpracht, und fiel neben ihn ins Gras. »Wieso?« Sie ergriff die Seekarte. »Willst allein die Welt erkunden!«
Die Zähne fletschend schnappte er die Karte. »Unmöglich! Das würde Wochen dauern!«, schnaufte er.

»Wo willst du hin?«
Toni nahm den Seekalender, schlug die Seite mit der Karte auf und tippte auf eine Insel.
Hinterm Ohr entlangstreichend beugte sich Tami zum Kalender. »Glasgow?«
»Quatsch!« Er klopfte auf das Papier. »Ailsa Graig ein Eiland in der Irischen See!«
»Warum?«
»Ist meine Sache!«, schnaufte er und stand auf.
Tami drückte ihren Daumen auf den Schriftzug von Glasgow und den Zeigefinger auf ihre Position. »So weit weg ist es nicht«.
Die Arme flatternd wie ein Vogel, schritt Toni auf und ab. »Mit einem Ozeanliner vielleicht«, er wies auf sein Boot, »aber nicht mit der Sophia, eine Zweimann-Jolle die für Regatten ausgerüstete ist, Schnelligkeit, Wendigkeit. Der Westdrift entgegen, tagelang kreuzten, da hängt man wie ein nasser Seesack über der Reling.«

Tami breitete die Seekarte aus. »Wie wäre es mit …« Ihr Finger schwebte über das Blatt, stieß zu.
Toni beugte sich herab. »Ijsselmeer?«
»Zum Beispiel!«
Er blickte in den wolkenlosen Himmel, zog die linke Schultern herauf. »Mit ausreichend Pausen vier fünf Tage, bei günstig Wind drei«, raunte er und zupfte an seinem Ohrläppchen. »Warum fragst du?«
Sie hob ihre Mundwinkel, presste die Oberarme an ihren Körper, spreizte die Unterarme ab und senkte die Hände. »Ich komm mit!«
Toni zeigte ihr einen Vogel. »Du spinnst!«
»Hey, bleib locker! Was du kannst, kann ich auch!«
»Was?«
Tami stand auf, wischte den Sand von ihrem Hintern. »Na abhauen!«

Toni griente. »Ich hau nicht ab.« Er wedelte mit den Fingern vor der Brust. »Ich mach Ferien!«
Eine Hand auf seine Schulter legend, wandte sie sich ihm zu. »Ich auch!«
»Deine Eltern würden das nie erlauben!«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Aber deine Mutter!«
Er überkreuzte die Arme, legte die Hände auf die Schultern. »Die weiß Bescheid«, trällerte er. Ein Umstand, der nicht gelogen, denn, obwohl sie nicht mehr lebte, sprach er mit ihr – wenn es darauf ankam.
Sie gab ihm eine Kopfnuss. »Meine auch!«
Er grinste, nickte.
Mit den Achseln zuckend, lächelte sie ihn an. »Zum Teil! Hab sie angerufen!«
»Wir haben Netz?«
»Einen Balken!«

Toni zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche heraus, hielt es musternd gen Himmel, während Tami auf ihn einredete.
»Echt!«, frohlockte er.
Der Empfang erfreute ihn, nicht der überlaufende Nachrichtenspeicher, alle Message von einem Absender, der weder Tanja oder der Admiral. Er nahm sich vor, wenn er allein war, ihm zu antworten.
Tami schleuderte ihm ihre Faust gegen seine Hüfte. »Ist krass! Oder?«
Toni sperrte den Mund auf. »Was?«
»Wie hat sie nicht gesagt!«
»Wer?«
»Meine Alte, hörst du mir nicht zu?« Tami atmete tief ein. »Langsam! Für Jungengehirne«, sprach sie gedehnt. »Olga hat Ferienhaus in Holland. Sie gefragt Mutter, ob ich mit ihr zwei Wochen Ferien. Sie nicht gesagt«, sie bewegte ihren Zeige- und Ringfinger, wie eine Figur, die lief, »wie.«
Er verstand nur die Hälfte, erfasste aber die Tragweite.
»Wann hast du sie gesprochen?«
»Gestern Abend als du geschnarcht hast.«
»Ich schnarche nicht!«, erboste sich Toni. »Das geht nicht!«
»Wenn man auf den Rücken liegt?«
»Das mein ich nicht, außerdem lag ich auf Deck und du in der Koje. Du kannst nicht mitkommen.«
»Warum?«
»Weil, weil.« Er flatterte mit den Armen zum Abheben bereit.
Tami verschränkte die Arme. »Ich ein Mädchen bin?«

»Wo ist das Klo?«
Die rechte Hand am Ruderstock, mit der Linken hart ein Seil umfassend, starrte Toni zur Mastspitze herauf. »Achtern über die Reling und ablassen. Immer mit dem Wind«, grummelte er.
Tami zeigte auf die Wasserfläche. »Ins Meer?«
»Glaubst die Roben und Fische haben Toiletten!«
Die Hände vorm Schritt, die Knie verschränkt, zog Tami ihren Kopf zwischen ihre Schulterbeine. »Aber ich muss ...«
»Hättest auf Mellum gehen können.« Er wandte ihr sein Gesicht zu. »War im Reet. In der Kajüte ist Papier«, schnaufte er, wies das Seil in den Fingern nach vorn. »Am Bug backbord vom Vorluk ist eine Klappe, darunter ein Eimer, da kannst du es reinwerfen.« Er blinzelte sie an. »Der Umwelt zuliebe!«
»Wie die Kacke!«
Toni verdrehte die Augen. »Drummel! Das Klopapier!«

Mit einer Rolle Toilettenpapier bewaffnet, schwänzelte Tami zum Bug. »Lein dich an!«, schrie er.
»Das Meer ist ganz ruhig«, konterte Tami, griff an ihre Rettungsweste und schwang ihr Becken.
Grinsend nahm Toni die Hand an den Mund. »Wenn was daneben geht, dann schrubbst du Außenboards.«
Er verabscheute es, wenn Landratten aus falscher Scham das Bug verschmierten. Über das Heck war die Notdurft reinlicher zu versenken. Er hätte weggesehen.

»Ich dich auf«, hauchte Toni, gefolgt von einem Luftkuss, in sein Smartphone.
»Mit wem hast du telefoniert?«
Toni versteckte das Handy unter seinen Hintern. »Mit niemanden!«, zischte er und ergriff einen der zwei Näpfe die Tami trug. Er senkte den Kopf. Eine dunkelrote Masse blubberte, gesprenkelt mit zinkgelben erbsengroßen Klumpen vor sich hin. Er versenkte einen Löffel in die Substanz, hob das Besteck und das Material tropfte fadenbildend in die Schale.
»Was ist das!«
Tami hockte sich in den Schneidersitz, tauchte ihr Essgerät in ihren Napf. »Ravioli«, entgegnete sie. »Stand auf der Dose«, wisperte sie und stopfte die Mahlzeit in ihren Mund. Mit dem Löffel wies sie über Bord. »Welche Insel ist das?«.
Den Mund verzogen, stellte Toni seine Schale ab. »Langeoog.«

Sie wischte sich die Lippen mit dem Ärmel ihres Pullovers ab. »Nach dem Mittag können wir ja schwimmen gehen!«
»Tue dir keinen Zwang an. Ich hohle dich aber nicht nach zwei Minuten wieder raus, wenn du erfroren bist«, brummte Toni.
»Warum?«, sie wies erneut zur Küste. »Die Baden auch.«
»Wir sind eine Seemeile vom Strand.«
»Das ist nicht viel!«
Toni spreizte den Daumen ab und hielt diesen über seine Schulter. »Bitte«, raunte er. »Beschwer dich dann nicht, wenn ich ohne dich weiter segle.«
Tami lehnte sich zurück, stützte ihren Oberkörper ab und reckte ihr Gesicht zum Himmel. »Wozu die Eile, ist doch schön hier!«
Er schwang mit dem Kopf. »Vorm Niedrigwasser will ich vor Memmert ankern.«
»Auf Langeoog war ich mal mit meine Eltern, hat mir gefallen.«

»Auf der Insel sind Menschen, auf Memmert ist niemand«, stöhnte Toni. »Außer Vogelkieker. Aber nicht im Hochsommer unter der Woche.«
Tami blickte zur Seite. »Das weißt du?«
»Ja«, brummte er. »War mit Tanja und meinem Bio-Lehrer«, er hob die rechte Schulter, »Referendar!«, flog abfällig über seine Lippen. »Ornithologe«, sprach er gedehnt, »auf Mellum. Langweilig! Hab gelesen. Er hat ihr in der Vogelwarte seine Aufzeichnungen gezeigt.« Er hob den rechten Mundwinkel. »Weiß gar nicht, was an blöden Listen interessant ist. Auf dem Rückweg hat Tanja ihn andauernd angegrient.«
Mit dem Handballen schlug Tami sich auf die Stirn und verdrehte die Augen.

»Mach alles was lose ist unter Deck fest! Ich vertaue die Segel«, befahl Toni.
Tami salutierte. »Ei, Ei Sir« bestätigte sie. »Aber warum?«
»Wirst sehen!«
Nach getaner Arbeit trafen sich beide am Ruder.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Setzt dich! Maniküre deine Fingernägel!«
Erst in diesem Moment fiel Toni auf, dass Tami ihre todschicken Fingernägel gekürzt hatte, kürzer als seine.
Er nahm das Geschenk, das er von Tanja bekommen hatte, und packte es aus.
Tami im Schneidersitz saß auf dem Boden, betrachtete, mit gesenktem Blick, ihre verstümmelten Nägel. »Was ist das«, murmelte sie.
»Ein Sateliten-Navigationsgerät«, trötete er und öffnete eine Klappe unterhalb des Kompasses, der zwischen Ruder und Kajütentür auf einem Sockel thronte. »Genauer als der alte Seekompass.« Er schlug auf das Glas des Kompasses. »Richtung und Ort. Damit kannst vor Grönland schippern, ohne die Ortsmissweisung zu beachten.«
»Ja, Ja«, gab ihm Tami gelangweilt recht.

Toni befestigte die letzte Schraube, das Schiff schlingerte, legte sich auf die Seite.
Tami klammerte sich an der Laibung der Kajütentür. »Und jetzt«, stöhnte sie.
Die Hand an der Reling beugte sich Toni über die Bordwand. Meerwasser umspülte den Kiel. »Punktladung!«, triumphierte er. »Genau im Priel! Sechzehn Stunden Landgang!«
Tami dreht den Kopf. »Auf diesem ...«
»Wenn du willst kann ich dich zwischen drei und acht wecken. Segel setzten«, fiel er ihr ins Wort und kletterte über die Reling. »Schlafsäcke, Rucksack, Proviant«, kommandierte er.

Er hätte sie am Mast gebunden, wenn sie zugestimmt hätte. Sein Körper schrie, schlafen. Es war bis dato sein längster Segeltörn gewesen. Unterstützt hatte sie ihn, am Fock ihre Frau gestanden, trotzdem schmerzten ihn alle Glieder.
Bepackt mit ihren Sachen staksten sie durchs Watt.
Tami hob ihr rechtes Bein, der Schlick tropfte ihr vom Fuß. »Auf Langeoog wäre es bestimmt cooler gewesen.«
Er blickte zum Horizont. »Das ist Juist.«


Toni kam aus der Hocke, zog die weite Jeans über den Hintern und vollendete damit den ersten Teil seiner Morgentoilette. Als wäre es Vorahnung drehte er sein Haar zum Zopf, befestigte es mit einem Stöckchen, das vor den Füßen lag und stülpte die marineblaue Seemannsmütze, die Tanja gerne trug, über den Schopf. Den stahlblauen Strickpullover der Cousine, der seine Hüfte bis zu den Oberschenkeln umschmeichelte, glatt ziehend, schritt er um den Bretterverschlag. Dem Anbau, der an der Vogelwarte angelegt, Brennholz für den Winter beherbergte.

»Was macht ihr hier!«, schrie ihn eine Fremde an.


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Flucht über die Nordsee

Bernadette zerrte ihre Hose herauf und stand auf.
Ihr Kopf lugte gerade hinter dem Erdwall hervor, da erklang eine kindliche Stimme: »Was machst du auf meiner Insel«, schnauzte sie ein Junge in ihrem Alter an.
Seine Kleidung war zerlumpter als ihre, das Gesicht schmuddelig, die Hände dreckig und die Fingernägel verkruststet.
»Strullen!«
Sie sprach wie ein Mädchen. »Pinkeln!«, setzte sie, weitaus lauter im tiefen Bass, soweit es ihr möglich war, hinterher.
»Im Sitzen?«
Der Knabe schien sie, als seinesgleichen zu halten. »Und Kacken. Schiettest du im Stahn!«
Er ballte eine Faust. »Das ist meine Insel. Ich bin der König von Nigelhörn!«
Bernadette verkniff sich ein Lachen. »Der König!«, presste sie hervor und wies über den Erdwall. »Und das ist dein Schloss!«
»Wag es nicht, dich lächerlich über mich zu machen«, grummelte er. »Ich bin Fiete-Frithjof der Große, Pirat auf allen Meeren.«

Er war verrückt. Zumindest wusste Bernadette jetzt, auf welchem Eiland sie sich befand. Total vom Kurs war sie abgekommen, zu weit draußen auf der See. An der Küste zu bleiben, hatte sie sich vorgenommen.
Bernadette hielt die flache Hand an die Augenbrauen und drehte sich um ihre Achse. »Dummerweise ist dein Piratenschiff beim letzten Sturm gesunken und deine Mannschaft hat gemeutert.«
Frithjof senkte den Kopf und zeichnete mit den Zehen Linien in den Sand. »Fast«, murmelte er. »Sie haben mich im Laderaum entdeckt«, er schielte sie an, »wollt in Hamburg auf einen Überseefrachter anheuern.« Der Junge hob sein Haupt und klopfte auf seine Brust.. »Auf große Fahrt. Amerika! Aber vorher war ich bei Piraten, nur dass ewige Kartoffelschälen hat mich genervt.« Friedhof nickte in Richtung Bernadettes Segelboot und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Ist das deine Nussschale?«
Sie presste die Lippen. »Glaubst du, ich bin hergeschwommen!«
Er rieb an seinem Nasenflügel. »Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam nach Hamburg segeln?«
Den Kopf gen Himmel, verschränkte sie ihre Arme. »Nichts!«, zischte sie und wies in die Ferne. »Ich muss nach Westen!«
Fritjof klopfte auf seine Schenkel und lachte. »Das ist aber Osten!«
»Ist egal! Nur weg von hier!«
Er zwinkerte ihr zu. »Bist wohl weggelaufen?«
Sie verbarg ihre Trauer hinter ihrer Angst. »Das geht dich nichts an.«

»Sie haben mit ein wenig Proviant dagelassen. Beim Essen können wir uns ja einigen wohin die Reise geht!«


Toni saß, die Oberschenkel zusammengepresst, die Unterschenkel abgespreizt im Dünengras und drehte die Kapitänsmütze seines Großvaters, welche ihn Tami beim Verlassen des Hauses aufgesetzt hatte. Er warf die Kopfbedeckung in die Luft, fing sie auf und legte sie neben das aufgeschlagene Buch. Haarsträhnen von der Stirn streichend, ergriff er die Seekarte, den Stechzirkel, rollte die Karte aus und stieß mit der einen Spitze des Navigationsbesteckes in die Abbildung der Insel Mellum. Er zirkelte bis Wangerooge, Langeoog, Norderney über Juist bis Borkum, bis zum Ende des Plans, dem Ende der Welt. Die Zähne gefletscht warf er die Seekarte ins Gras, ergriff den Seefahrtskalender und schlug ihn auf. Die Lippen leckend, blätterte er bis zur Karte ‚mittleres Nordeuropa‘. Den Kalender auf den Knien, die Zunge herausgesteckt, bohrte er die Zirkelspitze in die Außenjade und spreizte den Stechzirkel bis Borkum. Er zirkelte sich über den Plan und arbeitete sich bis Ailsa Craig vor.

Den Kopf zur Seite gelegt, steckte er seinen Zeigefinger in den Mund und benetzte ihn mit Spucke. Den nassen Finger hielt er in die Luft, sodass die leichte Brise ihn an der Luvseite abkühlte. Nachdem er den Finger an seinem Pullover trockengerieben hatte, schürzte er die Lippen, wandte den Oberkörper, legte die Handkante über den Augenbrauen an die Stirn und blickt zum Leuchtturm Hohe Weg.
Wie eine sich entspannende Feder schnellte sein Brustkorb vor, die zu einer Faust geballt Hand schmetterte auf seinen Oberschenkel und den Kalender samt Zirkel schleuderte vom Knie getrieben ins Dünengras.

Tamis Gesicht erschien an der Kajütentür. Sie kletterte aufs Deck, sprang über die Reling auf den Bootssteg und schlenderte auf Toni zu.
Den Handrücken der rechten Hand am Mund, beugte Tami ihren Rumpf. Dann reckte sie den linken Arm über den Kopf und trat auf ihn zu. »Morgen«, murmelte sie und rieb sich die Augen.
Toni strich über sein Kinn und lächelte sie an. »Moin, moin! Gut geschlafen!«
»Wie eine Prinzessin«, flüsterte sie, gähnte. »Du!«
»Super«, log er sie an. Kaum ein Auge hatte er zugemacht. Die ganze Nacht gegrübelt. Immerfort kreisten seine Gedanken: Bärbel, Sophia, Tanja, Antonia. »Lass uns Frühstücken, dann bring ich dich zur Küste.«
Sie warf den Kopf zurück, als besäße sie weiterhin ihre Haarpracht, und fiel neben ihn ins Gras. »Wieso?« Sie ergriff die Seekarte. »Willst allein die Welt erkunden!«
Die Zähne gefletscht, schnappte er die Karte. »Unmöglich! Das würde Wochen dauern!«

»Wo willst du hin?«
Toni nahm den Seekalender, schlug die Seite mit der Karte auf und tippte auf eine Insel.
Hinterm Ohr entlangstreichend beugte sich Tami zum Kalender. »Glasgow?«
»Quatsch!« Er klopfte auf das Blatt. »Ailsa Graig ein Eiland in der Irischen See!«
»Warum?«
Er stand auf.»Ist meine Sache!«,
Tami drückte ihren Daumen auf den Schriftzug von Glasgow und den Zeigefinger auf ihre Position. »So weit weg ist es nicht«.
Toni schritt auf und ab, flatterte dabei wie ein Vogel mit den Armen. »Mit einem Ozeanliner vielleicht«, er wies auf sein Boot, »aber nicht mit der Sophia, eine Zweimann-Jolle die für Regatten ausgerüstete ist, Tempo, Wendigkeit. Der Westdrift entgegen, tagelang kreuzten, da hängt man wie ein nasser Seesack über der Reling.«

Tami breitete die Seekarte aus. »Wie wäre es mit …« Ihr Finger schwebte über das Blatt, stieß zu.
Toni beugte sich herab. »Ijsselmeer?«
»Zum Beispiel!«
Er blickte in den wolkenlosen Himmel, zog die linke Schulter herauf. »Mit ausreichend Pausen vier fünf Tage, bei günstig Wind drei«, raunte er und zupfte an seinem Ohrläppchen. »Warum fragst du?«
Sie hob ihre Mundwinkel, presste die Oberarme an ihren Körper, spreizte die Unterarme ab und senkte die Hände. »Ich komm mit!«
Toni zeigte ihr einen Vogel. »Du spinnst!«
»Hey, bleib locker! Was du kannst, kann ich auch!«
»Was?«
Tami stand auf, wischte den Sand von ihrem Hintern. »Na abhauen!«

Toni griente. »Ich hau nicht ab.« Er wedelte mit den Fingern vor der Brust. »Ich mach Ferien!«
Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und wandte sich ihm zu. »Ich auch.«
»Deine Eltern würden das nie erlauben!«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Aber deine Mutter.«
Er überkreuzte die Arme, legte die Hände auf die Schultern. »Die weiß Bescheid«, konterte er. Ein Umstand, welcher nicht gelogen, denn, obwohl sie nicht mehr lebte, sprach er mit ihr – wenn es darauf ankam.
Sie gab ihm eine Kopfnuss. »Meine auch!«
Er grinste, nickte.
Tami zuckte mit den Achseln und lächelte ihn an. »Zum Teil! Hab sie angerufen!«
»Wir haben Netz?«
»Einen Balken!«

Toni zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche heraus, hielt es gen Himmel und musterte die Anzeige, während Tami auf ihn einredete.
»Echt!«, frohlockte er.
Der Empfang erfreute ihn, nicht der überlaufende Nachrichtenspeicher, alle Message von einem Absender, der weder Tanja noch der Admiral war. Er nahm sich vor, wenn er allein war, ihm zu antworten.
Tami schleuderte ihre Faust gegen seine Hüfte. »Ist krass! Oder?«
Toni sperrte den Mund auf. »Was?«
»Wie hat sie nicht gesagt!«
»Wer?«
»Meine Alte, hörst du mir nicht zu?« Tami atmete tief ein. »Langsam. Für Jungenhirne. Olga hat Ferienhaus in Holland. Sie gefragt Mutter, ob ich mit ihr zwei Wochen Ferien. Sie nicht gesagt«, sie bewegte ihren Zeige- und Ringfinger, wie eine laufende Figur, »wie.«
Er verstand nur die Hälfte, erfasste aber die Tragweite.
»Wann hast du sie gesprochen?«
»Gestern Abend als du geschnarcht hast.«
»Ich schnarche nicht«, erboste sich Toni. »Das geht nicht!«
»Wenn man auf den Rücken liegt?«
»Das mein ich nicht, außerdem lag ich auf Deck und du in der Koje. Du kannst nicht mitkommen.«
»Warum?«
»Weil, weil.« Er flatterte mit den Armen zum Abheben bereit.
Tami verschränkte die Arme. »Ich ein Mädchen bin?«

Die Nordsee war für ihre Verhältnisse ruhig. Tami folgte zwar mürrisch Tonis Anweisungen, die er ihr zurief, dennoch erkannte er, dass ihre Euphorie sich in Grenzen hielt. Die meiste Zeit saß sie mit überkreuzten Beinen, die Arme nach hinten gestreckt, ihren Oberkörper stützend, vor seinen Füßen und regte ihren Kopf der Sonne entgegen, sodass die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmten.

»Wo ist das Klo?«
Die rechte Hand am Ruderstock, mit der Linken fest ein Seil umfasst, starrte Toni zur Mastspitze herauf. »Achtern über die Reling und ablassen. Immer mit dem Wind«, befahl er, wie ein Kapitän eines Zerstörers.
Tami zeigte auf die Wasserfläche. »Ins Meer?«
»Glaubst die Roben und Fische haben Toiletten!«
Die Hände vorm Schritt, die Knie verschränkt, klemmte Tami ihren Kopf zwischen ihre Schulterbeine. »Aber ich muss ...«
»Hättest auf Mellum gehen können.« Er wandte ihr sein Gesicht zu. »War im Reet. In der Kajüte ist Papier«, erklärte er, wies, das Seil fest mit den Fingern umklammert, nach vorn. »Am Bug backbord vom Vorluk ist eine Klappe, darunter ein Eimer, da kannst du es reinwerfen.« Er blinzelte sie an. »Der Umwelt zuliebe!«
»Wie? Die Kacke!«
Toni verdrehte die Augen. »Drummel! Das Klopapier.«

Mit einer Rolle Toilettenpapier bewaffnet, schwänzelte Tami zum Bug. »Lein dich an!«, schrie er.
»Das Meer ist ganz ruhig«, konterte Tami, griff an ihre Rettungsweste und schwang ihr Becken.
Grinsend nahm Toni die Hand an den Mund. »Wenn was daneben geht, dann schrubbst du Außenboards.«
Er verabscheute es, wenn Landratten aus falscher Scham das Bug verschmierten. Über das Heck war die Notdurft reinlicher zu versenken. Er hätte weggesehen.

Sie hatten weiterhin gute Winde, machten deshalb mehr Fahrt, kamen schneller voran, als Toni es für möglich gehalten hatte. Daher entschied er zu ankern und Tami erklärte sich bereit als Smutje das Mittagessen zu bereiten, obwohl ihre Augen Toni verrieten, dass sie nicht so seefest war, wie sie es vorgab.

»Ich dich auch«, hauchte Toni, gefolgt von einem Luftkuss, in sein Smartphone.
»Mit wem hast du telefoniert?«
Toni versteckte das Handy unter seinen Hintern. »Mit niemanden«, zischte er und ergriff einen der zwei Näpfe die Tami trug. Er senkte den Kopf. Eine dunkelrote Masse blubberte, gesprenkelt mit zinkgelben erbsengroßen Klumpen vor sich hin. Er versenkte einen Löffel in die Substanz, hob das Besteck und das Material tropfte fadenbildend in die Schale zurück.
»Was ist das!«
Tami hockte sich in den Schneidersitz, tauchte ihren Löffel in ihren Napf. »Ravioli«, entgegnete sie. »Stand auf der Dose.« Genüsslich stopfte sie erst die Mahlzeit mit dem Löffel in ihren Mund, dann wies sie mit diesen nach Backbord. »Welche Insel ist das?«.
Den Mund verzogen, stellte Toni seine Schale ab. »Langeoog.«

Mit dem Ärmel ihres Pullovers wischte Tami sich die Lippen ab. »Nach dem Mittag können wir ja schwimmen gehen!«
»Tue dir keinen Zwang an. Ich hohle dich aber nicht nach zwei Minuten wieder raus, wenn du erfroren bist.«
»Warum?«, sie wies erneut zur Küste. »Die Baden auch.«
»Wir sind eine Seemeile vom Strand.«
»Ist das viel?«
Toni spreizte den Daumen ab und hielt diesen über seine Schulter. »Bitte«, raunte er. »Beschwer dich dann nicht, wenn ich ohne dich weiter segle.«
Tami lehnte sich zurück, stützte ihren Oberkörper ab und reckte ihr Gesicht zum Himmel. »Wozu die Eile, ist doch schön hier!«
Er schwang mit dem Kopf. »Vorm Niedrigwasser will ich vor Memmert ankern.«
»Auf Langeoog war ich mal mit meinen Eltern - hat mir gefallen.«

»Auf der Insel sind Menschen, auf Memmert ist niemand«, stöhnte Toni. »Außer Vogelkieker. Aber nicht im Hochsommer unter der Woche.«
Tami blickte zur Seite. »Das weißt du?«
»Ja«, brummte er. »War mit Tanja und meinem Bio-Lehrer«, er hob die rechte Schulter, »Referendar! Ornithologe auf Mellum. Langweilig! Hab gelesen. Er hat ihr in der Vogelwarte seine Notizen gezeigt.« Er hob den rechten Mundwinkel. »Weiß gar nicht, was an blöden Listen interessant ist. Auf dem Rückweg hat Tanja ihn andauernd angegrient.«
Mit dem Handballen schlug Tami gegen ihre Stirn und verdrehte die Augen.

Während der Überfahrt nach Langeoog hatte Toni gegrübelt und nach Abwägung aller Vor- und Nachteile sich entschieden Tami in Holland an Land zu setzten, um die Fahrt allein fortzusetzen. Ihre Geste, die er nicht verstand, ließ in Zweifeln, ob der Plan der Richtige, der richtige Weg für ihn war. Die Anker zu lichten und die Segel zu setzten, war eines, aber in Seegebiete vorzudringen, die der Seemann nicht kannte, für die er keine Seekarten besaß, was anderes.
„Hol den Anker ein“, befahl er.

»Mach alles was lose ist unter Deck fest! Ich vertaue die Segel«, befahl Toni.
Tami salutierte. »Ei, Ei Sir« bestätigte sie. »Aber warum?«
»Wirst sehen!«
Nach getaner Arbeit trafen sich beide am Ruder.
»Und jetzt?«, fragte TAmi.
»Setzt dich! Maniküre deine Fingernägel.«
Erst in diesem Moment fiel Toni auf, dass Tami ihre todschicken Fingernägel gekürzt hatte, kürzer als seine.
Er nahm das Geschenk, das er von Tanja bekommen hatte, und packte es aus.
Tami im Schneidersitz saß auf dem Boden, betrachtete, mit gesenktem Blick, ihre verstümmelten Nägel. »Was ist das?«
»Ein Sateliten-Navigationsgerät«, trötete er und öffnete eine Klappe unterhalb des Kompasses, der zwischen Ruder und Kajütentür auf einem Sockel thronte. »Genauer als der alte Seekompass.« Er schlug auf das Glas des Kompasses. »Richtung und Ort. Damit kannst vor Grönland schippern, ohne die Ortsmissweisung zu beachten.«
»Ja, Ja«, gab ihm Tami gelangweilt recht.

Toni befestigte die letzte Schraube, das Schiff schlingerte und legte sich auf die Seite.
Woraufhin Tami sich an den Rahmen der Kajütentür klammerte. »Und jetzt«, stöhnte sie.
Die Hand an der Reling beugte sich Toni über die Bordwand. »Punktladung«, triumphierte er. »Genau im Priel! Sechzehn Stunden Landgang!«
Tami dreht den Kopf. »Auf diesem ...«
»Wenn du willst kann ich dich zwischen drei und acht wecken. Segel setzten«, fiel er ihr ins Wort und kletterte über die Reling. »Schlafsäcke, Rucksack, Proviant«, kommandierte er.

Er hätte sie am Mast gebunden, wenn sie zugestimmt hätte. Sein Körper schrie, schlafen. Es war bis dato sein längster Segeltörn gewesen. Unterstützt hatte sie ihn, am Fock ihre Frau gestanden, trotzdem schmerzten ihn alle Glieder.
Bepackt mit ihren Sachen staksten sie durchs Watt.
Tami hob ihr rechtes Bein, der Schlick tropfte ihr vom Fuß. »Auf Langeoog wäre es bestimmt cooler gewesen.«
Er blickte zum Horizont. »Das ist Juist.«

Obwohl er hundemüde gewesen war, war die letzte Nacht für ihn schlaflos wie die Vorige verlaufen. Immerhin befand er sich noch auf bekannten Gewässern, aber die für ihn unbekannten Seegebiete zeichneten sich bereits am Horizont ab.

Toni kam aus der Hocke, streifte sich die weite Jeans über den Hintern und vollendete damit den ersten Teil seiner Morgentoilette. Als wäre es eine Eingabe drehte er sein Haar zum Zopf, befestigte es mit einem Stöckchen, das vor seinen Füßen lag und stülpte die marineblaue Seemannsmütze, jene die Tanja gerne trug, über den Schopf. Den stahlblauen Strickpullover der Cousine, welcher seine Hüfte bis zu den Oberschenkeln umschmeichelte, zog er glatt und schritt um den Bretterverschlag. Dem Anbau, der an der Vogelwarte angelegt, Brennholz für den Winter beherbergte.

»Was macht ihr hier!«, schrie ihn eine Fremde an.

weiter zum nächsten Teil 68.Besuch der Queen
 



 
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