Flucht über die Nordsee 73. Geboren aus Meeresschaum

ahorn

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Die Tarnung ist zerschlagen?

Tami umschlang das Handtuch mit beiden Armen und presste es an ihren Oberkörper. »Mädchen!«
»Was dachtest du.«

Standardspruch! Immer, wenn sie jemand als Girl enttarnte, entlarvte ...
Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen. War es ein Verbrechen sich wie ein Junge zu kleiden, zu versuchen wie sie zu denken, zu handeln?
Keine Gräueltat nur totaler Blödsinn war es gewesen. Die Vorbereitung zur Hochzeit, der Aufenthalt in Bayern hatten ihr die Augen geöffnete. Das Eingeständnis von Tanja, ihre liebe zu Frauen, den entschiedenen Tropfen, der ihr Fass bei der Standpauke, jene sie Matthias gehalten hatte, zum Überlaufen gebrachte hatte.

Dabei war Svenja bis zum Ende der Grundschule ein normales Mädchen. Fast! Sie haste es, wenn Sonja sie zur Weltraumprinzessin Shila verkleidete, während ihre Freundin Lamu mimte. Lieber wäre Svenja als Thorben Raubein in See gestochen. Spielte mit Autos, Baggern kämpfte mit Lamus Raumgleiter, den sie aus Legosteinen nachgebaut hatte, gegen das Böse. Sonja schminkte ihr Gesicht und gab ihrer Puppe Cindy die Flasche oder ihre nicht vorhandene Brust. Beim Hochzeitsspiel war sie der Bräutigam und Sonja die Braut in Weiß. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich, versprach Svenja Sonja.
Sonja hatte ihren ersten Freund, denn sie war älter. Eifersüchtig war Svenja auf ihn. Sie schmiss ihrer Freundin Vorwürfe an den Kopf. Sonja? Sei sei nicht lesbisch, schnauzte sie Svenja an. Damals wusste sie nicht einmal, was dieses war.

Erst bei der Vorstellung im Gymnasium wurde ihr alles bewusst. Sie wie Klara Sesemann gekleidet, gestand der Admiral der Rektorin, inwieweit sie nicht normal sei. Sie in den nächsten Jahren ein Auge auf das Kind werfen solle. Es stand für sie fest. Sie war ein Junge! Am selben Tag warf sie all ihre Kleider sowie Röcke weg. Nur ihre langen Haare behielt sie, obwohl der Admiral dieses als inkonsequent titulierte. Ihr erster Gang auf die Jungentoilette war wie eine Befreiung. Sogar im Sportunterricht gab es am Anfang keine Probleme. Ihre Sporthose unter der Jeans verbarg, was ihr fehlte. Später stopfte sie sich den Schritt aus, da sich bei den Jungen der Bereich zu wölben begann.
Einzig bei der rhythmischen Sportgymnastik blieb sie ein Mädchen. Eine Tarnung wäre hinderlich gewesen, obendrein hätte diese lächerlich ausgesehen, obwohl sie sich im Gymnastikanzug schämte. Trotzdem genoss sie die Stunden.
Sie freute sich auf die Nachmittage bei den Neumanns, welche in ihr weiterhin das kleine Mädchen sahen, bis zu dem Tag als sie begriff, inwieweit der Altersunterschied zwischen Sonja und ihr in ihrem Lebensabschnitt unüberwindlich. Ihre Freundin sie anschrie, sie spanne ihr ihren Freund aus. Den Tänzer, mit dem sie in innigen Bewegungen verschmolzen war. Dabei ging es ihr nur ums Ballett. Er war ihr egal. Sie verstümmelte ihr Haar, opferte es, um die Show, ihren Auftritt zu schmeißen.

»Ein Junge!«
»Bin ich auch!«
»Ich habe nicht festgestellt, als was du dich ausgibst, sondern was du bist!«

Sie ergriff ihr Ohrläppchen. Ausgegeben! Sie hatte ihr nie etwas vorgespielt. Eher eine Rolle gemimt, die sie Jahre lang einstudiert hatte. Sie hatte sich nicht getraut, ihr die Wahrheit zu sagen. Ein Mädchen, welches sich in ein Mädchen verkuck. Weggelaufen wäre sie. Obwohl sie jetzt wusste, dass was sie als Liebe interpretierte, nichts anderes war wie die Gunst zu Sonja – eine Freundin halt. Sie hatte keine Freunde.

»Medizinisch bin ich ein Mädchen, habe eine Vagina, eine Gebärmutter und ...«, es fiel ihr schwer, weiter zu sprechen, »höchstwahrscheinlich funktionsfähige Milchdrüsen.«
»Und willst ein Junge sein!«

Von wollen war keine Rede. Der Entschluss war gefallen. Ihre Hände zitterten, ihr Mund bebte. Die Worte quälten sich über ihre Lippen, den bereits einmal waren sie an den Falschen geraten.
»Ich habe keine Eierstöcke«, ihr Atem ging schwer, »dafür ein Ypsilon.«
Tami zog ihren Mund schief und kräuselte ihre Stirn.
»Du hast zwei X. Ich habe ein X sowie ein Y, bin genetisch ein Junge!«, donnerte Svenja Tami entgegen.
Tami glotze sie an. »Ein Zwitter!«

Wie Svenja das Wort hasste, kam direkt vor Monster. Dabei hatte ihr Kinderarzt sie beruhigt, der Fall bei ihr Relative klar. Zeigte ihr Bilder von anderen Kindern, welches es nach ihrer Ansicht schweren hatten – Fotos von Zwittern waren dabei. Keine Operationen standen bei ihr an, eher ein Problem für einen Gynäkologen, welcher ihr die erforderlichen Hormone verschrieb. Der Weg zu einer gesunden, normalen Frau sei für sie einfach, beschwichtigte sie der Arzt. Normal! Einmal im Monat wie eine Sau bluten und irgendwann versenkte ein Typ sein Ding in ihr, obwohl sie Jungen verachtete – verachtet hatte. Bei dem Gedanken zogen sich ihre Gedärme zusammen, gruben sich Insekten durch ihren Bauch und öffneten ihre Flügel.

»Zwitter sind beiderlei Geschlecht«, harschte sie Tami an. »Ich habe weder Eierstöcke oder Hoden, damit habe ich kein Geschlecht. Bin weder das eine noch das andere.«
»Wie geht das denn! Du hast gesagt, dass du genetisch ein Junge!«

Sie hatte kein Verlangen, ein Biologie Referat zu halten, daher fasste sie sich kurz.
»Jeder Fötus ist weiblich. Erst bestimmte Schlüssel schalten Gensegmente ein oder aus. Bei mir schaltete sich der Bereich«, sie hob die Arme, bildete mit den Zeige- und Ringfingern zwei V und winkte mit den Fingern, »‚Bilde Hoden‘ nicht ein. Ohne Eier nichts Testosteron. Mangels Hormon kein Junge. Klar!«

Tami warf das Handtuch beiseite, setzte sich zu ihr und schlang den Arm um Svenjas Schulter. »Ich dachte, na ja, du wärst einer von den Jungs, die lieber Mädchen sind.« Sie stieß mit dem Kopf gegen ihre Stirn. »Dabei ist es anders herum.«
Toni sprang auf. »Ich bin ein Junge aber nicht männlich. Werde es immer bleiben. Da helfen keine Hormone!«
Svenja schnappte den langen Pullover und rannte an Deck.


Der Auftrag

Es war Svenja unangenehm, nur mit Strickpullover am Ruder zu sitzen, aber Tami hatte sich die letzten Sachen geschnappt, die weder über Bord oder nass am Mastbaum hingen. Sogar die einzige Unterhose hatte Tami geentert, da sie meinte, unter einem Kleid spiele es keine Rolle, wogegen eine Jeans ohne Unterbüx kratze.
Die See war glatt, die Sonne schien und eine anständige Ostbriese trieb die Sophia gen Westen. Tami hangelte sich am Mast entlang, entfernte den Karabiner, das Sicherungsseil fiel und sie hüpfte zum Ruder.
Sie setzte sich zu Toni und nahm sie in die Arme. »Sorry, aber ich habe das alles nicht gewusst.«
»OK«
»Wie wirst du dich entscheiden?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Wie du es mir gesagt hast schon.«
Toni sengte den Kopf. »Glaubst du, wenn ich Hormone schlucke, wächst mir dort eine Wurst.«
Tami lachte.
Ihr war nicht zu lachen. Svenja verstand sie aber, woher sollten es Normalos wissen.
»Der Admiral ist der Ansicht, ich sollte mir Zeit nehmen. Erst einmal zu mir kommen. Schritt für Schritt mich annehmen. Sie hat recht. Die Zeit habe ich. Aber dann?«
»Wie meinst du das?«
»Irgendwann muss ich Hormone nehmen ob männliche oder weibliche ist egal.« Tami sah sie fragend an und Svenja ergriff ihre Hand. »Das Zeug ist nicht nur dafür da, dass dir der Busen wächst. Andere Organe benötigen die ebenfalls. Wenn du sie wie ich nicht hast! Organversagen! Schluss aus!«

Tami nahm sie fest in die Arme.
Sie riss sich los. »Egal! Das Schlimmste ist nur die dämliche Frauenärztin - der furchtbare Stuhl. Die betatscht ein überall und dieser Ultraschall, voll reingefahren hat sie das Ding. Nur gesagt es könne unangenehm werde.«
»Na ja«, schmunzelte Tami.
»Wie?«
»Glaubst du, ich bin noch Jungfrau?«
Toni riss die Augen auf, verdeckte ihren Mund.
Tami biss sich auf die Unterlippe. »Das wollte ich dir gerade beichten.«
»Das du mit dreizehn entjungfert bist«, erboste sich Svenja.
»Ich bin fast sechzehn und nicht freiwillig hier.« Toni erstarrte. »Meine Schwester hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Was geht mich deine Schwester an«, erwiderte Svenja.
Toni Stirn fiel in Falten. »Sie ist deine Mutter!«
»Du hast ein an der Waffel. Ich kenn meine Schwester.«
»Wie!«
»Es war ein Spiel. Tut mir leid. Tanja ist meine Schwester. Wie kommst du darauf, dass sie deine ist.«
»Ich weiß es erst seit Kurzen habe mit ihr telefoniert – heimlich. Vorher hatte ich nur eine These.«

Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, dass ihre Schwester bei einem Autounfall um Leben gekommen war, begann Tami ihre Geschichte. Sie hatten sich vorher im Streit getrennt. Nicht einmal Fotos existierten von ihr. Dann stand sie eines Tages in Olgas Boutique, sah sich nach einem Brautkleid um. Die komischen Blicke, das Getuschel, verstand Tami nicht. Olga hatte ihr das eine oder andere Mal von ihrer Schwester erzählt. Sie wohnten damals alle in einem Haus, beide Frauen berufstätig und Olga erzog das Kind wie ihr eigenes. Mehr erfuhr Tami nicht. Dann besuchte diese Frau ihre Mutter, die sie ihr als eine Kollegin Klara vorstellte. Sie trafen sich des Öfteren, gingen shoppen, hatten Spaß.

»Das kann nicht sein«, zischte Toni. »Hast du dir nur ausgedacht.«
»Nein! Glaub mir!« Tami ergriff Svenjas Hand. »Weiß du was ich ulkig findet?«
Zum Spaßen war ihr nicht zu Mute.
»Ich heiß auch Antonia«, grinste Tami. »Denn Thorben heißt du bestimmt nicht!«

Svenja löste den Griff und reichte ihr die Hand erneut zum Gruß. »Svenja!« – »Svenja Fiete, um genau zu sein!«
»Fiete?«
»Ja! Der Admiral hat mir zugesteckt, dass meine Eltern unbedingt einen Jungen wollten: Sven-Fiete.«
Tami blähte ihre Wangen, verdeckte die Lippen mit allen Fingern.

Sie brauchte nicht zu sagen. Svenja erkannte an ihren Augen was ihr Gehirn sich zusammenreimte. »Ha! Ha! Sehr witzig«, raunte sie und zerrte den Saum des Pullovers über ihre Knie.

Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. Antonia! Antonia!
Gleich nach der Geburt gestorben.
In Südafrika.
Warum glaubst du, ruf ich dich Toni?
Der Mann im Amt hatte sie als Mutter eingetragen.



Die Bilder in Svenjas Kopf überschlugen sich. Sie sah die Geburtsurkunde, das Geburtsdatum. »Wann hast Geburtstag?«
Tami kniff ihr linkes Auge zu. »Nächsten Monat.«
»Genauer?«
»Am zweiten August.«
»Du wirst sechszehn?«
Sie streifte durch ihr Haar. »Ja!«
»Wo bist du geboren?«
»Südafrika.«
Svenja presste die rechte Hand auf ihren Mund, drehte sich zur Reling, beugte sich hinüber und spie das Frühstück ins Meer.

Tamis Finger umfassten den Oberarm ihrer Freundin. »Ist dir übel!«
Svenja rieb sich die Lippen. »Schlimmer!«, grollte sie, dabei legte sie die Stirn auf ihren Unterarm. »Ich bin du!« – »Solltest du sein!«
Tami zerrte sie zurück an Deck und wedelte mit der Rechten vor ihrem Gesicht.
Die Augenbrauen zusammengedrückt, stieß Svenja ihr den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust. »Sie ist meine Schwester – Deine Mutter!«
»Bist du gaga!«

Svenja erzählte ihr alles, was sie kannte. Knüpfte die Puzzleteile zusammen und verflocht die Seewege.
»Das ist alles!«, zeterte Tami und tippte an ihre Stirn. »Aus diesem Sammelsurium schlussfolgerst du, dass ich Klaras Tochter bin. Absurd!« Sie lehnte ihren Rücken an die Kajütenwand.

Ganz unrecht hatte sie nicht. Svenjas Welt begann mit dem Einzug in Bremen. Alles was davor war Finsternis. Der Admiral sowie Tanja schwiegen. Nahne spann Seemannsgarn und die Großmutter schwärmte nur von ihrer Hochzeit. Von der Seemannskappelle, an die sich der Großvater nur erinnerte, da Fresken, wie Ikonen Heilige, Seeräuberschiffe zur Verehrung darboten.

Svenja stemmte ihre Fäuste in die Taille. »Was hast du zur Verteidigung deiner Theorie beizutragen?«, grummelte Svenja.
Tami zuckte mit den Achseln. »Das meine Mutter meine Mutter ist. Das sie als ich klein war, meinen Stiefvater geheiratet hat. Wir sind nach Bremen gezogen, weil Olga ihre Boutique dort eröffnet hatte.« – »Nicht einmal Großeltern habe ich.«
»Ziehst! Genauso löchrig«, kommentierte Svenja und faste ans Ruder. »Zumindest haben wir eins gemeinsam. Wir wissen nichts von der Vergangenheit.«


weiter zum nächsten Teil 74. Ihr letzte Freier
 
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Die Tarnung ist zerschlagen?

Tami umschlang das Handtuch mit beiden Armen und presste es an ihren Oberkörper. »Mädchen!«
»Was dachtest du.«

Standardspruch! Immer, wenn sie jemand als Girl enttarnte, entlarvte ...
Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen. War es ein Verbrechen sich wie ein Junge zu kleiden, zu versuchen wie sie zu denken, zu handeln?
Keine Gräueltat nur totaler Blödsinn war es gewesen. Die Vorbereitung zur Hochzeit, der Aufenthalt in Bayern hatten ihr die Augen geöffnete. Das Eingeständnis von Tanja, ihre liebe zu Frauen, den entschiedenen Tropfen, der ihr Fass bei der Standpauke, jene sie Matthias gehalten hatte, zum Überlaufen gebrachte hatte.

Dabei war Svenja bis zum Ende der Grundschule ein normales Mädchen. Fast! Sie haste es, wenn Sonja sie zur Weltraumprinzessin Shila verkleidete, während ihre Freundin Lamu mimte. Lieber wäre Svenja als Thorben Raubein in See gestochen. Spielte mit Autos, Baggern kämpfte mit Lamus Raumgleiter, den sie aus Legosteinen nachgebaut hatte, gegen das Böse. Sonja schminkte ihr Gesicht und gab ihrer Puppe Cindy die Flasche oder ihre nicht vorhandene Brust. Beim Hochzeitsspiel war sie der Bräutigam und Sonja die Braut in Weiß. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich, versprach Svenja Sonja.
Sonja hatte ihren ersten Freund, denn sie war älter. Eifersüchtig war Svenja auf ihn. Sie schmiss ihrer Freundin Vorwürfe an den Kopf. Sonja? Sei sei nicht lesbisch, schnauzte sie Svenja an. Damals wusste sie nicht einmal, was dieses war.

Erst bei der Vorstellung im Gymnasium wurde ihr alles bewusst. Sie wie Klara Sesemann gekleidet, gestand der Admiral der Rektorin, inwieweit sie nicht normal sei. Sie in den nächsten Jahren ein Auge auf das Kind werfen solle. Es stand für sie fest. Sie war ein Junge! Am selben Tag warf sie all ihre Kleider sowie Röcke weg. Nur ihre langen Haare behielt sie, obwohl der Admiral dieses als inkonsequent titulierte. Ihr erster Gang auf die Jungentoilette war wie eine Befreiung. Sogar im Sportunterricht gab es am Anfang keine Probleme. Ihre Sporthose unter der Jeans verbarg, was ihr fehlte. Später stopfte sie sich den Schritt aus, da sich bei den Jungen der Bereich zu wölben begann.
Einzig bei der rhythmischen Sportgymnastik blieb sie ein Mädchen. Eine Tarnung wäre hinderlich gewesen, obendrein hätte diese lächerlich ausgesehen, obwohl sie sich im Gymnastikanzug schämte. Trotzdem genoss sie die Stunden.
Sie freute sich auf die Nachmittage bei den Neumanns, welche in ihr weiterhin das kleine Mädchen sahen, bis zu dem Tag als sie begriff, inwieweit der Altersunterschied zwischen Sonja und ihr in ihrem Lebensabschnitt unüberwindlich. Ihre Freundin sie anschrie, sie spanne ihr ihren Freund aus. Den Tänzer, mit dem sie in innigen Bewegungen verschmolzen war. Dabei ging es ihr nur ums Ballett. Er war ihr egal. Sie verstümmelte ihr Haar, opferte es, um die Show, ihren Auftritt zu schmeißen.

»Ein Junge!«
»Bin ich auch!«
»Ich habe nicht festgestellt, als was du dich ausgibst, sondern was du bist!«

Sie ergriff ihr Ohrläppchen. Ausgegeben! Sie hatte ihr nie etwas vorgespielt. Eher eine Rolle gemimt, die sie Jahre lang einstudiert hatte. Sie hatte sich nicht getraut, ihr die Wahrheit zu sagen. Ein Mädchen, welches sich in ein Mädchen verkuck. Weggelaufen wäre sie. Obwohl sie jetzt wusste, dass was sie als Liebe interpretierte, nichts anderes war wie die Gunst zu Sonja – eine Freundin halt. Sie hatte keine Freunde.

»Medizinisch bin ich ein Mädchen, habe eine Vagina, eine Gebärmutter und ...«, es fiel ihr schwer, weiter zu sprechen, »höchstwahrscheinlich funktionsfähige Milchdrüsen.«
»Und willst ein Junge sein!«

Von wollen war keine Rede. Der Entschluss war gefallen. Ihre Hände zitterten, ihr Mund bebte. Die Worte quälten sich über ihre Lippen, den bereits einmal waren sie an den Falschen geraten.
»Ich habe keine Eierstöcke«, ihr Atem ging schwer, »dafür ein Ypsilon.«
Tami zog ihren Mund schief und kräuselte ihre Stirn.
»Du hast zwei X. Ich habe ein X sowie ein Y, bin genetisch ein Junge!«, donnerte Svenja Tami entgegen.
Tami glotze sie an. »Ein Zwitter!«

Wie Svenja das Wort hasste, kam direkt vor Monster. Dabei hatte ihr Kinderarzt sie beruhigt, der Fall bei ihr Relative klar. Zeigte ihr Bilder von anderen Kindern, welches es nach ihrer Ansicht schweren hatten – Fotos von Zwittern waren dabei. Keine Operationen standen bei ihr an, eher ein Problem für einen Gynäkologen, welcher ihr die erforderlichen Hormone verschrieb. Der Weg zu einer gesunden, normalen Frau sei für sie einfach, beschwichtigte sie der Arzt. Normal! Einmal im Monat wie eine Sau bluten und irgendwann versenkte ein Typ sein Ding in ihr, obwohl sie Jungen verachtete – verachtet hatte. Bei dem Gedanken zogen sich ihre Gedärme zusammen, gruben sich Insekten durch ihren Bauch und öffneten ihre Flügel.

»Zwitter sind beiderlei Geschlecht«, harschte sie Tami an. »Ich habe weder Eierstöcke oder Hoden, damit habe ich kein Geschlecht. Bin weder das eine noch das andere.«
»Wie geht das denn! Du hast gesagt, dass du genetisch ein Junge!«

Sie hatte kein Verlangen, ein Biologie Referat zu halten, daher fasste sie sich kurz.
»Jeder Fötus ist weiblich. Erst bestimmte Schlüssel schalten Gensegmente ein oder aus. Bei mir schaltete sich der Bereich«, sie hob die Arme, bildete mit den Zeige- und Ringfingern zwei V und winkte mit den Fingern, »‚Bilde Hoden‘ nicht ein. Ohne Eier nichts Testosteron. Mangels Hormon kein Junge. Klar!«

Tami warf das Handtuch beiseite, setzte sich zu ihr und schlang den Arm um Svenjas Schulter. »Ich dachte, na ja, du wärst einer von den Jungs, die lieber Mädchen sind.« Sie stieß mit dem Kopf gegen ihre Stirn. »Dabei ist es anders herum.«
Toni sprang auf. »Ich bin ein Junge aber nicht männlich. Werde es immer bleiben. Da helfen keine Hormone!«
Svenja schnappte den langen Pullover und rannte an Deck.


Der Auftrag

Es war Svenja unangenehm, nur mit Strickpullover am Ruder zu sitzen, aber Tami hatte sich die letzten Sachen geschnappt, die weder über Bord oder nass am Mastbaum hingen. Sogar die einzige Unterhose hatte Tami geentert, da sie meinte, unter einem Kleid spiele es keine Rolle, wogegen eine Jeans ohne Unterbüx kratze.
Die See war glatt, die Sonne schien und eine anständige Ostbriese trieb die Sophia gen Westen. Tami hangelte sich am Mast entlang, entfernte den Karabiner, das Sicherungsseil fiel und sie hüpfte zum Ruder.
Sie setzte sich zu Toni und nahm sie in die Arme. »Sorry, aber ich habe das alles nicht gewusst.«
»OK«
»Wie wirst du dich entscheiden?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Wie du es mir gesagt hast schon.«
Toni sengte den Kopf. »Glaubst du, wenn ich Hormone schlucke, wächst mir dort eine Wurst.«
Tami lachte.
Ihr war nicht zu lachen. Svenja verstand sie aber, woher sollten es Normalos wissen.
»Der Admiral ist der Ansicht, ich sollte mir Zeit nehmen. Erst einmal zu mir kommen. Schritt für Schritt mich annehmen. Sie hat recht. Die Zeit habe ich. Aber dann?«
»Wie meinst du das?«
»Irgendwann muss ich Hormone nehmen ob männliche oder weibliche ist egal.« Tami sah sie fragend an und Svenja ergriff ihre Hand. »Das Zeug ist nicht nur dafür da, dass dir der Busen wächst. Andere Organe benötigen die ebenfalls. Wenn du sie wie ich nicht hast! Organversagen! Schluss aus!«

Tami nahm sie fest in die Arme.
Sie riss sich los. »Egal! Das Schlimmste ist nur die dämliche Frauenärztin - der furchtbare Stuhl. Die betatscht ein überall und dieser Ultraschall, voll reingefahren hat sie das Ding. Nur gesagt es könne unangenehm werde.«
»Na ja«, schmunzelte Tami.
»Wie?«
»Glaubst du, ich bin noch Jungfrau?«
Toni riss die Augen auf, verdeckte ihren Mund.
Tami biss sich auf die Unterlippe. »Das wollte ich dir gerade beichten.«
»Das du mit dreizehn entjungfert bist«, erboste sich Svenja.
»Ich bin fast sechzehn und nicht freiwillig hier.« Toni erstarrte. »Meine Schwester hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.«
Sie tippte an ihre Schläfe. »Was geht mich deine Schwester an«, erwiderte Svenja.
Toni Stirn fiel in Falten. »Sie ist deine Mutter!«
»Du hast ein an der Waffel. Ich kenn meine Schwester.«
»Wie!«
»Es war ein Spiel. Tut mir leid. Tanja ist meine Schwester. Wie kommst du darauf, dass sie deine ist.«
»Ich weiß es erst seit Kurzen habe mit ihr telefoniert – heimlich. Vorher hatte ich nur eine These.«

Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, dass ihre Schwester bei einem Autounfall um Leben gekommen war, begann Tami ihre Geschichte. Sie hatten sich vorher im Streit getrennt. Nicht einmal Fotos existierten von ihr. Dann stand sie eines Tages in Olgas Boutique, sah sich nach einem Brautkleid um. Die komischen Blicke, das Getuschel, verstand Tami nicht. Olga hatte ihr das eine oder andere Mal von ihrer Schwester erzählt. Sie wohnten damals alle in einem Haus, beide Frauen berufstätig und Olga erzog das Kind wie ihr eigenes. Mehr erfuhr Tami nicht. Dann besuchte diese Frau ihre Mutter, die sie ihr als eine Kollegin Klara vorstellte. Sie trafen sich des Öfteren, gingen shoppen, hatten Spaß.

»Das kann nicht sein«, zischte Toni. »Hast du dir nur ausgedacht.«
»Nein! Glaub mir!« Tami ergriff Svenjas Hand. »Weiß du was ich ulkig findet?«
Zum Spaßen war ihr nicht zu Mute.
»Ich heiß auch Antonia«, grinste Tami. »Denn Thorben heißt du bestimmt nicht!«

Svenja löste den Griff und reichte ihr die Hand erneut zum Gruß. »Svenja!« – »Svenja Fiete, um genau zu sein!«
»Fiete?«
»Ja! Der Admiral hat mir zugesteckt, dass meine Eltern unbedingt einen Jungen wollten: Sven-Fiete.«
Tami blähte ihre Wangen, verdeckte die Lippen mit allen Fingern.

Sie brauchte nicht zu sagen. Svenja erkannte an ihren Augen was ihr Gehirn sich zusammenreimte. »Ha! Ha! Sehr witzig«, raunte sie und zerrte den Saum des Pullovers über ihre Knie.

Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. Antonia! Antonia!
Gleich nach der Geburt gestorben.
In Südafrika.
Warum glaubst du, ruf ich dich Toni?
Der Mann im Amt hatte sie als Mutter eingetragen.



Die Bilder in Svenjas Kopf überschlugen sich. Sie sah die Geburtsurkunde, das Geburtsdatum. »Wann hast Geburtstag?«
Tami kniff ihr linkes Auge zu. »Nächsten Monat.«
»Genauer?«
»Am zweiten August.«
»Du wirst sechszehn?«
Sie streifte durch ihr Haar. »Ja!«
»Wo bist du geboren?«
»Südafrika.«
Svenja presste die rechte Hand auf ihren Mund, drehte sich zur Reling, beugte sich hinüber und spie das Frühstück ins Meer.

Tamis Finger umfassten den Oberarm ihrer Freundin. »Ist dir übel!«
Svenja rieb sich die Lippen. »Schlimmer!«, grollte sie, dabei legte sie die Stirn auf ihren Unterarm. »Ich bin du!« – »Solltest du sein!«
Tami zerrte sie zurück an Deck und wedelte mit der Rechten vor ihrem Gesicht.
Die Augenbrauen zusammengedrückt, stieß Svenja ihr den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust. »Sie ist meine Schwester – Deine Mutter!«
»Bist du gaga!«

Svenja erzählte ihr alles, was sie kannte. Knüpfte die Puzzleteile zusammen und verflocht die Seewege.
»Das ist alles!«, zeterte Tami und tippte an ihre Stirn. »Aus diesem Sammelsurium schlussfolgerst du, dass ich Klaras Tochter bin. Absurd!« Sie lehnte ihren Rücken an die Kajütenwand.

Ganz unrecht hatte sie nicht. Svenjas Welt begann mit dem Einzug in Bremen. Alles was davor war Finsternis. Der Admiral sowie Tanja schwiegen. Nahne spann Seemannsgarn und die Großmutter schwärmte nur von ihrer Hochzeit. Von der Seemannskappelle, an die sich der Großvater nur erinnerte, da Fresken, wie Ikonen Heilige, Seeräuberschiffe zur Verehrung darboten.

Svenja stemmte ihre Fäuste in die Taille. »Was hast du zur Verteidigung deiner Theorie beizutragen?«, grummelte Svenja.
Tami zuckte mit den Achseln. »Das meine Mutter meine Mutter ist. Das sie als ich klein war, meinen Stiefvater geheiratet hat. Wir sind nach Bremen gezogen, weil Olga ihre Boutique dort eröffnet hatte.« – »Nicht einmal Großeltern habe ich.«
»Ziehst! Genauso löchrig«, kommentierte Svenja und faste ans Ruder. »Zumindest haben wir eins gemeinsam. Wir wissen nichts von der Vergangenheit.«

Geboren aus Meeresschaum
Tami zupfte am Gummibund ihres himmelblauen Strandkleides. »Ich krieg keinen Bissen mehr runter«, pustete sie und steckte den Eislöffel in die übrig gebliebene Kugel Vanilleeis.
Den letzten Schaum vom Rand ihres Erdbeershakeglases fischend, tippte Svenja mit der anderen Hand gegen die drei Eisbecher, welche aufgereiht auf dem Bistrotisch standen. »Ich dachte, du hörst nie auf!«
Ihre Freundin grinste, leckte über ihre bordeauxviolett bemalten Lippen. »Ich liebe Eis«, schwärmte sie, dann zupfte sie an Svenjas erikavioletten Top. »Wie fühlst du dich?«
Svenja verdrehte die Augen. »Gut.« Sie hob die Arme. »Nein! Oberaffentittengeil«, schrie sie.
Die anderen Gäste des Eiscafés drehten sich kopfschüttelnd um.

Es war der Sprung ins kalte Wasser gewesen, der ihr allerletztes Zweifeln hinweggetrieben hatte. Girls waren nicht zickig, schwach. Sie waren stark. Sie hatte Tami das Leben gerettet, sich keine Gedanken gemacht, gezeigt, inwiefern sie als Mädchen ein unerschrockener Pirat war. Mehr noch! Keine Konvention, keine Rollenklischees verbaten ihr, ihre Gefühle zu zeigen. Freisein. Sie war frei. Der Trip nach Ailsa Craig war unwichtig, nicht das Ziel, sondern der Weg entschied. Die Erde war eine Kugel.

Tami strich über Svenjas knielangen weißen Rock. »In der Hotpants sahst du richtig sexy aus.«
»Ich bin dreizehn«, zischte Svenja.
»Das besagt nicht, dass du dich verstecken musst.« – »Du bist bildhübsch, charmant, für dein Alter erotisch!« Sie erhob den Zeigefinger. »Las dir nie, erst recht von keinem Kerl, etwas einreden. Benutz sie! Las sie tanzen! Wickel sie um deinen Finger, aber bleib du selbst.« Sie klopfte auf den Tisch. »Was können wir Mädels dafür, dass die Jungen spießig sind.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja! Ich hab null dagegen, wenn mein Freund sich einen sexy Rock überstreift. Aber die Kerle trauen sich ja nichts. Schämen sich, dabei sind es nur Klamotten. Denken ihre Männlichkeit würde abfallen. Stark ey ist, wenn de machst, was du willst. Dich an keine Bräuche hältst. Auf die anderen und ihre verschrobenen Urteile scheißt«, hetzte sie und drückte ihre Lippen auf die der Freundin. »Was hältst du davon, wenn wir ein paar Tage auf Ameland bleiben. Das Wetter ist sonnig. Die Leute sind nett«, sie klopfte gegen die Tüten vor ihren Füßen, »und die Läden toll.«

»Ich mag keine engen Hosen« Svenja sengte den Blick. »Sieht irgendwie komisch aus.«
Tami kratzte sich am Schopf, klopfte gegen Svenjas Stirn. »Räum deine Kiste auf, das ist bei Frauen so.« – »Also! Bleiben wir?«
Auf Svenjas Gesicht formte sich ein Lächeln. Sie griff an die Rückenlehne des Bistrostuhles, zog an dem Riemen ihre kastanienbraune Handtasche und legte den buchgroßen Neuerwerb auf den Schoss.
Tami pickte mit ihren Zeigefinger auf das Hogwartslogo. »Stehst drauf?«
Svenja zuckte mit den Achseln. »Meinen Rucksack hast du ja über Bord geworfen«, pikierte sie sich, dann öffnete sie den goldenen Verschluss in Form eines Schnatzes.
»Wenn du nicht fangen kannst«, konterte Tami, dabei streckte sie die Zunge hinaus.
Die Lippen gepresst, die Augenbrauen zusammengekniffen, fischte Svenja ihr Smartphone heraus und platzierte es vor Tamis Nase. »Du rufst an!«
»Ist deine Mutter!«
»Schwester. Deine!«
Die Kinder lachten, gackerten, hielten sich die Bäuche, die Münder.

»Gebongt! Aber nicht mit diesem komischen Ding. Ich will ja nicht fernsehen. Telefonieren tue«, sie tippe an ihr Brustbein, »ich mit einem Handy!«
Sie fuhr mit der Hand unter ihren Rock. Svenja Pupillen wanderten zur Freundin, zu den Gästen hin und her. Tami streckte ihren Körper, machte die Beine lang.
»Ich trag kein Handtäschchen. Meine drei Sachen verstau ich anders.« Sie zog die Hand hervor, dann legte sie ihr winziges Mobiltelefon auf den Tisch. »Im BH ist es praktischer. Aber ich trage eben keinen.«

Svenja kramte in ihrer Handtasche, fischte einen silbrigen Zylinder heraus. »Deinen Lippenstift musste ich nehmen«, gab sie erbost von sich.
»Unseren!«, entgegnete ihre Freundin. »Für zwei warst du zu geizig.«
Sie leckte über ihre bordeauxvioletten Lippen. »Quatsch ich steh halt nicht auf Kriegsbemalung.«
Tami beugte sich über die Tasche, ergriff eine münzgroße Dose. »Lidschatten!« Ein Stift erblickte das Tageslicht. »Eyeliner!« Ein Fläschchen wackelte zwischen ihren Daumen und Zeigefinger. »Nagellack!«
Svenja wandte ihr Gesicht ab. »Man weiß ja nie!« – »Zicke!«
»Selber!«

Tami pochte auf ihr Telefon. »Was ist?«
»Aber nur, wenn wir an den Strand gehen. Aber du rufst an!«
»An den Strand?«
»Einfach daliegen und sich sonnen«, schwärmte Svenja.
»Klar! Warum nicht. Ist ja nichts Besonderes.«
»Für dich!«
Tamis Stirn schlug falten.
Svenja hob ihre linke Schulter. »Wie sollte ich als Junge ...«

Svenjas Smartphone vibrierte, wanderte über die Tischplatte und Matthias Gesicht erschien.
»Geh ran!«
Den Mund gespitzt tippte Svenja aufs Display. »Nö! Nicht wichtig!«
Tami wies über die Straße. »Ich geh drüben in die Boutique, kauf uns zwei schnucklige Bikini und rufe DEINE MUTTER an.«
Svenja verzog das Gesicht.
Tami schnappte ihr Telefon. »Und du kannst in Ruhe mit nicht wichtig flirten.«
Die Zunge herausgestreckt, ergriff sie ihr Smartphone, tippte auf das Display, klemmte ihre Haare hinters Ohr und platzierte das Telefon an der Ohrmuschel, dabei drehte sie sich Löckchen. »Hallo mein Schatz«, zirpte sie.


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