Flucht über die Nordsee 72. Die Wissenschaft trügt nicht

ahorn

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Neptun schlägt zu

Die Wissenschaft trügt nicht

„Trink!“
„Danke“, gab Joos knurrig zurück und winkte ab.
Der Rechtsmediziner nahm einen Schluck aus einem Erlenmeyerkolben, stellte das Gefäß auf den Obduktionstisch und flüsterte: „Beruhige dich.“
„Frank, warum hast du es mir nicht beim letzten Mal gesagt“, harschte Joos ihn an.
Frank zog seinen Kittel aus und warf diesen auf den Tisch. „Weil du, wie immer nicht zuhörst.“ Seinen Kopf schüttelnd, ergriff er erneut sein Glas, nippte und stütze sich ab. „Außerdem solltest du wissen, wie man Proben nimmt.“
„Was soll das heißen?“
Frank schnappte sich ein Plastikröhrchen. „Es ist vom Vorteil, wenn du den Originalträger mir geben würdest und nicht versuchen, eine Speichelprobe zu übertragen.“
Joos runzelte seine Stirn.
„Auf dem Wattestab waren eindeutig Reste von einem Papiertaschentuch.“
Joos schloss seine Augen. Wie dumm war er gewesen? Es ging nie um sie, sondern um ihn und Klara. Da Tinette wusste, dass sie nicht Tanja war, war Klara für sie Tanja. Ob er ihr erzählt hatte, dass er vermutete mit Tanja geschlafen zu haben, war möglich. Vielleicht hatte er nach einem Glas Wein zu viel geplaudert. Daher war es für ihn denkbar, dass sie annahm, der Junge wäre seiner. Es war zwar reine Spekulation, dennoch nicht auszuschließen. Zumindest passte ihre Reaktion dazu.
Tinette war, davon ging er nun aus, in Südafrika groß geworden. Joos kannte das Land, seine Leute, nett, zuvorkommend, dennoch konservativ. Frauen waren Frauen und Männer waren Männer. Ein Mann der sich mit Frauenkleidern schmückte nicht nur exotische, sondern abartig. Sogar die Männer der Stämme, legten ihre Kleider ab und steckten sich in die jener Weißen, die sich als Herrenmenschen aufspielten. Leugneten, verbargen daher ihre Traditionen, ihre Kultur, welche bei Weitem älter war.
Egal. Eins war ihm nun klar. Es war nicht ihre Speichelprobe gewesen. Warum sollte sie ihren eigenen Speichel erst auf ein Taschentuch geben, um dann diese auf dem Wattestäbchen zu verteilen? Wie sie an die Probe gekommen war, war ihm schleierhaft, spielte jedoch von Ergebnis keine Rolle. Eins stand fest, der Eigentümer war männlich.
Sicherlich konnte sie auch von Stephen stammen, jedoch ergab dieses am wenigsten Sinn. Denn es bewies für ihn nur, dass Stephen in Bremen war. Was wäre daran verwerflich, wenn der Zukünftige bei seiner Braut übernachtete?
„Du bist dir hundertprozentig sicher?“
„Du zweifelst.“ Frank tippte an seine Schläfe. „Shila und“, er hielt das Röhrchen an sein Auge, „Antonia sind identisch, ferner ist sie“, er schmunzelte unmerklich, wobei er sein Gesicht Joos zuwandte, „männlich.“
Joos zog die Augenbrauen zusammen. „Woher kennst du die Namen?“
Frank klopfte auf das Röhrchen. „Steht doch drauf!“
„Du kannst Hebräisch?“
„Ist das verboten? Habe ich dir nie erzählt, dass ich vor dem Medizinstudium Theologie studiert habe.“ Frank zuckte mit den Schultern. „Familientradition!“

Dabei war Joos sich sicher gewesen, dass niemand im Revier seine, wie er es nannte, Geheimschrift zu entziffern vermochte.
„Ist Klara die Schwester oder Mutter?“
Frank schritt ans andere Ende des Tisches, nahm einen Beutel zur Hand und schwang diesen. „Mit dem Schrott kann ich nichts anfangen. Hast du die Haarproben aus einer Frauenwohngemeinschaft genommen?“
„Bitte?“
„Haarwurzel von mindesten drei Personen. Gehe von weiblich aus.“ Frank grinste. „Oder epilierst du als Mann deine Beine.“
„Ich habe andere Probleme als deine blöden Witze“, schrie Joos, wandte sich ab und eilte zur Ausgangstür, dessen Glaseinsatz weiterhin zerbrochen war.
„Warte! Das war ein Witz.“
Joos kehrte zu Frank zurück.
„Ich hatte dir das Ergebnis bereits durchgegeben, aber für kleine Polizisten noch einmal. Zwei Proben sind weiblich, eine männlich.“
„Genauer.“
„Die Männliche ist identisch mit“, er schmunzelte erneut, schüttelte dabei seinen Kopf, „Shila. Eine Weibliche kann ich niemanden zuordnen, dagegen die andere.“ Er pausierte, ergriff seinen Erlenmeyerkolben und gönnte sich einen Schluck.
„Los, raus mit der Sprache.“
„Shilas Schwester.“
Joos fiel der berühmte Stein von der Brust. Zumindest war der Junge nicht sein Kind, obwohl gefreut hätte ihm auch ein anderes Ergebnis.
Frank schien seine Reaktion zu spüren. Er schwang den Kolben. „Na, jetzt doch einen Kleinen?“
Ohne auf ihn einzugehen, eilte Joos erneut zur Tür.
Frank streckte seinen rechten Arm aus. „Warte, ich habe dir noch etwas zu sagen!“
Joos hörte ihn nicht mehr. Der Rechtsmediziner leerte den Erlenmeyerkolben mit einem Zug und murmelte: „Josephine ist nicht deine Tochter“.
Die Tür fiel krachend ins Schloss. Joos sprang die Treppen hinunter und raufte sich die Haare. Was hatte er getan? Sie hatte ihm das Vertrauen geschenkt. Er verkaufte sie. Sie hatte seinen Spürsinn ausnutzend, ihm Geschichten erzählt, in Rätsel gesprochen, jedoch mit wahrem Kern.

Genau das ist ihr Problem! Sie können sie nicht weiter verstecken!, drangen Tinettes Worte in sein Gehirn. Sie! Es war nicht ein Kind, es waren zwei. Ein Spross, zu einem ein Bursche zum anderen eine Dirn. Hast du nie von Jungen gehört, welche Mädchen sein wollen. Widerlich der Gedanke. Gibt es aber!Welcher Junge trägt kurze lila Shorts und Turnschuh mit Schleifchen am Hacken!Lege ein wenig Fantasie an den Tag!
„Glaube nie einer Frau!“, murmelte Joos vor sich hin, dabei meinte er jedoch nicht Tinette, sondern Klara.
Es stand für ihn fest, Klaras erste Entführung war nie ein Kinderspiel gewesen. Dagegen der Brief, den er bekommen hatte von ihr. Sie hatten wirklich vor, den Entführer zu enttarnen. Wie verrückt waren sie?
Bloß, weshalb hieß der Junge Antonia? Er blieb im Treppenhaus stehen und kratzte sich am Genick. Er musste diesen Namen tragen, denn er war ein Mädchen. Wie hatten sie dies angestellt? Der Seewolf hatte ihm die Daten vom Melderegister gegeben, von einem Amt, somit eindeutig. Oder?
Joos hatte keine Ahnung davon, wie jemand in Deutschland sich anmeldet. Er wusste nicht einmal, wie dieses in Belgien funktionierte. Warum sollte er sich ummelden? Die nächsten Stufen nehmend, dachte er nach.
Einmal hatte er sich an einem Amt gemeldet. Als er mit seiner Frau, Josephine und dem Drachen nach Bremen zog. Mehr als ein Formular musste er nicht ausfüllen. Hatten sie Ausweise verlangt? Alles Blödsinn. Welch ein Entführer fragt beim Amt an. Joos schlug sich an die Stirn und flüsterte: „Es sei denn, er wäre..?“
Hirngespinst. Tinette wusste mehr.

Von wem sie es gehört hatte, konnte er sich denken. Josephine war es gewesen. Sie gab ihr den Tipp. Psychologin! Von ihm hatte Tinette ihren Beruf nicht erfahren, er schämte sich, immerhin war er selbst Patient bei Josephine. Damals, als sie sich nach Tinettes Angabe das letzte Mal gesehen hatten, studierte sie Elektrotechnik.
Woher wusste sie den Beruf von Marias Ehemann. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Es war der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl. Der Junge lebte bei Maria. Er zuckte mit den Schultern, schlug sich an die Stirn. Maria? Das war es! Maria und Sophia waren beide Kinderärzte. Joos blieb vor der Haustür stehen, schmetterte seine Faust gegen dessen Rahmen.
Er schrie: „Quatsch. Ich dachte, du hättest es gleich gesehen. Eine Kapkobra hat sie gebissen.“ Er konnte die Worte von Doc nie vergessen. Sophia lebte lange in Gegenden mit gefährlichen Tieren, Maria nicht. Er hatte sie nicht genau angesehen, denn er trug die Trage am Fußteil. Ihr Gesicht war mit kühlenden Tüchern umwickelt. Ihre Tochter sprang nicht zu ihr, sondern auf den Beifahrersitz. Keine tröstenden Worte der Verletzten zusprechen. Nichts. Dafür schrie sie auf ihn ein, wo er gewesen wäre, anstatt ihr beizustehen, ihr zu helfen.

Maria war Docs Geliebte. Sie waren ein Paar, bevor er sie kennengelernt hatte. Ihre Flucht nach Klaras Kidnapping, kein in Schutz verbringen der geliebten Tochter. Zu Doc wollte sie.
Tanja hatte das nicht mehr ausgehalten. Er wusste jetzt, was sie ihm sagen wollte.
„Tanja, Stephen, Vaginalabstrich nicht notwendig!“, murmelte er.
Joos raufte sich die Haare. Abwegig. Doc? Klara? Er war nicht der Vater von dem Jungen. Doc war ein Schwein, ein miserabler Eber, trotz ihrer Freundschaft, hasste er ihn, aber die eigene Tochter?
Genau dies war es. Doc hätte ihn zur Rechenschaft gezogen. Hat er das nicht getan?
Damals seine Begrüßung, die verachtenden Blicke, die er ihm zugeworfen hatte, nicht die brachiale Umarmung, welche er von ihm kannte.
Danach verstarb er. Doc hatte keine Zeit mehr, mit ihm zu sprechen. Nein! Er hätte ihm das vorher aufs Butterbrot geschmiert. Wollte er es ihm nur einreden? Ihn am Abend bei einem guten Whiskey zur Seite nehmen?
Er verließ die Rechtsmedizin. Die Gene? Die Kraft in seinen Beinen entschwand ihm. Es fühlte sich für ihn an, als hingen Bleikugeln an seinen Füßen.

Er benötigte einen klaren Verstand. Zu viel kreiste ihm ungeordnet durchs Gehirn. Joos kratzte sich im Genick, flüsterte: „Erst Tinette befreien“.
Er rannte über den Hof, öffnete seinen Volvo, stieg ein und schnappte sich sein Laptop. Es gab nur einen, der ihm helfen konnte. Sein Zuträger betrieb seine Spelunke Olivenhain in St. Georg. Dieses war das Einzige, was er von ihm wusste. Die Prostituierten marschierten bei ihm ein und aus, wärmten sich im Winter ihre nackten Beine, holten sich im Sommer ein kühles Getränk, benutzen die Toilette nicht nur, um sich zu erleichtert. Dort war es sicher, zudem sauber. Er wusste es von Ommo, jener kannte ihn. Für ihn war der Ex-Bulle nur der Seewolf.

Igor hatte seine Geschäfte nach Hamburg verlagert und wie er Igor kannte, machte der sich nirgendwo Freunde.
Seine Antwort kam wie immer prompt.
Mache mich auf den Weg zu Igors Pferdestall, las Joos.
Er konnte nicht mehr machen, außer Grübeln. Er startete seinen Volvo und fuhr los.
Wer war der Junge, das Mädchen?
Die Beweislage war für ihn unklar, mehr Annahmen. Maria hatte eine Tochter. Klara. Der Junge war Klaras Bruder. Gleicher Vater, gleiche Mutter. Klara war schwanger. Er schloss die Augen und versuchte, die damalige Szene Revue passieren zu lassen. Tanja lief auf sie zu. Ein Kind schrie. Sie sollte sich um das Kind kümmern.
Wenn dieser Säugling Klara Bruder war, dann war Maria die Mutter. Wo befindet sich eine Mutter, wenn sie einen Säugling hat? Kapcobra? Dass Maria lebte, wusste er. Er hatte sie getroffen. Klara Kind war nicht verbrannt.
Mitochondrien nebst Chromosomen hüpfte über seine Synapsen. Geschwister? Nein. Cousin und Cousine? Nein. Enkeltochter und Großmutter. Warum den Tod vorgaukeln, fliehen?
Er schlug auf sein Lenkrad und schrie: „Freunde im Geist“.
Geschwängert hatte er sie. Beide? Unter der Soutane lebte mehr, als er beteuerte. Warum war er damals bei Anton gewesen? Sie war damals Nonne. Damit für sie ein Kind zu gebären unmöglich. Dagegen war ihre Schwester frei von Zwängen.
Die Ampel zeigte rot und sein aufgeklapptes Laptop blinkte.

Der Seewolf leistete gute Arbeit. Ohne dass er ihn aufgefordert hatte, übermittelte er ihm Fotos. Seine Annahme verhärtete sich. Die Bilder zeigten das Mädchen sowie den Jungen, dieses war er für ihn hundertprozentig. Sein kurzes schwarzes Haar, sein kantiges Gesicht, erst recht die beginnende Männlichkeit zwischen seinen Schenkeln, bewiesen Joos seine Theorie.
Die Kinder waren auf dem Weg zu einem Boot. Nahne war Seemann. Warum er nicht? Das Mädchen viel zu zart für diesen rauen Sport. Auf einem Foto saß er stolz mit Kapitänsmütze am Ruder. Dennoch, darüber war er sich sicher, sollte dieser Knabe das dritte Mädchen mimen. Deshalb die untypische Kleidung, die Darbietung von ihr im Park. Sie war darauf angesetzt ihm beizubringen, wie junge Damen sich benehmen.
Bloß, weshalb hieß er Antonia? Auch dieses Rätsel würde er lösen.
Zuerst schickte er dem Seewolf eine zweite Nachricht, mit der Bitte, dass er auf die Kinder aufpassen solle, denn er hatte ein anderes Ansinnen.
Ein Hupkonzert forderte ihn zur Weiterfahrt auf.



Die Tarnung ist zerschlagen

Tami umschlang das Handtuch mit beiden Armen und presste es an ihren Oberkörper. „Mädchen!“
„Was dachtest du?“

Standardspruch! Immer, wenn sie jemand als Girl enttarnte, entlarvte …
Sie zupfte an ihrem Ohrläppchen. War es ein Verbrechen, sich wie ein Junge zu kleiden, zu versuchen wie sie zu denken, zu handeln?
Keine Gräueltat, nur totaler Blödsinn war es gewesen. Die Vorbereitung zur Hochzeit, der Aufenthalt in Bayern hatten ihr die Augen geöffnet. Das Eingeständnis von Tanja, ihre Liebe zu Frauen, den entschiedenen Tropfen, der ihr Fass bei der Standpauke, jene sie Matthias gehalten hatte, zum Überlaufen gebrachte hatte.
Dabei war Svenja bis zum Ende der Grundschule ein normales Mädchen. Fast! Sie haste es, wenn Sonja sie zur Weltraumprinzessin Shila verkleidete, während ihre Freundin Lamu mimte. Lieber wäre Svenja als Thorben Raubein in See gestochen. Sie spielte mit Autos, Baggern, kämpfte mit Lamus Raumgleiter, den sie aus Legosteinen nachgebaut hatte, gegen das Böse. Sonja schminkte ihr Gesicht und gab ihrer Puppe Cindy die Flasche oder ihre nicht vorhandene Brust. Beim Hochzeitsspiel war sie der Bräutigam und Sonja die Braut in Weiß. Wenn ich groß bin, dann heirate ich dich , versprach sie Sonja.
Sonja hatte ihren ersten Freund, denn sie war älter. Eifersüchtig war Svenja auf ihn. Sie schmiss ihrer Freundin Vorwürfe an den Kopf. Sonja? Sie sei nicht lesbisch, schnauzte sie Svenja an. Damals wusste sie nicht einmal, was dieses war.

Erst bei der Vorstellung im Gymnasium wurde ihr alles bewusst. Sie war wie Klara Sesemann gekleidet, da gestand der Admiral der Rektorin, inwieweit sie nicht normal sei. Sie in den nächsten Jahren ein Auge auf das Kind werfen solle. Es stand für sie fest. Sie war ein Junge. Am selben Tag warf sie all ihre Kleider sowie Röcke weg.
Nur ihre langen Haare behielt sie, obwohl der Admiral dieses als inkonsequent titulierte. Ihr erster Gang auf die Jungentoilette war wie eine Befreiung. Sogar im Sportunterricht gab es am Anfang keine Probleme. Ihre Sporthose unter der Jeans verbarg, was ihr fehlte. Später stopfte sie sich den Schritt aus, da sich bei den Jungen, der Bereich zu wölben begann.
Einzig bei der rhythmischen Sportgymnastik blieb sie ein Mädchen. Eine Tarnung wäre hinderlich gewesen, obendrein hätte diese lächerlich ausgesehen, obwohl sie sich im Gymnastikanzug schämte. Trotzdem genoss sie die Stunden.
Sie freute sich auf die Nachmittage bei den Neumanns, welche in ihr weiterhin das kleine Mädchen sahen, bis zu dem Tag als sie begriff, inwieweit der Altersunterschied zwischen Sonja und ihr in ihrem Lebensabschnitt unüberwindlich war. Ihre Freundin sie anschrie, sie spanne ihr ihren Freund aus. Den Tänzer, mit dem sie in innigen Bewegungen verschmolzen war. Dabei ging es ihr nur ums Ballett. Er war ihr egal. Sie verstümmelte ihr Haar, opferte es, um die Show, ihren Auftritt zu schmeißen.

„Ein Junge.“
„Bin ich auch!“
„Ich habe nicht festgestellt, als was du dich ausgibst, sondern was du bist!“
Sie zupfte an ihren Ohrläppchen. Ausgegeben? Sie hatte ihr nie etwas vorgespielt. Eher eine Rolle gemimt, die sie jahrelang einstudiert hatte. Sie hatte sich nicht getraut, ihr die Wahrheit zu sagen. Ein Mädchen, welches sich in ein Mädchen verkuck. Weggelaufen wäre Tami. Obwohl sie es jetzt wusste, dass was sie als Liebe interpretierte, nichts anderes war wie die Gunst zu Sonja. Eine Freundin halt. Sie hatte keine Freunde.
„Medizinisch bin ich ein Mädchen, habe eine Vagina, eine Gebärmutter und …“, es fiel ihr schwer, weiterzusprechen, „höchstwahrscheinlich funktionsfähige Milchdrüsen.“
„Willst ein Junge sein!“
Von Wollen war keine Rede. Der Entschluss war gefallen. Ihre Hände zitterten, ihr Mund bebte. Die Worte quälten sich über ihre Lippen, den bereits einmal waren sie an den Falschen geraten.
„Ich habe keine Eierstöcke“, ihr Atem ging schwer, „dafür ein Ypsilon.“
Tami zog ihren Mund schief und runzelte ihre Stirn.
„Du hast zwei X. Ich habe ein X sowie ein Y, bin genetisch ein Junge“, donnerte Svenja ihr entgegen.
Tami glotze sie an. „Ein Zwitter?“

Wie Svenja das Wort hasste. Es kam direkt vor Monster. Dabei hatte ihr Kinderarzt sie beruhigt, der Fall bei ihr Relative wäre klar. Er zeigte ihr Bilder von anderen Kindern, welche es nach ihrer Ansicht schweren hatten. Fotos von Zwittern waren auch dabei. Keine Operationen standen bei ihr an, eher ein Problem für einen Gynäkologen, welcher ihr die erforderlichen Hormone verschrieb. Der Weg zu einer gesunden, normalen Frau wäre für sie einfach, beschwichtigte sie der Arzt. Normal! Einmal im Monat wie eine Sau bluten und irgendwann versenkte ein Typ sein Ding in ihr, obwohl sie Jungen verachtete. Verachtet hatte. Bei dem Gedanken zogen sich ihre Gedärme zusammen, gruben sich Insekten durch ihren Bauch und öffneten ihre Flügel.
„Zwitter sind beiderlei Geschlecht“, harschte sie Tami an. „Ich habe weder Eierstöcke noch Hoden, damit habe ich kein Geschlecht. Bin weder das eine, noch das andere.“
„Wie geht das denn! Hast gesagt, dass genetisch ein Junge bist.“
Sie hatte kein Verlangen, ein Biologiereferat zu halten, daher fasste sie sich kurz.
„Jeder Fötus ist weiblich. Erst bestimmte Schlüssel schalten Gensegmente ein oder aus. Bei mir schaltete sich der Bereich“, sie hob die Arme, bildete mit den Zeige- und Ringfingern zwei V und winkte mit den Fingern, „‘Bilde Hoden‘ nicht ein. Ohne Eier nichts Testosteron. Mangels Hormon kein Junge. Klar!“

Tami warf das Handtuch beiseite, setzte sich zu ihr und schlang den Arm um Svenjas Schulter. „Ich dachte, na ja, wärst einer von den Jungs, die lieber Mädchen sind.“ Sie stieß mit dem Kopf gegen ihre Stirn. „Dabei ist es andersherum.“
Svenja sprang auf. „Ich bin ein Junge, aber nicht männlich. Werde es immer bleiben. Da helfen keine Hormone.“
Sie schnappte sich den langen Pullover und rannte an Deck.



Der Auftrag

Es war Svenja unangenehm, nur mit Strickpullover bekleidet am Ruder zu sitzen. Tami hatte sich die letzten Sachen geschnappt, die weder über Bord noch nass am Mastbaum hingen. Sogar die einzige Unterhose hatte Tami geentert, da sie meinte, unter einem Kleid spiele es keine Rolle, wogegen eine Jeans ohne Unterbüx kratze.
Die See war glatt, die Sonne schien und eine anständige Ostbriese trieb die Sophia gen Westen. Tami hangelte sich am Mast entlang, entfernte den Karabiner, das Sicherungsseil fiel und sie hüpfte zum Ruder.
Sie setzte sich zu Svenja und nahm sie in die Arme. „Sorry, aber ich habe das alles nicht gewusst.“
„Okay.“
„Wie wirst dich entscheiden?“
„Habe ich eine Wahl?“
„Wie’s mir gesagt hast, schon.“
Svenja sengte ihren Kopf. „Glaubst du, wenn ich Hormone schlucke, wächst mir dort eine Wurst.“
Tami lachte.
Ihr war nicht zu lachen. Woher sollten es Normalos wissen?
„Der Admiral ist der Ansicht, ich sollte mir Zeit nehmen. Erst einmal zu mir kommen. Schritt für Schritt mich annehmen. Sie hat recht. Die Zeit habe ich. Aber dann?“
Dass der Admiral mit Zeit nicht gemeint hatte, ob sie Mann oder Frau würde, sagte Svenja ihr nicht. Ihrer Freundin zu erklären, dass sie dazu auserwählt war, ihr späteres Leben als Braut Christi zu führen, traute sie sich nicht.
„Wie meinst das?“
„Eines Tages muss ich Hormone nehmen, ob männliche oder weibliche ist egal.“ Tami sah sie fragend an und Svenja ergriff ihre Hand. „Das Zeug ist nicht nur dafür da, dass dir der Busen wächst. Andere Organe benötigen die ebenfalls. Wenn du sie wie ich nicht hast, dann … Organversagen! Schluss. Aus.“
Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. Manchmal gönnte sie sich eine Übertreibung.

Tami nahm sie fest in die Arme.
Sie riss sich los. „Egal! Das Schlimmste ist nur die dämliche Frauenärztin. Der furchtbare Stuhl. Die betatscht ein überall und dieser Ultraschall, voll reingefahren hat sie das Ding. Nur gesagt, es könne unangenehm werden.“
„Na ja.“ Tami schmunzelte.
„Wie?“
„Glaubst, ich bin noch Jungfrau?“
Svenja riss ihre Augen auf, verdeckte ihren Mund.
Tami biss sich auf die Unterlippe. „Das wollte ich gerade beichten.“
„Dass du mit dreizehn entjungfert bist“, erboste sich Svenja.
„Bin fast sechzehn und nicht freiwillig hier.“ Svenja erstarrte, hörte dennoch weiter zu. „Meine Schwester hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.“
Sie tippte an ihre Schläfe und konterte „Was geht mich deine Schwester an?“
Toni runzelte ihre Stirn. „Weil‘ deine Mutter ist.“
„Du hast ein an der Waffel. Ich kenn meine Schwester.“
„Wie?“
„Es war ein Spiel. Tut mir leid. Tanja ist meine Schwester. Wie kommst du darauf, dass sie deine ist.“
„Weiß es erst seit Kurzem. Hab mit ihr telefoniert. Heimlich. Vorher hatte ich nur eine These.“

Ihre Mutter hätte ihr immer gesagt, dass ihre Schwester bei einem Autounfall um Leben gekommen wäre, begann Tami ihre Geschichte. Sie hätten sich zuvor im Streit getrennt. Nicht einmal Fotos existierten von ihr. Dann stand sie eines Tages in Olgas Boutique, sah sich nach einem Brautkleid um. Die komischen Blicke, das Getuschel, verstand Tami nicht, wie sie erklärte. Olga hätte ihr das eine oder andere Mal von ihrer Schwester erzählt. Sie wohnten damals alle in einem Haus, beide Frauen wären berufstätig gewesen und Olga erzog sie wie ihr eigenes. Mehr erfuhr Tami nicht. Dann besuchte diese Frau ihre Mutter, die sie ihr als ihre Kollegin Klara vorstellte. Sie trafen sich des Öfteren, gingen shoppen, hätten Spaß gehabt.

„Das kann nicht sein“, zischte Svenja. „Hast du dir nur ausgedacht.“
„Nein! Glaub mir.“ Tami ergriff Svenjas Hand. „Weißt, was ich ulkig find?“
Zum Spaßen war ihr nicht zumute, trotzdem zuckte Svenja mit ihren Schultern.
„Heiß auch Antonia.“ Tami grinste. „Torben heißt bestimmt nicht. Oder?“
Svenja löste den Griff und reichte ihr die Hand erneut zum Gruß. „Svenja!“ – „Svenja Fiete, um genau zu sein.“
„Fiete?“
„Ja! Der Admiral hat mir gesteckt, dass meine Eltern unbedingt einen Jungen wollten. Sven-Fiete.“
Tami blähte ihre Wangen, verdeckte die Lippen mit allen Fingern.
Sie brauchte nicht zu sagen. Svenja erkannte an ihren Augen, was ihr Gehirn sich zusammenreimte. „Ha! Ha! Sehr witzig“, raunte sie und zerrte den Saum des Pullovers über ihre Knie.

Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. Antonia! Antonia?
Gleich nach der Geburt gestorben.
In Südafrika.
Warum glaubst du, ruf ich dich Toni?
Der Mann im Amt hatte sie als Mutter eingetragen.


Die Bilder in Svenjas Kopf überschlugen sich. Sie sah die Geburtsurkunde, das Geburtsdatum. „Wann hast du Geburtstag?“
Tami kniff ihr linkes Auge zu. „Nächsten Monat.“
„Genauer?“
„Am zweiten August.“
„Du wirst sechszehn?“
Sie streifte durch ihr Haar. „Ja!“
„Wo bist du geboren?“
„Südafrika.“
Svenja bedeckte ihren Mund, drehte sich zur Reling, beugte sich hinüber und spie ihr Frühstück ins Meer.
Tamis Finger umfassten Svenjas Oberarm. „Ist dir übel?“
Svenja rieb sich die Lippen und grollte „Schlimmer!“, dabei legte sie die Stirn auf ihren Unterarm. „Ich bin du!“ – „Solltest du sein!“
Tami zerrte sie zurück an Deck und wedelte mit der Rechten vor ihrem Gesicht.
Die Augenbrauen zusammengedrückt, stieß Svenja ihr gegen die Brust. „Sie ist meine Schwester. Deine Mutter.“
„Bist du gaga!“

Svenja erzählte ihr alles, was sie kannte. Knüpfte die Puzzleteile zusammen und verflocht die Seewege.
„Das ist alles?“, zeterte Tami und tippte an ihre Stirn. „Aus diesem Sammelsurium schlussfolgerst, dass ich Klaras Tochter bin. Total durchgeknallt!“ Sie lehnte ihren Rücken an die Kajütenwand.
Ganz unrecht hatte sie nicht. Svenjas Welt begann mit dem Einzug in Bremen. Alles, was davor war Finsternis. Der Admiral sowie Tanja schwiegen. Nahne spann Seemannsgarn und die Großmutter schwärmte nur von ihrer Hochzeit. Von der Seemannskappelle, an die sich der Großvater nur erinnerte, da Fresken, wie Ikonen Heilige, Seeräuberschiffe zur Verehrung darboten.
Svenja stemmte ihre Fäuste in die Taille.
„Was hast du zur Verteidigung deiner Theorie beizutragen?“
Tami zuckte mit den Achseln. „Dass meine Mutter meine Mutter ist. Dass sie als ich klein war, meinen Stiefvater geheiratet hat. Wir sind nach Bremen gezogen, weil Olga ihre Boutique dort eröffnet hatte.“ – „Nicht einmal Großeltern hab ich.“
„Ziehst! Genauso löchrig“, kommentierte Svenja und faste ans Ruder. „Zumindest haben wir eins gemeinsam. Wir wissen nichts von der Vergangenheit.“



Geboren aus Meeresschaum


Tami zupfte am Gummibund ihres himmelblauen Strandkleides. „Krieg keinen Bissen mehr runter.“ Sie pustete und steckte den Eislöffel in die übrig gebliebene Kugel Vanilleeis.
Den letzten Schaum vom Rand ihres Erdbeershakeglases fischend, tippte Svenja mit der anderen Hand gegen die drei Eisbecher, welche aufgereiht auf dem Bistrotisch standen. „Ich dachte, du hörst nie auf!“
Ihre Freundin grinste, leckte über ihre bordeauxviolett bemalten Lippen und schwärmte: „Ich liebe Eis“. Dann zupfte sie an Svenjas erikavioletten Top. „Wie fühlst dich?“
Svenja verdrehte die Augen. „Gut.“ Sie hob die Arme und schrie: „Nein! Oberaffentittengeil“.
Die anderen Gäste des Eiscafés drehten sich kopfschüttelnd um.
Es war der Sprung ins kalte Wasser gewesen, der ihr allerletztes Zweifeln hinweggetrieben hatte. Girls waren nicht zickig, schwach. Sie waren stark. Sie hatte Tami das Leben gerettet, sich keine Gedanken darüber gemacht, gezeigt, inwiefern sie als Mädchen ein unerschrockener Pirat war. Mehr noch! Keine Konvention, keine Rollenklischees verbaten ihr, ihre Gefühle zu zeigen. Freisein. Sie war frei. Der Trip nach Ailsa Craig war unwichtig, nicht das Ziel, sondern der Weg entschied. Die Erde war eine Kugel.

Tami strich über Svenjas knielangen weißen Rock. „In der Hotpants sahst echt sexy aus.“
„Ich bin dreizehn“, zischte Svenja.
„Das besagt nicht, dass dich verstecken musst.“ – „Bist bildhübsch, charmant, für dein Alter erotisch.“ Sie erhob den Zeigefinger. „Lass dir nie, erst recht von einem Kerl, etwas einreden. Benutze sie. Lass sie tanzen. Wickel sie um Finger, aber bleib selbst.“ Sie klopfte auf den Tisch. „Was können wir Mädels dafür, dass die Jungen spießig sind.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja! Ich hab null dagegen, wenn mein Freund sich einen sexy Rock überstreift. Aber die Kerle trauen sich ja nichts. Schämen sich, dabei sind‘s nur Klamotten. Denken, ihre Männlichkeit würd abfallen. Stark ey ist, wenn de machst, was du willst. Dich an keine Bräuche hältst. Auf die anderen und ihre verschrobenen Urteile scheißt“, hetzte sie und drückte ihre Lippen auf die der Freundin. „Was hältst davon, wenn wir ein paar Tage auf Ameland bleib’n. Es ist sonnig. Die Leute sind cool“, sie klopfte gegen die Tüten vor ihren Füßen, „und die Läden krass.“
„Ich mag keine engen Hosen“ Svenja sengte den Blick. „Sieht irgendwie komisch aus.“
Tami kratzte sich am Schopf, klopfte gegen Svenjas Stirn. „Räum dein Kist auf, das ist bei Frauen so.“ – „Also. Bleiben wir?“
Auf Svenjas Gesicht formte sich ein Lächeln. Sie griff an die Rückenlehne des Bistrostuhles, zog an dem Riemen ihre kastanienbraune Handtasche und legte den buchgroßen Neuerwerb auf ihren Schoß.
Tami pickte mit ihrem Zeigefinger auf das Hogwartslogo. „Stehst drauf?“
Svenja zuckte mit den Achseln und pikierte sich. „Meinen Rucksack hast du ja über Bord geworfen.“ Sie öffnete den goldenen Verschluss in Form eines Schnatzes.
„Wenn du nicht fangen kannst“, konterte Tami, dabei streckte sie die Zunge hinaus.
Die Lippen gepresst, die Augenbrauen zusammengekniffen, fischte Svenja ihr Smartphone heraus und platzierte es vor Tamis Nase. „Du rufst an!“
„Ist deine Mutter!“
„Schwester. Deine!“
Die Kinder lachten, gackerten, hielten sich die Bäuche, die Münder.

„Gebongt! Aber nicht mit diesem komischen Ding. Ich will ja nicht fernsehen. Telefonieren tue“, sie tippe an ihr Brustbein, „ich mit‘nem Handy!“
Sie fuhr mit der Hand unter ihren Rock. Svenja Pupillen wanderten zur Freundin, zu den Gästen hin und her. Tami streckte ihren Körper, die Beine ab.
„Trag kein Handtäschchen. Meine drei Sachen verstau ich anders.“ Sie zog die Hand hervor, dann legte sie ihr winziges Mobiltelefon auf den Tisch. „Im BH ist es praktischer. Aber trage eben keinen.“
Svenja kramte in ihrer Handtasche, fischte einen silbrigen Zylinder heraus und zischte: „Deinen Lippenstift musste ich nehmen“.
„Unseren“, entgegnete ihre Freundin. „Für zwei, warst zu geizig.“
Sie leckte über ihre bordeauxvioletten Lippen. „Quatsch, ich steh halt nicht auf Kriegsbemalung.“
Tami beugte sich über die Tasche, ergriff eine münzgroße Dose. „Lidschatten.“ Ein Stift erblickte das Tageslicht. „Eyeliner.“ Ein Fläschchen wackelte zwischen ihren Daumen und Zeigefinger. „Nagellack.“
Svenja wandte ihr Gesicht ab. „Man weiß ja nie?“ – „Zicke!“
„Selber.“

Tami pochte auf ihr Telefon. „Was is?“
„Aber nur, wenn wir an den Strand gehen. Du rufst an!“
„An den Strand?“
„Einfach daliegen und sich sonnen“, schwärmte Svenja.
„Klar! Warum? Ist ja nichts Besonderes.“
„Für dich!“
Tamis runzelte ihre Stirn, worauf Svenja ihre linke Schulter hob. „Wie sollte ich als Junge ..?“
Svenjas Smartphone vibrierte, wanderte über die Tischplatte und Matthias Gesicht erschien.
„Geh ran!“
Den Mund gespitzt, tippte Svenja aufs Display. „Nö! Nicht wichtig!“
Tami wies über die Straße. „Ich geh drüben in die Boutique, kauf zwei schnucklige Bikinis und ruf DEINE MUTTER an.“
Svenja verzog ihr Gesicht.
Tami schnappte ihr Telefon. „Kannst in Ruhe mit nicht wichtig flirten.“
Die Zunge herausgestreckt, ergriff sie ihr Smartphone, tippte auf das Display, klemmte ihre Haare hinters Ohr und platzierte das Telefon an ihre Ohrmuschel, dabei drehte sie sich Locke und zirpte: „Hallo mein Schatz“.



Ihr letzter Freier

„Ich hole mir ein letztes Stück alten Gouda. Soll ich dir was mitbringen?“, Josephine leckte über ihre feuerroten Lippen. „In Holland schmeckt er mir am besten.“
Tanja knetete ihren Bauch. „Danke! Ich kriege nichts mehr rein.“
Josephine beugte sich vor, stütze ihre Ellenbogen auf den Frühstückstisch, zugleich ihr Kinn auf ihre Hände ab. „Ein bisschen Stärkung …“, sie blinzelte, „könntest du immer haben.“
Klara verdrehte die Augen. „Ich lieb dich nicht. Wir hatten Sex. Damit basta!“
Den Kopf zur Seite gelehnt, lehnte sich Josephine zurück. „Gefallen hat es dir! Mal wieder richtig genommen zu werden. Du hast gequiekt wie eine Sau!“
Klara zerrte ihr Haargummi vom Zopf und kämmte mit den Fingern durch ihre Haare. „Manchmal glaube ich, an dir ist mit deinem Machogehabe ein Kerl verloren gegangen.“
Grinsend griff Josephine unter ihr schwefelgelbes mit Spitze besetztes Top und richtete ihren Busen. „Na ja, wenn dir Männer mit prallen Brüsten, an den du lustvoll saugst, gefallen, bin ich gern dein Hengst“. Sie wieherte und blies über ihre Lippen, welche wie bei einem Pferd vibrierten.
Klara verdeckte ihr Dekolleté. „Da sprichst du eher von dir.“
Ihre Lider geschlossen, band sich Klara erneut einen Pferdeschwanz. „Wir haben andere Probleme als unserer Sexualleben, außerdem war es das letzte Mal. Verstanden!“
Josephine blies zuerst eine Strähne von ihrer Stirn, dann verschränkte sie die Arme. „Ich weiß nicht, was du hast. Es läuft alles nach Plan!“
Klara malte mit ihrem Messer Linien in die Marmeladenreste auf ihrem Teller. „Stephen ist das Problem. Er glaubt, Antonia wäre seine Tochter.“
Die Mundwinkel emporgezogen, verdeckte Josephine ihre vollen Lippen. „Antonia?“ Sie gackerte. „Er kennt sie überhaupt nicht. Den Namen haben wir uns für meine Tochter ausgedacht.“
„Doch!“
„Wie doch?“
Klara senkte ihren Kopf, formte aus den Marmeladenlinien ein Herz.
Josephine schlug mit den rechten Handballen an ihre Stirn. „Sag nicht, du hast …“
„Ja“, knurrte Klara.
„Du bist doof! War erst für später geplant!“, blaffte Josephine sie an und winkte ab. „Nee!“, sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, der braucht ein paar Sitzungen zusätzlich.“ Sie tippte an ihre Schläfe. „Der Typ ist der Annahme jedes Kind in seiner Nähe, welches um dreizehn Jahre ist und ein Rock trägt, wäre seine Tochter. Erst Alina …“, sie kloppte auf den Tisch, lachte, „jetzt … Der spinnt.“
Josephine rieb über ihre Wange. „Egal! Reden wir ihm ein, es wäre ein Spaß“, sie pullte an ihrer Nase, „ein Test gewesen.“
Klara flechte die Zähne, kratzte ihr Genick. „Ich gehe nicht davon aus, inwiefern dieses ihn überzeugen wird.“
„Was verschweigst du mir?“
„Er weiß, dass ich Klara bin.“
Josephine verschränkte die Arme. „Hast du ihm auf die Nase gebunden. Wie?“
Klara zupfte am Saum ihres erikavioletten Etuikleides und murmelte: „Ich habe mit ihm geschlafen“.
Ihre Tischnachbarin lachte, pochte mit dem rechten Zeigefinger, wie ein Specht, gegen ihre Stirn. „Der kann gar nicht.“ Sie verzerrte ihr Gesicht wie nach dem Genuss einer Pampelmuse, schüttelte sich. „Außerdem ist er schwul.“
Klara schürzte die Lippen. „Hast du etwas gegen homosexuelle Männer?“
„Widerlich!“, fauchte Josephine.
Den Kopf nickend, zeigte Klara ihr einen Vogel. „Aber du schläfst mit einer Frau?“
„Das ist etwas anderes“, grummelte Josephine und hob den rechten Zeigefinger. „Na klar, habe ich vergessen. Er hatte dich damals vergewaltigt. Ich sage doch, Schwule sind abartig!“
„Hat er nicht!“

Eine Frau in einem kurzen schwarzen Kleid mit tiefem Ausschnitt und blütenweißer Schürze trippelte an den Tisch. „Darf ich abräumen?“
„Wenn es ihnen Freude macht!“, schnauzte sie Josephine an.
Die Kellnerin beugte Ihren Oberkörper vor, sodass ihr tiefschwarzer französischer Zopf über ihre Schulter fiel.
Klara blinzelte sie an und schmachtete: „Gern“.
Die junge Frau strich mit der Linken über eine Narbe an ihrem Nacken, nahm mit der anderen Hand das Geschirr auf, daraufhin schwang sie die Hüften und tänzelte davon.
Josephine zog ihre winklig gezupften Augenbrauen zusammen, starrte auf ihr Gegenüber.
Ihre Pupillen nach oben rollend zuckte Klara mit den Achseln. „Ich habe nur geguckt!“
Es gab Tage, um genau zu sein, 365 im Jahr, an denen Klara Josephine hasste. Ihr einnehmendes Wesen verabscheute. Sie waren Freundinnen, hatten manchmal Sex – Befriedung ihrer Gelüste. Das Gewissen plagte sie. Aishe hatte sie es jedes Mal gestanden, obwohl sie erst seit ihrer Hochzeit wieder ein Paar waren. Sie nahm es hin, kannte ihre Lust. Diesmal sollte es anders sein. Klara hatte sich vorgenommen, reinen Tisch zu machen. Ihr Vorhaben abzublasen. Wieder fühlte sie sich in ihrer Gegenwart wie das kleine Mädchen, das mit ihrer Freundin ein Spiel gespielt hatte, welches verboten war.

„Es war eine Bitte von Anton“, begann Klara ihr Geständnis.
Er hätte sie angerufen, erzählte sie, dass sein Sohn bei ihm gewesen wäre. Er schrie sie an, war aufgebracht. Sein Sprössling hätte ihm gestanden, er wäre unglücklich verliebt, und wäre bei ihm aufgeschlagen, um mit ihm zu sprechen. Er hatte ihr gesagt, vor Glück hätte er ihm auf die Schultern geschlagen. Er glaubte, Stephen wäre endlich ein ganzer Kerl geworden. Bis er ihm verriet, dass er sein Herz an einen Mann verloren hätte. Weggejagt hatte er ihn. Sie war es ihm schuldig, aus der Missgeburt einen Mann zu machen, gestand sie Josephine.
Sie verführte ihn. Harte Arbeit wäre es für sie gewesen, ihn zu erregen. Nicht ein Mal ein Kondom fluchte über sein schlaffes Glied. Irgendwie schaffte sie es, dass er in sie eindrang, sie nahm. Er verlor den Krampf, ihre Lust stieg.
„Er war richtig gut für einen Anfänger“, raunte Klara. „Kurz vor einem Orgasmus ist er aufgesessen. Er hatte vor, zu Tanja zu gehen, ihr zu beichten.“
„Dass er mit dir geschlafen hat?“
„Nein!“. Klara verdrehte die Augen. „Das er schwul ist.“
Josephine nickte, tippte an ihre Schläfe. „Dann hat er sie vergewaltigt.“
„Quatsch. Hat sie Doc erzählt“. Klara schloss ihre Lider. „Mir hat sie gesagt, dass sie da weitergemacht hat, wo ich aufgehört habe.“ Klara kreuzte ihre Arme hinter dem Genick. „Euphorisch war sie. Sie hatte einen Mann. Wie naiv!“

„Wo ist dein Problem?“ Josephine richtete ihr Top. „Er weiß, du bist Klara.“ Sie strich ihren Minirock glatt. „Hätten wir ihm ohnehin erzählt.“
Klara knabberte an ihren Fingernägeln und murmelte: „Wir hätten Aishe als Dritte auswählen sollen“.
„Ich kann die nicht ausstehen.“
„Du kennst Aishe nicht.“
„Egal!“ Josephine ergriff Klaras Hände. „Ich habe genau die richtige Mannschaft“, sie blinzelte, „für die Tanja Rolle. Sie ist eingeweiht, soweit es darauf ankommt. Ein Profi du verstehst.“ Sie blickte Klara an, zischte: „Ich mach das alles für dich“, dabei stieß sie gegen Klaras Brust. „Du willst wieder Klara sein. Nicht ich!“
Klara drehte sich eine Locke, zupfte an ihrer Halskette. „Ja! Tanja muss verschwinden.“
„Entführt werden!“
„Trotzdem hättest du mir vorher sagen müssen, dass die Frau auf deiner Fete ein Mann ist.“
„Konnte ich wissen, dass du ihn kennst? Ihr Körperflüssigkeiten ausgetauscht habt.“ Josephine grinste, hob eine Augenbraue. „Heißt dies, dein und Tanjas Kind haben denselben Vater?“
„Hatten. Meine Tochter ist tot, verbrannt“, zischte Klara.
Wieder war sie in ihren alten Trott geraten, Lügen und Verschleiern. Diesmal hatte sie das Gefühl, ein Verlangen, ihrer Freundin ein Teil weiter zu verheimlichen.
„Nein! Dachte ich. Von der Zeit kam es nicht hin. Rechnen kann ich.“ Klara ballte eine Faust und bis auf ihren rechten Zeigefinger. „Dann erzählte mir Stephen, er hätte nur einen Samenerguss gehabt.“ Sie hob ihre Ellenbogen. „Es kommt nur einer infrage. Ein Geschäftspartner von Anton, denn ich in Durban beglückt habe.“ Sie strich über ihre Unterlippe. „Dabei hatte ich immer mit Pariser und Maske gearbeitet.“
Josephine wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, grinste. „Maske?“
Klara spreizte Zeige- sowie Ringfinger beider Hände ab und fuhr mit diesem vom Nasenbein bis zu den Schläfen an ihren Augen entlang. „Ja! Die Eleganten, wie bei einem Ball“ Sie zog eine Augenbraue empor. „Das Kondom muss gerissen sein. Na ja, ging wild her.“ Sie atmete tief ein. „Zumindest war er mein letzter Freier. Stephen zähl ich nicht mit.“

Die zierliche Kellnerin, die mit der für Klara ansprechenden Oberweite, stöckelte an den Tisch. Sie beugte sich vor, stellte einen untertassengroßen Teller vor Klaras Nase und leckte über ihre Oberlippe und hauchte: „Krentebroodje! Zoet en smakelijk!“, während strich sie über ihren auf ihrem Busen ruhenden Zopf und legte einen visitenkartengroßen Zettel neben die Rosinensüßspeise. Beim Abgang zwinkerte sie Klara zu und stöckelte mit Hüftschwung davon.
Josephine verdrehte die Augen, schwang ihren Kopf. „Wie machst du das?“
„Charisma! Etikette!“, hauchte sie, „Alles, was du nicht hast“, sodann verwahrte sie den Zettel in ihrer Handtasche. Den Blick durch den Saal schweifend, drehte sie ihre zierliche goldene Armbanduhr um ihr Handgelenk. „Wo bleibt dein perfektes Double?“
„Weiß nicht! Sie war bis jetzt immer pünktlich!“, wetterte Josephine, drückte ihren rechten Zeigefinger gegen ihre Wange. „Wie hatte Stephen darauf reagiert, als er erfuhrt, wer du bist?“
Klara zupfte an ihrer Unterlippe. „Na ja! Als du uns einander vorgestellt hattest, wirkte er nervös, dann, nachdem wir gegangen, uns in der Kneipe unterhielten hatte, erschien er eher erleichtert.“
„Wie erleichtert?“
„Wie ein Kind, welches etwas Verbotenes getan hat. Die Strafe des Vaters bewusst, von der Mutter zum Vater geschickt wird, der ihm zu seiner eins in Mathe gratuliert.“
Josephine verdeckte ihren Mund, erstarrte, nahm zögerlich die Hand von ihren Lippen. „Erinnerst du dich an den Jungen“, sprach sie langsam und ruhig, „der uns verfolgt hat.“
„Wo?“
„Auf dem Reiterhof! In dem Sommer, als es passiert ist.“
Klara stützte sich auf der Armlehne ab, schob das Gesäß zurück, strich ihr Kleid zurecht. „Nein! Hatte damals bereits eher ein Faible für Frauen.“ Sie blinzelte ihrer Tischnachbarin zu.
„Du hast mir gestern Abend berichtet, dass die Villa der van Düwen auf dem Weg vom Reiterhof zu den Bunkern ist. Somit in der Nähe!“, kombinierte Josephine.
„Was willst du damit sagen?“
„Wer wohnte bei den van Düwen!“
Klara tippte an ihre Schläfe. „Stephen war schwul!“
Josephine zog ihre linke Augenbraue herauf. „Vielleicht nicht immer“ Sie sah zur Seite. „Wer ist Psychologin? Schuldkomplex! Hat die Gunst der Stunde genutzt, nachdem der Entführer uns verbracht hatte. Allein mit seinem Opfer in der Scheune. Sie hilflos, bewusstlos.“
Die Augen geschlossen, die Lippen gepresst, nickte Klara. „Dann verbringt sie mit ihm eine Woche bei Doc.“
„Opfer Täter Austausch!“, zischelte Josephine. „Das Opfer identifiziert sich mit dem Täter. Er bereut, gesteht ihr seine Homosexualität. Mutterkomplex!“
„Das hätte sie mir erzählt. Sie hasste, wie ich, dieses Schwein“, grummelte Klara.

Eine gewisse Logik hatte ihre Analyse, überlegte Klara. Sie ging ebenfalls davon aus, dass sie damals mindestens zu zweit waren. Wie hätte sonst der Peiniger die Mädchen verbringen und gleichzeitig Tanja …, dass sie ihr nicht erzählt hatte, wer ihr das angetan, verzieh sie ihr nicht. Denn er war ein Schlüssel zu der Entführung, ein Beobachter. Der letzte Zeuge, den sie nicht kannt. Davon ging sie aus. Stephen? Er war lange nicht an seinem Ziel, seiner Bestimmung mehr Raupe als Falter. Aber dass Josephine ihn in Betracht zog, obwohl sie selbst zugegen gewesen war, abwegig für sie. Falle! Ihr Mitteilungsbedürfnis beim Sex hatte ihr wichtige Informationen eingebracht. Stephen? Er spielte nur die Rolle einen Statisten in ihren Berichten. Planänderung! Ihre Gedanken verschwieg sie vor Josephine, denn sie wusste mehr, dies hatte Tanja ihr erzählt und dafür hasste sie die ihr Gegenübersitzende.
„Du bist nicht ganz unschuldig“, zischelte Josephine.
„Bitte?“
„Du schläfst mit ihm, seine innersten Triebe erwachen und ...“
„Sie lässt ihn gewähren“, vervollständigte Klara den Satz.
„Legalisierung“, schnaufte Josephine, dabei lehnte sie sich zurück. „Welches Verhältnis hattest du zu Tanja?“
Klara atmete tief ein. „Ja! Wir hatten etwas miteinander!“
Einen Brechreiz empfing sie. Mit der eigenen Schwester stöhnte Klara, ohne ein Wort über ihre Lippen zu lassen. Hätte sie es damals gewusst, geahnt, wie hätte ihr Leben sich entwickelt. Geschichte. Fehler waren nicht rückgängig zu machen, nach vorne schauen, war der einzige Weg.

„Eine gemeinsame Zukunft wollten wir haben.“ – „Sie ihr Abi machen und ich wollte studieren.“ – „Eine Familie gründen.“
Josephine klatschte. „Das ist es.“
Tanja stockte der Atem. „Was?“
„Wusste Tanja, dass du schwanger warst?“
„Nein! An dem Tag wusste ich nichts.“ Sie zog ihre Augenbrauen zusammen. „Was hat das mit..?“
„Geopfert! Ein zweites Mal für dich aufgeopfert hat sie sich. Oder wie sollen zwei Lesben Kinder kriegen?“
Es war genug. Am liebsten hätte sie Josephine alles, was sie wusste, entgegengeschrien. Ihr ihre Katzenaugen ausgekratzt, ein Messer genommen, auf sie eingestochen. Glücklicherweise war der Tisch abgeräumt.
Klara erhob sich. „Ich muss los.“
„Wir sehen uns dann am Mittwoch.“ Josephine klopfte auf den Tisch. „Selbes Hotel!“
Klara schnappte ihre Handtasche, hing sie über ihre Armbeuge und befahl: „Sorge du dafür, dass dieses Tanja Double erscheint“.
„Wer ist wohl die Fälschung?“, zischte Josephine kaum hörbar und spitzte den Mund. „Hast du nicht was vergessen?“
Ihr Haar auf die Schulter werfend, drehte Klara auf ihrem nadelspitzen Absatz um. Sie beugte sich hinab und drückte Josephine einen Kuss, wie Judas dem Messias, auf die blutroten Lippen, einzig mit dem Unterschied, dass die Rollen vertauscht waren.



Chaos in Lesotho

Joos huste sich seine halbe Lunge aus dem Leib und sehnte sich in das Zentralarchiv in Brüssel. Nicht minder verstaubt dafür kühl, keine über vierzig Grad sowie die Akten gepflegt. Nach welchem System sie in diesen Verschlägen ablegten ihm nach mehreren Stunden weiterhin ein Rätsel.

Eine schokoladenbraune Hand stellte eine Tasse Kaffee auf einen Hocker, der rechts neben Joos stand.
„Fündig geworden?“
Er wandte sich zu dem grinsenden Geschöpf um, welches mit der einen Hand durch ihr kurzes krauses tiefschwarzes Haar fuhr. Dabei drückte sie die andere lässig an die Taille und klopfte mit ihrem kleinen Finger auf den Bund ihrer erdbeerroten Hotpants.
Joos wedelte sich mit der Akte, welche er in der Hand hielt, Luft zu.
„Bei der Ordnung hier.“
Sie verschränkte die Arme, hob ihr schneeweißes Top, bis ihre Brüste fast die verdeckende Hülle verließen und presste ihre waffenscheinpflichtigen tiefrot lackierten Fingernägel in ihre schmächtigen, matt schimmernden Oberarme.
„Ich finde alles! Wenn du mir sagen würdest, wonach du suchst, dann könnte ich dir helfen?“
Wie alle Archivleiter auf der Welt sich glichen. Jede Anfrage beantworteten sie, als beabsichtigte man, mit der geliebten Tochter auszugehen. Zumindest war die Frau neben ihm ein Hingucker, nicht wie Mechthild – die gute alte -, die zugegebenermaßen von ihrem Körperbau her eine passende Besetzung im Ring der Nibelungen bot.
Joos zupfte an dem an seiner Haut klebenden Hemd. „Was halten sie davon, heute Abend mit mir essen zu gehen.“
Sie klimperte mit ihren verlängerten Wimpern. „Wir waren bereits beim du“, entgegnete sie. „Hast du überhaupt schon ein Hotelzimmer?“
„Nein! Hatte keine Zeit.“
„Kannst bei mir pennen“, sie rümpfte ihre Stupsnase, „und duschen.“
Ein Themenwechsel war angebracht.
Du bist dir hundertprozentig sicher, dass alle Akten aus Lesotho“, sein Zeigefinger kreiste durch den Raum, „hier eingelagert sind.“
Sie stemmte die Daumen in ihre schmale Taille und presste ihre blutroten Lippen zusammen. „Bigre!“
Ein Schmunzeln flog über seinen Mund. Nicht allein, dass sie sich ausschließlich auf Französisch unterhielten, ihr Französisch war perfekt, nach ihrer Aussage hatte sie in Frankreich studiert, war ihr Fluchen niedlich, verführerisch.
„Ich war für die Zusammenlegung verantwortlich und“, sie erhob ihre Nase und schnippte, „habe kein Stück Papier zurückgelassen.“ Sie drehte sich auf den Absätzen ihrer Espadrilles. Dann stampfte sie, dabei mit ihrer Hüfte schwingend, aus dem verstaubten Raum.

Joos kraulte seinen Nacken. Was man mit einem Stück Papier erreichen kann? Gefälscht war die Legitimation nicht, eher abgeändert hatte er die Befugnisse, die er von Interpol erhalten hatte.
Tinette ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Der Mittelsmann hatte ihm mitgeteilt, er könne nichts mehr für sie tun, da sie längst auf dem Weg nach Russland wäre. Aber bevor er die Reise antrat, um sie zu befreien, wollte er eins wissen. Wer war sie?
Die Haftanstalt, aus der er sie geholt hatte, war der Auftakt der Geschichte. Wie entsetzt war er gewesen, nachdem er gesehen hatte, dass das Gefängnis geschlossen, abgerissen in Trümmern vor ihm lag. Der Freund sowie Leiter der Anstalt, wie er von Evelin, der hübschen Archivleiterin, erfahren hatte, an seiner Lust an jungen Männern verstorben. Von AIDS hingerafft war.
Sollte alles umsonst gewesen sein? Keinen Anhaltspunkt erspähte er in diesem Chaos. Evelin einzuweihen, war für ihn, zu gefährlich.

Eher gelangweilt schlug er den Deckel der in seiner Hand ruhenden Akte auf. Ihm stockte der Atem. Nicht nur, um besser lesen zu können, sondern sein Auge zu reiben, nahm er seine Sonnenbrille ab. Es war nicht das, wonach er suchte, aber dennoch erstaunlich, verwunderlich.
Er hielt ein sich langsam in seine Bestandteile auflösende Entlassungsschreiben in den Händen. Es war nicht ihres, darüber hätte er sich gefreut, sondern von Stephen Dohnhöfer.
Die Akte gegriffen, stand er auf, marschierte an den Regalen vorbei. Was hatte der Junge in einem Frauenknast zu suchen und warum? Das Dokument gab nichts her. Bloß, dass er gute zwei Jahre nach Antons Tod in Freiheit kam. Er wusste kein bisschen über ihn, er war nie ein Teil seiner Ermittlung gewesen. Was er kannte, entstammte einzig den Aussagen seiner Freundin. Der Frau, welcher er das Vertrauen geschenkt, die er in Stich gelassen hatte. Angesetzt hatte er sie, um mehr zu erfahren, was Klara und Josephine vorhatten. Er hatte sie als das Geisterwesen Jannette verkauft, an das Gertrud glaubte.
Joos ergriff die Kaffeetasse und presste diese an seine Unterlippe und murmelte: „Gott habe die arme, verrückte Seele selig“.
Arme Seele, hallte in sein Gehirn nach. Tanjas Untersuchungsprotokoll manifestierte sich ihm erneut. Genauer ein Satz, der ihm bereits im Archiv verwundert hatte.
Vaginalabstrich. Nicht notwendig!
Das Fest auf Alfons Hof, bei dem es für ihn den Anschein hatte, ein Mädchen würde … Mädchen? Das Kind, welches Anton ihm später als Stephen präsentiert hatte?
Antons immerwährendes herumdrucksen. Er, Joos, hatte ihn nie gefragt, was der Junge trieb, wo er zur Schule ging? Dabei gab es eine.
Nie hatte er ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen. Nicht einmal als er im Garten stand, hatte Anton ihn hereingeholt.
Er schlug sich an seine Stirn. Stephen war ein Mädchen.
Joos vernahm seine eignenen Worte.Aus einem Mädchen wird eine Frau.
Er erinnerte sich an Franks Aussage, eine Weibliche kann ich niemanden zuordnen.
„Motorradunfall“, flüsterte er. „Einer Frau näher als einem Mann.“
Stephen war Tanja. Warum hatte er sich nie dafür interessiert, weshalb Klara ihn geheiratet hatte?
Alfons lebte in seiner verschrobenen Welt. Ehre. Blut. Seine Annahme bestärkte sich. Zwei Töchter hatte Alfons, für ihn waren sie nicht zum Erbe berechtigt. Was für ein Problem bestand für Franziska und Vale? Sie hatten einen Sohn. Matthias. Blutlinie? Konnte es sein, dass Franziska nicht Alfons Tochter war? Möglich war es. Gertruds Geschwafel von dieser Jannette. Kannte sie das Geheimnis? Blödsinn. Alfons war zwar nicht im Saal bei den Frauen gewesen, jedoch, dass er nichts davon mitbekommen hatte, für ihn abwegig.
Joos kannte viele Rieten. Ein Ritus, bei dem ein Junge, in die Welt der Frauen, nach dem sah es damals für ihn aus, aufgenommen wird, war ihm unbekannt. In Alfons Weltanschauung waren Frauen minderwertig. Paradox.

Im Stechschritt ging er zurück, zupfte an seiner Nase und überlegte, an welcher Stelle er das Dokument in diesem Durcheinander gefunden hatte. Er schleuderte Akten zur Seite, bis er innehielt.
Joos hielt ein mit einer Kordel gebündelten Aktenstapel in den Händen. An dem Band hing ein Zettel mit einem Namen.
Klara Weber , las er.
Er runzelte die Stirn und kratzte sich im Genick.
„Klara ist tot“, murmelte er. „Die Falsche. Die Echte nicht“.
Er riss die Kordel von den Dokumenten und schlug die erste Akte auf.
Es war die Vernehmungsakte, in der die Staatsanwaltschaft Klara beschuldigt, Anton erschossen zu haben. Joos strich über seine Lippen. Wer war die Angeklagte? Tanja? Sie sahen sich ähnlich, aber war sie nicht bei dem Unfall ums Leben gekommen oder doch seine Verlobte. Die Fotos halfen ihm nicht weiter. Die Zeit, das Klima des Landes hatten sie altern lassen.
Es hätten Bilder seiner Großmutter sein können. Jedenfalls entnahm er den Schriftstücken, dass das Gericht sie zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Ein anderes Foto verwunderte ihn. Es war eine Aufnahme seines Freundes, hingestreckt, liegend auf dem Sofa. Sein schäbiges Unterhemd triefte vom Blut.
Joos fotografierte mit dem Smartphone die Akten ab. Beim Zurücklegen fiel ihn ein weiteres Bündel auf.
Er drehte das Namensschild und murmelte: „Tita de Klandt“.
Den Namen vergaß er nie. Es war die Frau, die ihm Informationen über den Mädchenhändlerring preisgeben wollte. Für dessen Aussage er nach Lesotho gereist war und seine Tinette kennengelernt hatte. Sie war Prostituierte. Sie hatte nach ihrem Dienst die Geldbörse des Freiers, ein Soldat der südafrikanischen Armee, entwendet und im Streit diesen erstochen. Verurteilt zu lebenslanger Haft, verbüßte sie ihre Strafe mit der angeblichen Klara in einer Zelle. Diese Fakten entnahm er einer Akte der Haftanstalt. Nur warum in Lesotho? Sie Südafrikanerin, er Südafrikaner! Ein Gericht aus Lesotho war damals gar nicht zuständig gewesen.

Joos strich über ihre schokoladenbraunen Wangen und hauchte: „Nett dich kennengelernt zu haben“.
Evelin blinzelte ihm zu. „Du hättest die Nacht bleiben können.“
Er schüttelte seinen Kopf und klopfte auf den neben ihm stehenden Reisebus. „Mein Flug geht früh. Ich kann im Bus schlafen.“
Ihre Fingerspitzen glitten über ihr kurzes schneeweißes Spitzenkleid. „Ich mag dich, aber ein wenig alt bist du schon, außerdem“, ihre zarten Finger zeigten auf einen jungen zu ihnen aufschließenden Mann.
Mit festem Händedruck verabschiedete sich Joos. „Sam, nett, dich kennengelernt zu haben.“
Evelin hauchte Joos einen Kuss auf die Wange, bevor der Reisebus ihn verschluckte.
Er machte es sich im Bus bequem, soweit man sich in einem Überlandbus von Maseru nach Durban gemütlich machen konnte. Beim Buchen des Flugtickets hatte er darüber nachgedacht einen Flugschein nach Moskau zu lösen, sie zu befreien, aber der Zugriff daheim war zu wichtig für ihn.
Die stämmige Dame neben Joos drückte ihm einen Käfig, in dem ein Hahn sich aufplusterte, gegen das Gesicht. Ein alter Gockel war er, nicht mehr dreißig. Was bildete er sich überhaupt ein?
Die knappen, ehrlichen Worte von Evelin hatten ihm die Augen geöffnet. Er hatte sich in sie verliebt. Aber sie? Nein! Er machte ihr keine Vorwürfe, egal ob sie Tanja, Tita oder wer weiß, wer sie war. Sie wollte leben. Er hatte sie ausgeliefert.



Der letzte Befehl

John Neumann stand vom Sofa auf, schlug die geballte Rechte in seine kuchentellergroße Linke und schrie: „Klara ist verrückt geworden. Warum hast du mir es nicht früher gesagt, was sie mit Josephine vorhat.“
„Weil ich keine Kenntnis hatte“, knurrte Aishe ihn an. „Was ist so schlimm daran, dass sie ihren Peiniger, das Schwein überführen will?“
Er schlug an seine Stirn. „Alles nur dumme Mädchenfantasien.“ Erneut schmetterten seine Fäuste gegeneinander. „Es ist mir egal, solange ihnen nichts geschieht. Bloß nicht an diesem Tagen, an diesem Ort. Endlich haben wir die Chance, die Schwarze Witwe zu überführen.“
Aishe hob ihre Schultern. „Was für eine Witwe?“ Sie kniff ihr linkes Auge zu. „Ich war der Ansicht, dass ich Joos ablenken sollte, damit ihr die undichte Stelle …“
„Mädchen, du bist naiv. Clouseau an der Nase herumführen, korrekt. Wie ich ihn kenne, wird er dir nach Russland hinterher reisen, somit uns nicht mehr im Wege stehen.“ Er leckte über seine Lippen. „Wer sie ist, weiß ich nicht. Einen Verdacht habe ich. Ich war oft dich an ihr ran. Dagegen weiß ich genau, wer uns unterwandert.“
Sie zielte mit dem Zeigefinger auf ihn. „Gunnar.“
John schlug sich auf seine Schenkel und lachte. „Gunnar? Nein. Der ist ein Fiesling, aber blöd, dämlich im Schädel.“
Aishe blähte ihre Wangen. „Warum sollte ich dann mit ihm..?“
Neumann strich über seine Lippen und grinste. „Persönliche Rache. Mit dem kleinen Video, welches wir gedreht haben, ist er fertig. Du musst zugeben, die Kamera in der Zigarettenschachtel war eine hervorragende Idee von mir. Gestochen scharfe Bilder.“
Aishe stürzte auf ihn, trommelte mit ihren Fäusten auf seine muskulöse Brust. „Du widerliches Schwein.“
Er umfasste ihre Handgelenke. „Was regst du dich auf? Es war sicher nicht für dich das erste Mal, dass du die Beine breitgemacht hast. Ich für mein Teil habe kein Problem damit, im Dienst meinen Spaß zu haben.“
Tränen rannen über Aishes Wangen. „Es war das erste Mal“, schluchzte sie. „Ich dachte, wir könnten ihn überführen.“
Er stieß sie weg. „Gott wie niedlich. Ich ging davon aus, dass du mit dem alten Joos dein Vergnügen hattest.“ Neumann rieb sein Kinn. „Egal! Du bist Profi. Sorge du dafür, dass Klara sowie Josephine uns nicht in die Quere kommen. Die Übergabe muss stattfinden, koste es, was es wolle. Auf Zivilisten können wir keine Rücksicht nehmen.“
Aishe setzte sich auf das Sofa, zog ihre Knie herauf, umklammerte diese, dann versenkte sie das Gesicht zwischen ihren Schenkeln. „Wie stattfinden?“ Sie sah auf. „Kein Zugriff?“
„Nicht in Belgien. Die Alte hat neue Kunden in Russland. Die erste Transaktion findet in England statt. Sie wird dort sein“, krachend schlug wieder mal seine Faust in seine hohle Hand, „dann haben wir sie alle.“
Er ging einen Schritt auf sie zu, drückte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. „Pass du auf, dass die beiden Frauen der Scheune fernbleiben.“
Aishe wandte ihr Gesicht ab. „Ich weiß nicht, wo sie sind?“
„Dein Problem.“ Er stieß gegen ihre Schulter. „Mache dich an die Arbeit und“, er hob seine Faust, „sei rechtzeitig zurück.“ Er strich über ihre Wange. „Du willst ganz gewiss nicht deinen Transport nach London verpassen.“ – „Oder?“



Gequält im Frauenknast

„Wer bist du?“, zeterte sie.
Stephen starrte sie an. „Woher weißt du, dass ich hier bin“, erboste er sich und warf seine Reisetasche auf den Bartresen.
Sie glitt mit beiden Händen durch ihren Bubikopf. „In welch ein Lokal verirrt sich niemand?“
Die Schultern zuckend, öffnete er den Reißverschluss der Tasche. „Außer deinem Gatten“, ergänzte er ihre Aussage.
Die Finger der rechten Hand an ihrem Kinn, schritt Aishe näher an die Theke heran. „Wie bitte?“
Stephen öffnete die Kasse, holte ein paar Scheine heraus, stopfte diese in die Reisetasche und schwang den Arm im großen Bogen. „Wer glaubst du, hat mir den Job besorgt?“
Sie rümpfte ihre Nase und stotterte: „Du als …“
Er nickte. „Barmann. Was denkst du?“
Aishe schlug mit der Faust auf die Bar. „Wer bist du?“, wiederholte sie ihre Frage.
„Stephen Dohnhöfer, willst du meinen Ausweis sehen“, schnarrte er.
Tief einatmend, presste sie ihren Busen gegen den Tresen. „Spare dir das.“ Sie drückte ihren Zeigefinger an seine Brust. „Ich will wissen, warum du mich belogen hast? Eine Geschichte erzählt, welche nicht die deine ist. Wir haben nie gemeinsam in Göttingen studiert“, schnauzte sie ihn an.
Stephen ziepte den Reißverschluss zu. „Gut. Miss Marple du hast mich enttarnt und was ändert das? Nichts.“ Er zog seine dünnen Augenbrauen zusammen. „Vergangenheit! Ich habe andere Probleme.“
„Lüge bleibt lüge!“
Er schlug auf den Tresen und schrie: „Ich war im Knast! Ohne Schuld!“.

Aishe senkte ihren Kopf, schielte ihn an. „Erzähl?“
Er pumpte seinen Brustkorb auf. „Ein Bier?“
Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt, ich trinke nicht!“
Wortlos beugte er sich nieder, holte zwei Flaschen hervor, öffnete diese und zischte: „Lass den Muslima Scheiß. Ich weiß, dass du zechst“, dabei stellte er ein Bier ihr vor die Nase. „Alkoholfrei.“
Nachdem er aus dem Komma erwacht war, erzählt er, hätten sie ihn verhaftet und ihn des Mordes angeklagt. Die erste Zeit verbracht er im Männergefängnis. Nach dem Urteil verlegte sie ihn in einen Frauenknast.
„Wie bitte?“, unterbrach ihn Aishe.
Er lüpfte seine Perücke und faste sich zwischen die Schenkel. „Fragen?“
Die Zellengenossin schafft es, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren neu aufrollte, fuhr Stephen fort. Eine Frau sollte Anton nach Aussage eines Zeugen erschossen haben.
„So blind kann niemand sein?“
Er kam frei, fuhr er fort. Ein deutscher Beamter, Polizist oder Diplomat, genau konnte er es nicht mehr sagen, jener wäre der Ansicht gewesen, er solle sich erst einmal zurückziehen. In Südafrika bleiben, bis sich alles beruhige. Der Deutsche verschaffte ihm einen Studienplatz. Kurz vorm Examen meldete sich bei ihm ein Rechtsanwalt mit der Nachricht, er hätte Antons Farm geerbt. Das Anwesen war heruntergekommen, daher ging er nach Großbritannien. Rechtsanwälte in Europa verdienen besser, erklärte er ihr. Dann bekam er seine Stelle in Hamburg und lernte Josephine kennen. Sie glaubte, stellte Stephen fest, er sei Janets Freund aus Studientagen. Josephine lud daher Janet zu ihrer Windelparty ein. Er wusste nichts davon. Dafür wäre er Tanja begegnet.
„Sie hat mich sofort erkannt. Ich sie gleichermaßen.“
Er nahm einen Schluck Bier. „Sag! Nenn mir meine Fehler?“

Aishe Kopf kippte zur Seite. „Zu viele Lügen! Zumindest behauptest du nicht mehr, dass du auf Josephine Hochzeit warst.“ Sie stupste ihn an. „Weist, Janet hätte dich wie eine Trophäe herumgezeigt.“ Sie wandte ihm ihre rechte Schulter zu und schielte ihn an. „Apropos. Im Theater bekommt man sicher keinen Siegerpokal, dafür“, sie stellte sich auf ein Bein und spreizte die Arme, „wenn man einen Baum spielt. Nur dumm! Ich habe Janet nur eine oder zweimal in der Theatergruppe besucht, selbst nie mitgespielt. Sie hat es Josephine erzählt, mehr nicht. Ach ja, bevor ich es vergesse, Janet hatte einen Freund, der hieß Stephen. Das einzig weiblich, was er hatte, war die Rolle der Lady Grayle in Tod auf dem Nil.“ Aishe strich über Stephens Schulter. „Wer bist du?“
„Wie oft soll ich es dir sagen, Stephen Dohnhöfer.“
„Lügner! Du bist genauso wenig Stephen wie ich Mata Hari. Sage es mir? Ich bekomme es ohnehin heraus.“
„Oh! Willst du mir drohen.“
„Das habe ich nicht nötig. Es geht nicht um mich. Es geht um Klara.“
„Langsam sprichst du Tacheles. Du lässt deine Maske sinken. Ich weiß, ihr seid ein Paar. Das Klara Tanjas Identität geklaut hat. Glaubst du, sie hat es mir nicht erzählt.“
„Dann hau raus!“
Er schlug mit der Faust auf den Tresen. „Stephen ist seit vielen Jahren Tod. Ich habe ihn umgebracht. Es war sein Wille. Ihn sowie Tanja zu rächen, hat er mir als Erbe mitgeben.“
„Du bist ein Mörder und dreistest dich an, als dein Opfer zu leben!“
„Ich bin das Opfer. Nicht er. Tanja und ich hatten vor, ein neues Leben zu beginnen. Alle Qualen hatte ich längst hinter mir, dann ...“
Aishe kniff ihr linkes Auge zu. „Stirbt sie.“
„Gelyncht hat die Bande sie.“
„Es war ein Unfall?“
„Unfall? Wie naiv bist du? Sie wusste zu viel. Sie wurde beseitigt. Unsere einzige Chance sie zu überführen war, dass Stephen lebte. Als Köder hingelegt wie ein Zicklein, um das Löwenrudel anzulocken.“
„Wer ist sie?“
„Die Spinne in ihrem Netz!“
„Wir?“
„Gunnar Müller und ich.“
„Müller. Aber es war doch ein Unfall.“
„Kennst du ihn?“

Aishe winkte ab. „Ein Sammelbegriff, kein Name. Trotzdem war es ein Unfall.“
„Zuerst ja. Ich war mit dem Motorrad auf dem Weg zu Tanja.“
Sie stand am Weg, wollte unbedingt zu Anton. Sie hätte sich an den Lenker gesetzt, erzählte Stephen.
„Ich auf den Sozius. Sie raste wie der Teufel. Dann kam die Kurve. Sie schnitt diese. Obwohl sie dem Landrover ausgewichen war, stürzten sie den Abhang hinab und Tanja hing im Fels. Ich war unter dem Motorrad begraben; habe alles mitangesehen“, schmetterte er Aishe entgegen. „Doc sprang von der Ladefläche, zerrte den Fahrer aus dem Wagen und fuhr den Geländewagen an die Kante. Er band sich an das Seil der Winde. Dann ließ ihn der Fahrer hinab. Der Typ stand neben dem Wagen.“
Stephen breitete seine Arme aus. „Da sprang der Teufel von der Ladefläche, schlug den Mann mit einer Kiste nieder. Danach löste er die Handbremse.“
„Die Handbremse“, hallte Aishes Stimme.
„Gesehen habe ich es nicht. Wie kann sonst ein Wagen rollen?“
„Mit eingelegten Gang“, harkte Aishe hinter.
„Wenn der Motor läuft?“
„Davon hast du nichts gesagt.“
„Frauen und Technik.“ Er zeigte ihr einen Vogel. „Die Seilwinde!“
Aishe schlug an ihre Stirn. „Klar! Weiter.“
Stephen senkte sein Haupt. „Der Landrover stürzte in die Tiefe, riss Doc sowie Tanja in den Tod“. Er strich über seine Lippen. „Ein zweiter, ein gelber Geländewagen brauste herbei. Ein Priester stieg aus, lief zu ihr, nahm sie in die Arme.“

„Karl?“
„Ja! Dann fuhren sie fort.“ Er senkte den Kopf. „Ließen uns allein. Danach weiß ich nichts mehr.“ Die Augen geschlossen, wölbte er seine Unterlippe über die Oberlippe. „Im Krankenhaus erschien dann dieser Gunnar Müller. Er machte mir ein Angebot. Ein, zwei Wochen jemand anders sein, dann wäre ich frei. Nach zwei Jahren entließen sie mich.“ Er atmete tief aus. „Den Rest kennst du.“ Verstohlen blickte er zur Wanduhr hinter dem Tressen.
„Ich habe so viele Fragen“, gab Aishe zu verstehen.
„Nicht jetzt, ich muss los.“
„Triffst du dich mit Klara?“
„Das geht dich nichts an.“
Stephen schritt um den Tressen, ergriff ein graues auf einem Bügel hängendes Kostüm und betrachtete das Revers. Er nahm einen Lappen, feuchtete diesen an und rieb mit dem Tuch auf dem Stoff.
Aishe ging zu ihm, beugte sich über den Blazer, kratzte mit einem Fingernagel an einem Fleck, dann schnupperte sie an diesem. „Ist es das, für das ich es halte.“
„Und?“
„Damit kannst du nicht herumlaufen“. Sie lehnte ihren Kopf zur Seite und tuschierte seine Schulter. „Warte, ich habe etwas Sauberes im Wagen. Es müsste dir passen.“ Aishe strich über seinen Bauch, blinzelte und flüsterte: „Wenn du dein kleines Bäuchlein einziehst.“



Damenkränzchen im Tulpenland

„Einen weiteren Likör, die Damen?“
Klara presste ihre Lippen, schüttelte den Kopf. „Danke. Nein!“
„Für mich nicht“, gab Josephine zu verstehen.
Der Kellner strich über sein Revier und neigte sich den Damen zu. „Wenn sie etwas wünschen …“
„Dann melden wir uns“, wetterte Josephine und winkte ab.
Der Ober kehrte auf seinem Absatz um und schlich zum nächsten Tisch.
Klara dreht ihre goldfarbene Armbanduhr ums Handgelenk. „Wo bleibt deine Tanja?“
„Die kommt. Warte. Du siehst verboten aus.“
Sie griff in ihre orangerote Mähne. „Das trug ich damals.“
„Die Locken gehen ja, aber die Farbe, ätzend!“
Klara zupfte am Rock ihres schneeweißen, mit kleinen roten Rosen bedruckten Kleides und warf ihren Kopf zurück.
Josephine reckte den Hals, hob ihren rechten Arm und winkte. „Wenn man von Teufel spricht. Da kommt sie!“
Die linke Hand auf ihrem Oberschenkel wandte sich Klara um und drückte den rechten Ellenbogen auf die Rückenlehne des tiefschwarzen, ledernen Sessels. „Stephen?“
Josephine zwinkerte. „Ideale Besetzung für die Tanja. Meinst du nicht?“

„Tag die Damen.“
Josephine plusterte ihre Wangen, obendrein zeigte sie mit dem Zeigefinger auf ihn. „Wie siehst du den aus?“
Die Stirn gerunzelt, strich Stephen über seinen orange-schokoladenbraun karierten Kostümrock. „Ist elegant!“
„In den Siebzigern“, spöttelte Josephine.
Klara sah Stephen grimmig an, woraufhin er sein Gesicht abwandte und an ihr vorbei stöckelte. Er setzte sich wie eine feine Dame auf den dritten Clubsessel, stellte seine Handtasche auf den kniehohen Tisch und schaute abwechselnd von links nach rechts. „Da bin ich. Wie geht es weiter?“
Klara klopfte an ihre Schläfe und zischte „Josephine, bis du jetzt total verrückt“, während sie mit dem Absatz ihrer rechten rosenroten Sandalette gegen Stephens Sessel stieß.
„Kannst ihn gleich bei den Bullen abliefern!“
Stephen legte eine Strähne seiner sandgelben Langhaarperücke über sein rechtes Ohr. „Wie?“
Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte Klara Josephine an. „Viel erzählt hast du ihm nicht.“
„Das Nötigste.“
„Dass Tanja sterben wird wohl nicht!“
Josephine spitzte ihre Lippen und betrachtete die Decke des Foyers.
„Bitte erkläre es ihm“, wies Klara sie an.
„Tanja“, sie zeigte auf Stephen, „also du, du wirst entführt und ermordet.“ Sie streichelte Stephens Knie. „Wenn ich nicht wüsste, dass du ein Kerl bist, hielte ich dich glatt für Klaras Zwillingsschwester.“
Stephen drückte seine, mit schokoladenbrauner Farbe lackierten Nägeln, verzierten Finger auf seine orange bemalten Lippen. „Sterben“, presste er hervor, zog die Hand auf seine rechte Wange, legte die Linke auf die andere und wandte das Gesicht Klara zu. „Ich war der Ansicht, ihr wolltet deinen Entführer überführen?“
Josephine tippte an ihre Schläfe. „Quatsch! Da hast du mich falsch verstanden.“ Sie drehte die Spitze ihres Zeigefingers auf der Haut, als wäre sie in der Lage, ein Loch in ihre Schädeldecke zu bohren. „Eine Entführung inszenieren. Habe ich dir gesagt.“
Die Finger erneut auf seinen Lippen, beugte er sich zu Klara hinüber. „Aber, hast du mir nicht erzählt, er sei wieder da.“
Klara stützte ihr Kinn auf ihren Handballen ab. „Genau das macht die Gefahr aus.“
„Warum das Ganze?“
Sie verschränkte ihre Arme. „Ich habe es satt, Tanja zu spielen.“ Sie zupfte an ihrer Haarpracht. „Will wieder ich sein!“
Stephen rückte näher an sie heran. „Du hast einen Menschen ermordet. Musst dich dann zur Verantwortung …“
„War ein Unfall, das werde ich klären. Schlimmer ist es, dass ich die ganzen Jahre …“
Stephen schlug an seine Stirn und wandte sich Josephine zu. „Ich verstehe. Ihr seid genial.“
„Deswegen kannst du nicht die Tanja spielen“, warf Klara ein.
„Wieso?“
Klara presste ihre Ellenbogen auf die Seitenlehne des Sessels, legte ihre Wange auf die Handfläche und zischte: „Wenn werden die Bullen zuerst unter Verdacht nehmen. Hast du dann ein Alibi.“
Josephine grinste und winkte ab. „Lass mich das regeln. Ich habe keine Angst.“ Sie strich über Stephens Knie und schielte zu Klara, „Hauptsache du bist wieder frei!“
Stephen griff sich zwischen seine falschen Brüste. „Ich brauch was für den Magen.“
Beim herumschleichenden Kellner bestellte er sich einen Genever.
„Aber Tanja“, zischte Josephine. „Ein Pfefferminzlikör für die Dame, für mich …“ Der Ober betrachtete Klara. Sie hob das Glas, welches vor ihr auf dem Tisch stand. „Ingwer-Tee. Nein! Haben sie Malve-Tee?“
„Gewiss“, bestätigter der Kellner, dabei streckte er seinen Hals.
Josephine stand auf. „Ich lasse euch mal kurz allein.“ Sie überkreuzte ihre Beine, keuchte: „Ich muss mal“.
Daraufhin stöckelte sie dem Ober hinterher.

Klara erhob sich, schritt um den Tisch, setzte sich auf den Sessel, auf dem zuvor Josephine gesessen hatte.
„Was machst du hier?“, zischte sie ihn an. „Warum trägst du mein Kostüm?“
Stephen zupfte an der Kostümjacke. „Deins? Hat mir Aishe gegeben.“
Klara zog ihren Kopf zurück. „Wo? Wann hast du sie getroffen? Ich versuche, sie seit Tagen zu erreichen.“
„Gestern Abend in der Lola. Ich wollte gerade los.“
„Warum?“
„Sie hat herausbekommen, dass ich nicht der bin, für den ich mich ausgebe.“
„Scheiße!“
„Das kannst wohl sagen.“ Er schüttelte seinen Kopf und schürzte seine Lippen. „Ich bin nicht doof. Etwas musste ich ihr preisgeben, aber nichts, was unserem Plan gefährdet.“
„Das entschuldigt nicht die Tatsache, dass du hier bist.“
„Josephine hatte mich angerufen. Ihre Tanja sei auf unbekannte Weise vakant“, gab er preist, wobei ein süffisantes Lächeln über seine Lippen hüpfte.
„Da springst du sofort ein?“
„Wie sollen wir ohne eine Tanja ..?“
„Ja. Ich gebe dir recht. Jedoch du bleibst im Hintergrund, denn für dich ist die Gefahr zu groß.“
Stephen richtete seinen Oberkörper auf. „Ich schaffe das schon. Josephine ist der Ansicht, ich sei ein guter“, er malte Anführungszeichen in die Luft, „Schauspieler.“ Er strich über seinen Bauch, zog den Bund seines Kostümrocks zurecht.
Erst in diesem Moment registrierte Klara seine Taille.
„Bist du verrückt geworden?“
„Weshalb?“
„Hat dich Josephine ..?“
„Diese Josephine hat zwar kein Herz, ist aber weder blind noch blöd.“
„Du bist wahnsinnig. Du spielst mit dem Teufel.“
Stephen griente. „Schauspieler.“
„Gut!“ Klara grinste. „Perfekt. Da stimme ich dir zu.“ Sie beugte sich zu ihm. „Zwillingsschwester!“ Die Arme verschränkt, lehnte sie sich zurück. „Im Kostüm trage ich mein Haar nie offen.“
„Machst du wohl!“
„Mache ich nicht.“
Stephen öffnete seine Handtasche, zauberte einen Haarkamm hervor und steckte sein falsches Haar hoch. „Besser?“
„Zu viel Rouge!“
Er kramte einen Handspiegel aus der Tasche, hielt diesen vor sein Gesicht. „Meinst?“
„Ich habe einen größeren Busen“, konterte Klara, unterdessen starrte sie auf seiner Henkeltasche und er senkte sein Kopf. „Es gab Zeiten, da warst du neidisch.“
Klara kicherte, dann flüsterte sie: „Hättest mich mindestens vorwarnen können. Ich hätte dir Tipps gegeben.“
„Was für Tipps willst du mir geben? Wir sind eben ein gutes Team. Waren wir schon immer.“
„Hör auf. Lass die Vergangenheit ruhen, schau auf das morgen.“
„Warum hast du mich dann geheiratet?“
„Das wollte ich nicht, das weißt du. War Bärbels Idee.“
„Aber sie war doch dagegen.“
„Am Anfang nicht“, sie schlug auf ihren Oberschenkel. „Sie hat gesagt, ich solle heiraten, wusste nicht einmal wen. Egal! Sage mir lieber endlich, warum du so lange verschwunden warst.“
„Gunnars Schuld!“
„Welcher Gunnar?“
„Ich dachte immer, er stünde auf meiner Seite, aber seit …“
„Welcher Gunnar?“
„Gunnar Müller!“
„So ein kleiner Schmieriger, der immer auf verständnisvoll tut?“
„Das beschreibt ihn!“ Stephen hob seine Augenbrauen. „Woher kennst du ihn?“
„War ein Kumpel von Anton. Ging damals auf der Farm ein sowie aus. Erwähne diesen Namen nie wieder. Zu niemanden. Wir sollten die Sache abblasen.“
„Was ist mit unserer Rache. Sollte Josephine nicht genauso leiden.“
„Ja.“
„Deswegen willst du dich stellen. Einfach einen Schlussstrich ziehen. Mord verjährt nicht.“
Klara ballte eine Faust. „Es war kein Mord, ein Unfall.“
„Wen willst du das erzählen? Ohne Beweise.“
„Ich habe einen Zeugen“, klärte ihn Klara auf.
„Auf einmal?“
„Ich habe dir doch gesagt, ich kannte den Typen im Geländewagen, konnte sein Bild jedoch niemanden zuordnen.“
Stephen verdrehte seine Augen. „Du und dein Gedächtnis. Brachtest schon immer alles durcheinander.“
„Dreizehn Jahre sind seitdem vergangen.“
„Und?“
„Und was?“
Stephen lachte. „Wer ist es? Hast in zufällig beim Einkaufen getroffen.“
„Nein! Du musst ihn kennen.“ Klara lächelte. „Joos van Düwen.“
Stephen senkte den Blick. „Sehr witzig.“ Er wedelte vor seinem Gesicht. „Vergiss es.“
Klara zuckte mit den Schultern. „Warum? Ich glaube nicht, dass er dir Probleme bereitet.“
„Die Zeit ist noch nicht reif, erst Josephine, dann Joos. Ist das klar!“
Klara schwang ihren Kopf. „Okay. Trotzdem ist es für dich zu gefährlich. Mir wäre es liebe, wenn Tanja …“
„Du bist Tanja.“
„Die echte.“
„Ein Geist kann keine Rolle übernehmen.“
„Ich werde es dir beweisen“, zischte Klara, während sie ihre Arme verschränkte.
Stephen spreizte seine Beine, soweit es der enge Rock zuließ, und strich über sein Knie. „Außer uns Fridolin und Anton war niemand dabei gewesen. Die Geschichte mit dieser Tanja ...“ Stephen winkte ab.
„Sei nicht gereizt. Zum letzten Mal! Ich bedauere es, dass ich es in Stich gelassen habe. Immerhin habe jahrelang nach deinem Kind gesucht.“
„Klara, du bist krank.“
Klara tippte an ihre Schläfe. „Der einzige, der krank im Geiste war, war Anton sowie sein Kumpel dieser Ommo. Die mit ihrer Verschwörungstheorie.“
„War es etwa Zufall, dass wir uns bei Josephines Party wiedergesehen? Nein! Mein Plan funktioniert.“
Klara öffnete ihre Handtasche. „Apropos funktioniert. Ich dachte mir, sicher ist sicher. Ich war im Konsulat und habe meinen Pass verlängert.“
Sie reichte ihm das Dokument. „Der Name ist zwar nicht mehr korrekt, aber …“
„Danke. Ich werde ihn zwar nicht benötigen, aber das Vertrauen, welches du mir schenkst … mache dir keine Sorgen, wir sind nicht allein. Wir haben …“
Klara regte den Hals. „Jetzt nicht! Josephine kommt zurück.“

Gefolgt vom Kellner schritt Josephine an den Tisch. Der Ober stellte die Getränke ab. Sie setzte sich auf den Platz, auf dem vor ihrem Weggang Klara gesessen hatte.
Sie klatschte in die Hände und triumphierte: „Alles geregelt!“, dabei blinzelte sie Stephen zu. „Du wirst ein Alibi haben.“
„Wie?“, fragte Klara.
Josephine legte ihren rechten Zeigefinger auf ihre tiefroten Lippen. „Abwarten!“
Stephen hob die Schultern. „Wie geht es weiter?“
Josephine öffnete ihre Handtasche. „Zuerst machen wir aus dir Tanja.“ Sie holte einen Siegelring hervor, steckte diesen auf seinen rechten Ringfinger. „Den hat Tanja getragen“, sie schüttelte ihren Kopf, „nicht den, den habe ich nachmachen lassen.“
„Ein Affe, der sich den Mund zuhält“, murmelte Stephen.
Josephine wackelte mit ihrem Ringfinger. „Wo ist deiner Tanja Schatz“ – „Entschuldige Klara!“
Klara entnahm einen dritten Ring, auf dem ein Affe sich die Ohren zuhielt, ihrer Handtasche und steckte ihn an.
Josephine legte Stephens beringte Hand auf die ihre und sah Klara auffordernd an. Nachdem Klara ihre Hand auf Stephens gelegt hatte, hob und senkte Josephine ihren rechten Arm.
„Schwestern“, begann sie. „Schwestern“, Klara stimmte mit ein. „Schwestern“. Murmelte Stephen unisono mit den Frauen. „Schwestern für immer.“
Josephine warf sich zurück in ihren Sessel, dabei lachte sie süffisant. „Das witzige Tanja“, sie sah Stephen in die Augen, „wir“, ihr Blick wanderte zu Klara, „sind wahre Schwestern.“

Klara verspürte einen Brechreiz. Sie kannte diese Josephine gut genug, um zu wissen, wann sie log. Hoffte dabei inständig, dass alles nach Plan verliefe.
Josephine faltete ihre Hände wie zum Gebet. „Ach, Klara Engelchen, Hauptsache wir hatten Spaß. Ich habe dir verziehen, dass du unseren Vater ermordet hast.“ Lächelnd strich sie über Stephens Rock. „Wir mein Schätzchen, gehen erst einmal shoppen.“ Sie zupfte am Stoff. „So kannst du nicht herumlaufen.“
„Klara kommst du mit?“, fragte er sie, die erneut sich streckte, dabei winkte.
„Nein!“
„Wieder die Schnepfe aus dem Restaurant!“
„Meine Sache“, schnaufte Klara, schnappte ihre geldbörsengroße, rosenrote Handtasche und hing den Riemen über ihre Schultern. „Mädels wir sehen uns zum Abendessen!“
„So! Ich bring dich jetzt in deine Pension.“
„Ich dachte“, Stephens Blick wanderte durch das Foyer.
„Wäre zu auffällig. Apropos! Ich habe den Plan ein wenig abgeändert.“ Sie tippte auf ihr Brustbein. „Ich nehme die Alina.“, sie stand auf, öffnete Stephens Frisur. „Offene Haare stehen dir besser! Du schnappst dir Klaras Balg. Kommt dir entgegen. Oder?“
Stephen ergriff seine Handtasche, stand auf und hing deren Griff über seine Armbeuge. „Josephine du denkst an alles.“



In Mutters Armen

Svenja stand, die Arme weit ab vom Körper gestreckt, wie Rose Dewitt Bukater alias Kate Winslet im Film Titanic, am Bug. Ihr, schulterlanges currygelbes Haar flatterte synchron mit ihrem lichtgrünen Minirock im Rhythmus der Mastflagge. Ihre silbernen Armreifen läuteten beim Senken ihrer Unterarme wie Schiffsglocken.

Sie zog ihr Haargummi vom Handgelenk, band sich einen Pferdeschwanz und holte das Fock ein.
„Ey ey, Kapitänin“, salutierte Tami, dann rümpfte sie die Nase und griff an ihre Schwimmweste. „Warum muss ich das Ding tragen und du hüpfst so über Bord?“
Svenja richtete ihr opalgrünes Bikinioberteil, sprang zum Ruder, kniete nieder und gab ihrer Freundin erst eine Kopfnuss, dann einen Kuss auf die Wange. „Weil ich nicht immer über Bord gehe.“ Sie umschlang Tamis Hals und gab ihr ein Kuss auf den Mund. Sodann wies sie zum Bug und befahl in einer Tonlage, die James Cook auf seiner HMS Endeavour verzückt hätte:
„Bootsmann Hauptsegel einholen! In den Hafen fahren wir mit Motorkraft.“

Sie genoss das Glotzen der Männer, das Pfeifen, beim Entlangstolzieren auf dem Anleger, welches eher Tami galt. Das Klackern ihrer Absätze, das ihr Erscheinen ankündigte, vergnügte sie.
„Wo ist Olgas Ferienhaus?“. Svenja blieb stehen, streckte ihren Hals und schaute zum Himmel. „Pardon! Das Haus deiner Mutter.“
„Ich habe mich tausendmal entschuldigt. Hey! Ich habe es Klara geschworen. Sie ist meine Schwester.“
„Meine Schwester!“
„Geht nicht! Sie heißt Klara Weber und hat meine Mutter Maria genannt.“ Tami tippte an ihre Schläfe. „Da stimmt etwas nicht.“
Svenja verschränkte ihre Arme. „Deshalb belügst du mich.“
„Echt ehrlich warst auch nicht.“
Den Blick zum Boden gewandt, kratzte Svenja mit der Spitze ihres Schuhes über den Asphalt. „Wir wissen beide nichts.“
Tami nahm sie in die Arme. „Sind halt zwei dumme Mädchen.“ Sie zwinkerte Svenja zu. „Bleibt aber unter uns!“
„Dann passen wir gut zusammen, Schwester. Wo lang?“
„Gleich die erste Links“, antwortete Tami, derweil reichte sie Svenja ein Top. „Komm, zieh über. Zu viel aufsehen wollen wir nicht …“ Der Rest des Satzes blubberte in Tamis Oberteil.
Svenja blickte an sich hinab, sah zur Freundin. „Von wir, kann keine Rede sein!“

„Kinder, bin ich froh, euch wiederzusehen. Farbe habt ihr bekommen.“ Klara löste die Umarmung. „Wo sind eure Sachen?“
„Auf der Sophia“, antwortete Svenja.
„Gut!“ Klara wandte sich an Tami. „Gehe zum Boot, hole deine Sachen, danach gehst du zum Eiscafé am Ende der Promenade. Du wirst erwartet.“
„Ich dachte …“, begann Tami.
„Ihr seid zu spät. Ich nicht!“
Svenja umarmte ihre Freundin und Klara schloss, nachdem diese gegangen war, die Tür.
„Wer bist du?“, fragte Svenja ohne Umschweife.

„Klara Weber, geboren am 10.4.1978 in Emden. Tochter von Maria Weber. Vater bis vor Kurzem unbekannt. Abgebrochene Ausbildung als Krankenschwester in Durban Südafrika und Mörderin.“
Wie oft hatte sie diesen Spruch geübt, immer in der Angst entdeckt zu werden, in einem Polizeirevier zu stehen, ihre Aussage zu machen. Nie hätte sie sich vorgestellt, ihr die Worte ungefiltert an den Kopf zu werfen. Sachte, mit Vorsicht, wie eine Mutter ihr alles zu erklären, hatte sie sich vorgenommen. In einer ruhigen Stunde bei geblähten Segeln auf den Weg nach Ailsa Craig, dem Ort, an dem alles Vergangene hinweggespült wird – frei für die Zukunft.
Sie stand vor ihr, starrte sie an. Kein Zucken in ihrem Gesicht. Die Arme schlaff am Laib.
„Ich?“
„Antonia Weber alias Svenja Fiete Sengbein alias Sven-Fiete Sengbein geboren am 11.07.2000 um 18:01 Uhr einhundert Kilometer nördlich von Durban. Vater bis vor Kurzen unbekannt und“, sie schloss die Augen, „meine Tochter.“

Tränen quollen ihr aus den Augen, rannen über ihre Wangen. Svenja nahm sie in die Arme, umgriff mit ihren Händen Klaras Taille und drückte ihren Kopf an ihre Schulter. Klaras Finger strichen durch das Haar ihrer Tochter. Sie presste Svenjas feuchtes Gesicht an ihre Brust und beide weinten. Klara schloss ihre Augen. Warum hörte sie nicht mit diesem Lügen auf?



Luise oder Lotte

Klara hielt Svenjas Hand und quetschte ihr Gesäß tiefer in die Sitzfläche des Sofas.
„Warum?“
„Ich habe einen Menschen umgebracht!“
„Deswegen verleugnest du dein eigenes Kind. Wen?“
„Deinen Großvater, meinen Vater!“
Klaras Lippen bebten. Es war das erste Mal, dass sie ihn derart nannte.
„Wer war er? Warum?“
„Anton.“
„Welcher Anton?“
Klara biss auf ihre Unterlippe. „Franziskas Ex-Mann!“
Svenja riss die Augen auf und verhüllte ihren Mund mit beiden Händen.
Ihr Gesichtsausdruck sprach für Klara Bände. Sie strich durch das Svenjas Haar.
„Mach dir keine Sorgen!“
Svenja zog den Kopf zurück, spitzte den Mund. „Ich mich Sorgen. Weswegen?“
„Ich mag ihn nicht. War auch mal jung, habe meine Erfahrungen gesammelt.“ – „Ich lese deine Gedanken. Er ist nicht mit uns verwandt.“ – „Vale ist der Vater deines Schatzes.“
Svenja atmete aus, sank zusammen.
„Zumindest erwidert er deine Gefühle, das war bei meiner ersten Liebe anders – Milina hieß sie.“

Sie streichelte Svenjas gerötete Wangen. „Es war ein Unfall.“
Sie war sauer auf Anton, begann sie zu erzählen. Versetzt hätte er sie. Sie stürmte in sein Haus.
Dieser Wechsel der Gefühle in der Schwangerschaft hätte die Schuld gehabt, rechtfertigte sie ihre Tat ihr. Klara senkte ihren Blick. Ihre Tat? Sie trug die Last der Schuld auf ihren Schultern, dem war so. Jedoch? Es spielte keine Rolle, welcher Zeigefinger sich gekrümmt hatte.
Seine Schrotflinte hätte angelehnt an der Zimmerwand gestanden, fuhr sie fort. Seine Waffen waren nie geladen, es sei denn, er ging auf die Jagd. Erst seine Reaktion, nachdem sie den Lauf auf ihn gerichtet hätte, ließen sie zweifeln. Dann spürte sie einen Schmerz am Hinterkopf.
Die Presswehen hätten sie wieder zu Bewusstsein gebracht, schilderte sie ihr ohne Pathos. Sie saß oder lag in einem Jeep, Bärbel hielt ihr die Hand, tupfte ihre Stirn. Karl lenkte den Wagen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz deponiert war diese Schrotflinte. Die Schmerzen waren grauenhaft. Erst als sie auf einem Parkplatz ihr Kind in die Arme nahm, war aller Schmerz wie weggeblasen, unendliche Liebe und Sehnsucht umhüllte sie.
„Ich verstehe nicht“, flüsterte Svenja.
„Ich weiß nicht mehr, ob sie mir das mit den Unfällen bereits im Auto oder erst in der Klinik erzählt hatten.“ – „Die Folgen dieselben.“
„Unfälle?“
„Der Schuss, der Autounfall von Doc sowie Sophia alles am selben Tag.“

Von Tanja und Stephen erzählte sie erst einmal nichts. Sie hatte vor, Svenja Schritt für Schritt einzuführen. Sie führen, damit sie verstand. Die Wahrheit in Gänze ihr vor die Füße zu legen, für ein Mädchen in ihrem Alter zu monströs. Denn sie selbst kannte nicht mehr als die sprichwörtliche Spitze des Eisberges und dieses, war sogar für eine Frau in ihrem Alter erschlagend. Was ging es Svenja an, wozu sollte sie das Kind damit belasten. Es war ihre Vergangenheit, jene sie zu ertragen hatte.
Sie holte aus, spann einen Bogen. Bärbel, Doc sowie seine Tochter wollten am Folgetag zurück nach Deutschland. Die Koffer wären gepackt gewesen, die Flugscheine parat. Karl kam auf die Idee. Besser ein schwarzes Schaf retten, für die Verstorbenen beten, als es zu opfern.
Klara drückte Svenja Kopf an ihre Brust. „Ich muss zu meiner Schande sagen, ich wollte dich am Anfang nicht. Du warst kein Wunschkind. Dein Lächeln hatte mich überzeugt. Ich würde dich nie abgeben.“
„Weggeben? Ich bin hier.“
„Meine Freundin hatte kurz vorher entbunden. Es war ein Frühchen“, flüsterte Klara. „Ich weiß nicht wie, aber Karl hatte für dich, wie er sagte, eine gute Familie gefunden.“
Es wäre spät am Abend gewesen, fing sie den Faden erneut auf, da erschien die Schwester in ihrem Zimmer. Sie kannten sich nicht. Sie könne Fine holen, gab sie ihr zu verstehen.

„Fine?“
„Der Name von“, sie stockte, um zu überlegen, „dem Kind meiner Freundin. Ich bin hinüber, habe die Bändchen getaucht – ihr saht euch so ähnlich, dann habe ich Fine in dein Bettchen gelegt und bin zurück. Kurz danach kam Karl. Wir sollten früh zum Flughafen, damit nicht etwas schiefging.“ – „Es wirkte alles geplant. Natürlich Blödsinn. Bärbel gab sich als ihre Schwester aus, sogar ein Visum war in ihrem Pass vermerkt. Ich hielt Tanjas Dokument in den Händen.“
„Visum?“, murmelte Svenja.
„Sven-Fiete! Die Sophia hatte ein paar Monate vorher einen Jungen zur Welt gebracht. Er hat nicht lange gelebt, war schwerst behindert.“
Klara biss auf ihre Unterlippe. Das Lügen einzustellen, hatte sie sich vorgenommen, aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.

Svenja richtete sich auf. „Bärbel ist Sophia.“
Klara strich ihr durchs Haar. „Wie kommst du auf diesen Blödsinn. Ich kenne Bärbel, kannte Sophia. Sie war Ärztin und ich Lehrschwester. Na ja, sie waren Zwillinge aber“, sie räusperte sich, „zweieiig.“
Der letzte Satz war eine Hypothese, dessen war sie sich bewusst, dennoch erklärte diese einiges, obwohl sie von der Logik ein Irrweg bedeutete.
Klara senkte ihre Augenlider. Es gab Situationen, in denen sie annahm, Tanja wäre ihre Zwillingsschwester. Eine Fantasie, die gleichfalls verwegen war. Gut! Wenn sie beide in Kindertagen vor dem Spiegel standen, ihre Haare zurückzogen, bis die Stirn befreit war. Wenn sie sich ihre von Kuchen und Schokolade aufgedunsenen Wangen im Gedanken eliminierte, sowie ihre Pickel mit Schminke verdeckte, dann schlüpften sie in gleiche Kleider und waren Luise und Lotte. Es war ihr Spiel.
Dass sich aber Josephine auf dem Reiterhof zwischen sie drängte, das dritte verloren Mädchen mimte, erzürnte Klara. Die Analogien verblüfften sie, dies wohl, obwohl diese Josephine keinen Buckel auf der Nase hatte. Dafür glichen ihre Augen der einer Katze.
Mit ihrem heutigen Wissen erklärte es sich, wenn, ja wenn Anton ihr gemeinsamer Erzeuger war. Svenjas Stimme holte sie aus den Gedanken.

„Ich habe die Fotos gesehen!“
„Ich kenne die Bilder. Gleichaltrige Mädchen in den gleichen Kleidern zum Verwechseln ähnlich“, erboste sich Klara.
Klara blickte auf ihre Armbanduhr und murmelte: „Ach, schon so spät“. Sie stand auf und eilte aus dem Raum.
Kurze Zeit später erschien sie mit einem Kuchen, auf den Kerzen flackerten.
„Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday my Svenja“, sang sie und stellte den Kuchen auf den Wohnzimmertisch.
„Ich hatte bereits Geburtstag.“
Klara schaute auf ihre Uhr und schwang mit ihrem Zeigefinger. „Jetzt! 18 Uhr und eine Minute.“ Sie nahm Svenja in die Arme. „Alles Gute zum Dreizehnten! Heute vor dreizehn Jahren bist du geboren.“
„Habe ich jetzt zweimal Geburtstag?“
Klara lachte. „Wenn du möchtest?“
„Doppelt Geschenke?“
„Auch dies. Puste die Kerzen aus. Wünsch dir was. Du weißt, ich kann nicht kochen und backen. Sollte Rührkuchen werden.“
„Sieht aus wie Pfannkuchen!“ Svenja holte tief Luft, dann blies sie alle dreizehn Kerzen mit einem Zug aus.

Klara stellte Svenjas Sandaletten beiseite, zog einen Karton hervor und öffnetet den Deckel. „Tami hat mir gesagt, dass deiner über Bord gegangen ist. War nicht einfach, einen zu bekommen.“
Svenja zog ihren Mundwinkel empor und entblößte dabei Zähne. Sie legte das Geschenk an ihre Handtasche. „Passt!“
„Mach auf?“
Sie klappte den Rucksack auf, steckte die Hand herein, holte eine Spritze hervor und hielt sich diese vor die Nase.
Klara buffte sie an. „An welchen Tag hatten wir vor, bei Alisa Craig zu ankern. Was wolltest du dort, außer unter den Bug zu tauchen?“ – „Ich habe eine Frauenärztin ausgemacht, die gibt dir regelmäßig die Spritze, bis sie dich auf den Pen umstellen kann. Alina kommt bestimmt mit.“
Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Ist Alina in Frankreich?“
Klara kniff ein Auge zu. „Wie?“
„Ja! Das Mädcheninternat? Zumindest war die Betätigung auf Französisch.“
„Welcher Brief, welche Bestätigung.“ Sie fuhr durch Svenjas Haar. „Ich weiß nicht, was in deinem Kopf los ist. In Alinas Internat habe ich dich angemeldet. Direkt am See mit eigenem Segelklub. Wie du es gefordert hast.“ Klara nahm ihr die Spritze ab. „Komm, dreh dich auf die Seite.“ Sie schob den Minirock herauf. „Ein Rock hat Vorteile.“ Ihre Zunge über die Lippen fahrend, berührte sie mit der Nadelspitze Svenjas Haut.
Svenja hob ihre Augenbrauen. „Kannst du das?“
„Habe ich gelernt.“
„Wirklich?“
„Ja! Willst du?“
Svenja schloss die Augen und hauchte: „Ja!“ Dann presste sie ihre Lippen zusammen.
„Dann bleibt ab jetzt alles unter uns. Zu niemanden ein Wort“, forderte Klara sie auf und stach zu.
Svenjas Glieder erschlafften in Sekundenschnelle.



Ringtausch

„Wohin gehen wir?“ – „Außerdem bin ich müde!“
„Wart ab!“
„Warum sollte ich aus dem Fenster klettern?“
„Durch die Haustür hätte Klara es mitbekommen.“
Svenja blieb stehen. „Sie ist meine Mutter!“
„Dann hast jetzt zwei!“ Tami zerrte sie am Oberarm. „Sie scheint verrückt, aber ihre Schilderung klingt logisch!“
Den Kopf zurückgezogen, überkreuzte Svenja die Arme und legte ihre Hände auf ihre Schultern.
„Welche Geschichte?“
Tami wies auf eine Parkbank. Svenja setzte sich, zog ihr Beine auf die Sitzfläche und umringte ihre Knie. „Mir ist kalt!“
Ihre Freundin nahm neben ihr Platz und legte ihren Arm um Svenjas Schultern.
„Also“, hauchte Tami, „die Frau behauptete, Tanja zu sein.“
„Die ist tot!“
„Sie wirkte auf mich munter!“ Tami kicherte. „Vielleicht ist sie ein Zombie. Hat etwas von einer Mumie.“ Sie hob die Schultern. „Krass!“
Tami berichtete Svenja, dass diese Tanja was mit dem Stephen gehabt hätte.
„Dem Mann deiner Mutter!“, untermauerte sie ihre Aussage und biss auf ihre Lippe. „Sie sagte, dass sie mit ihrem Vater und ihrer Tochter zurück nach Deutschland wollte.“
„Von wo?“
„Südafrika!“ – „Na ja, ihr Vater war es nicht. Nicht der Mann, der sie gezeugt hat. Das hatte sie erst kurz zuvor erfahren.“ Sie streifte ihr nicht mehr vorhandenes langes Haar übers Ohr. „Sie hat gesagt, sie sei zu ihrem Erzeuger, hätte ihm mit einer Knarre bedroht.“
„Ihn erschossen?“

Svenja erkannte die Geschichte, nur dass Klara ihr das Verbrechen gestanden hatte.
„Nein. Sie ist dann weg.“ – „Packen oder so.“ – „Jedenfalls wollte sie ihr Kind holen.“ Tami kratzte sich an der Schläfe. „Sie hatte einen Unfall. War im Krankenhaus, wollte zu ihrer Tochter.“ – „Die war weg, verschwunden.“ Sie zippte an ihren Zähnen. „Dafür wurde sie von der Polizei abgeholt, die sie beschuldigten, ihren Vater umgebracht zu haben.“
„Ihren Vater?“
„Den anderen!“
„Hieß er Anton?“
„Ja! So hatte sie ihn genannt!“
Tami brauchte nicht weiterzuerzählen. Svenja zählte eins mit eins zusammen, berichtete ihrer Freundin, was sie von Klara erfahren hatte.
„Dann bist ihre Tochter!“
„Nein! Tanja“, sie schüttelte den Kopf, „Klara hat uns vertauscht.“ – „Ihr Kind ist bei irgendeiner anderen Familie.“
„Aussage gegen Aussage!“, raunte Tami.
Svenja lehnte sich zurück, verschränkte ihre Arme. „Warum meldet sie sich erst jetzt?“
„Sie war im Gefängnis, dann musste sie sich verstecken.“ - „Eher verbergen. So’ne Art Zeugenschutz. Vielleicht hat sie etwas gesehen.“ Tami fuchtelte mit ihren Händen. „Eine andere Identität hatte sie angenommen, sogar studiert. Jura oder so.“ Sie schnippte. „Heiraten möchte sie. Hat einen Freund.“ Sie senkte den Kopf. „Vorher sollst du aber an einem sichern Ort, wie sie sagte, damit ihr euch kennenlernen könnt.“ Sie lachte. „In ein Internat in Belgien will sie dich bringen!“

Belgien? Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. Der Brief auf Französisch, schoss ihr durch den Kopf, der Ausweis. Es ging um kein Erbe. Diese Frau sowie der Admiral steckten unter einer Decke. Der Alarm Klaras erklang wie ein Orakel. Zwei Gruppen kämpften um dasselbe Kind. Die Fremde und der Admiral zerrten auf der einen Seite an ihr, Klara und Stephen an der anderen.
Falsch! Der Admiral, ihre Tochter und Stephen traten gen Klara an. Deswegen wollte sie die Hochzeit platzen lassen. Nein! Sie sollte, sie musste Nein sagen. Stephen erkannte, dass sie nicht Tanja war, dafür eine Tochter an ihrer Seite hatte. Diese seine war. Daher das Geschäker von ihm, welches sie einerseits abgelehnt, anderseits genossen hatte. War Blut im Übertragenen gar dicker als Wasser? Gab es ein Band, jenes in seiner Magie Blutsverwandte verband? Lehnte sie nicht das mütterliche Gehabe ihrer angeblichen Schwester ab? Abstruse Gedanken überfielen sie, welche sie auf einen Abweg zerrten.
Svenja hob die Nase. „Woher will sie das alles wissen, wenn sie jahrelang in Südafrika war?“
„Von ihrem Freund, dem Stephen!“ – „Sie hat es mir zwar nicht direkt gesagt, aber ich denk, er ist es!“ Sie nahm Svenjas Hand. „Denk wie’ne Frau.“

Das tat sie. Sie stellte sich vor, ein Kind zu gebären, welches ihr jemand abnahm und dieser dann den Kindsvater heiratete, den sie liebte. Den sie liebte, wie … sie empfing einen Brechreiz.
Tami schien ihre Gedanken zu lesen. „Genau! Dein Freund wäre dein Onkel.“ – „Krass!“
„Nie!“, schrie Svenja. „Du bist meine Tante!“
Sie nahm Tami in die Arme. „Du spinnst.“– „Hat dich Tanja“, ihre Freundin verdrehte die Augen, „Klara nicht weggeschickt?“
„Zu dieser Frau. Genau!“ Sie leckte über ihre Lippen. „Sie hat aber nicht mich, sondern dich erwartet!“
Svenja zeigte ihr einen Vogel. „Dann kennt K L A R A sie.“
„Nicht sie sollte dich in Empfang nehmen, sondern ihre Freundin.“
Svenja zog ihren linken Mundwinkel empor.
Die Augen aufgerissen, hob Tami ihre Hände. „Für das Treffen!“
„Treffen?“
„Hat dir Klara nichts gesagt.“
„Ich war müde!“– „Vielleicht wegen der Spritze.“
„Spritze?“
„Meine erste Hormonspritze.“
Tami lächelte. „Merkst du schon was!“
„Wie?“
„Ein Ziepen in der Brust oder so“– „Ich hatte immer Brustschmerzen.“
Svenja presste ihre Lippen zusammen und stieß Tami gegen ihre Taille. „Das Treffen?“
„Die Drei kennen sich von früher. So eine Art Klassentreffen auf einem Reiterhof.“
Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Reiterhof?“

Der Brief mit dem Wasserschaden in der Unterkunft verlangte, in baufälliger Pension mit Tochter zu übernachten, kam ihr wieder in den Sinn. Sie war allein. Ihre vor Kurzem gefundene Mutter löste ihre Umarmung und stellte sich in die Gruppe, die Admiral, ihrer Tochter und Stephen bildeten. War das Gerede von den vertauschten Kindern einzig zu ihrem Beruhigen über Klaras Lippen gesprudelt? Sie zu Anfang in Sicherheit zu wiegen, um sie später zu übergeben. Ihrer wahren Mutter in den Schoß zu legen. Sie als Antonia zu verkaufen. Der Admiral ohne Zweifel ihre Tante und es an der Zeit, das unliebsame Kind abzuschieben, als Tochter der Nichte auszugeben. Ihr Puls raste, ihr Herz klopfte. Der Drang, den Anker zu hieven und mit der Sophia wieder in See zu stechen, überkam sie.
„Mit ihren Kindern ihn wiederzusehen“, holte sie Tami aus den Gedanken.
„Wen?“
Tami verdrehte die Augen und boxte ihr in die Seite. „Hörst nicht zu. Den Kerl!“
„Spreche Deutsch.“
„Da muss vor Jahren etwas vorgefallen sein.“ Tami zuckte mit den Achseln. „Jedenfalls will der Typ, dass sie mit ihren Töchtern erscheinen. Klara, Tanja und Josephine. Die wollen alles wieder richtigstellen, oder so ähnlich. Hat sie gesagt.“
„Josephine?“
„So hat sie die Freundin genannt.“

Svenja erzählt ihr, was sie von Josephine wusste, von der Hochzeit und dass ihre Großmutter Nachbarin der Tütkens waren.
„Aber die hat keine Tochter, nur einen Sohn zwei, drei Jahre alt“, vervollständigte sie ihren Bericht.
„Die Tanja hat was anderes vermutet, wegen der Geburtsurkunde. Die Tochter soll in Belgien geboren sein, lebt jetzt bei Adoptiveltern und die Großeltern von der Josephine wohnen in Belgien. Van Düwen oder so.“

Belgien! Immer dieses Belgien geisterte durch Svenjas Kopf. Reiterhof in Belgien, Internat in Belgien, Franziska hat mit ihrem Anton in Belgien …
„Wie heißt sie?“
„Josephine! Habe ich grad gesagt.“
„Die Tochter?“
„Alina.“
„Mensch. Matthias' Schwester heißt Alina und wurde adoptiert.“
„Krass!“
„Alles gelogen“, schrie Svenja.
„Was?“
„Nicht deine Mutter hat Anton umgebracht, sondern Josephine!“
„Meine Mutter hat wen umgebracht?“
„Verstehst du nicht! Die Geburtsurkunde! Du bist Antonia Weber!“
„Äah?“
„Deine Mutter ist Klara. Der Admiral geht davon aus, sie hat Anton erschossen und ihre Nichte ist tot. Sie gibt Klara als Tanja aus, da du bei deiner Großmutter lebst. Josephine bewusst, dass sie zur Rechenschaft gezogen wird, bringt ihr Kind zu den Großeltern, die es zur Adoption freigeben. Nicht zu Fremden, sondern in die Hände ihrer Haushälterin.“
Svenja zog ihren Mundwinkel herauf und zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Ich bin aber nicht Klaras Tochter.“
„Weist das?“
„Nach deiner Logik wäre die Frau, mit der ich gesprochen habe, deine Mutter.“
„Tanja ist tot“, konterte Svenja.
„Dann komm jetzt mit!“, befahl Tami.
„Nein. Meine Eltern sind tot, tot, tot“, schrie sie. „Wenn Klara nicht meine Mutter ist, so bleibt sie immer meine Schwester. Ich vertraue ihr.“
Tami stand auf, zog sie am Arm. „Hör wenigstens an, was sie dir zu sagen hat.“
„Ich bin müde. Mir ist kalt. Ich will ins Bett.“
„Vielleicht ist alles ganz anders. “Tami wies die Straße entlang und zischte: „Es sind nur ein paar Meter“, dabei zerrte sie Svenja hinter sich her.

Der Geruch von frisch gebratenen Fisch kroch Svenja in die Nase. „Wo ist sie?“
Tami zeigte auf eine Frau in einem luftigen rapsgelben Sommerkleid, welche einsam an einem Tisch saß und auf ihr Smartphone starrte. „Da sitzt sie!“ Sie rief ihr zu, woraufhin die Frau sich ihnen zuwandte.
Svenja und Tami schritten auf sie zu und murmelte: „Stephen.“
Tami lächelte. „Eher eine Stephanie.“
„Weder noch“, raunte Stephen. „Ich bin Klara Weber, deine Mutter.“


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Die Maske sinkt
 
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ahorn

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Liebe molly,
erneut dank für dein Kurzlekorat.
Ich gebe mir ja wirklich Mühe, trotzdem flutschen mir noch zu viel Tipp- und Grammatikfehler durch die Finger. ;)

Viele Grüße
Ahorn
 

ahorn

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11. Kapitel


72. Die Wissenschaft trügt nicht


»Trink!«
»Danke!«, gab Joos knurrig zurück und winkte ab.
Der Pathologe nahm einen Schluck aus dem Erlenmeyerkolben, stellte das Gefäß auf den Obduktionstisch. »Beruhige dich!«
»Frank, warum hast du es mir nicht beim letzten Mal gesagt«, herrschte er ihn an.
Frank zog seinen Kittel aus und warf ihn auf den Tisch. »Weil du wie immer nie zuhörst!« Kopfschüttelnd ergriff er das Glas, nippte und stütze sich mit der linken Hand auf. »Außerdem solltest du wissen, wie man Proben nimmt.«
»Was soll das heißen?«
Frank schnappte sich ein Plastikröhrchen. »Es ist vom Vorteil, wenn du den Originalträger mir geben würdest und nicht versuchen, eine Speichelprobe zu übertragen.«
Joos Stirn fiel in Falten.
»Auf dem Wattestab waren eindeutig Reste von einem Papiertaschentuch!«
Joos schloss die Augen. Sie muss irgendwie eine Speichelprobe von dem Jungen bekommen haben und hatte diese ihm als ihre untergeschmuggelt.
»Und du bist die hundertprozentig sicher?«
»Du zweifelst.« Der Pathologe tippte an seine Schläfe. »Shila und«, er hielt das Röhrchen an seine Augen, »Antonia sind identisch und sie ist männlich!«
Joos zog die Augenbrauen zusammen. »Woher kennst du die Namen?«
Frank klopfte auf das Röhrchen. »Steht doch drauf!«
»Du kannst hebräisch?«
»Ist das verboten? Habe ich dir nie erzählt, dass ich vorm Medizinstudium Theologie studiert habe.« Er zuckte mit den Schultern. »Familientradition!«

Dabei war er sich sicher gewesen, dass Niemand im Revier seine, wie er es nannte, Geheimschrift zu entziffern vermochte.
»Ist Klara die Schwester oder Mutter?«
Frank schritt ans andere Ende des Tisches, nahm einen Beutel zur Hand und schwang diesen. »Mit dem Schrott kann ich nichts anfangen. Hast die Haarproben aus einer Frauenwohngemeinschaft genommen?«
»Bitte!«
»Haarwurzel von mindesten drei Personen. Gehe von weiblich aus.« Er grinste. »Oder epilierst du als Mann deine Beine.«
»Ich habe andere Probleme, als deine blöden Witze«, schrie Joss, wandte sich ab und lief den Flur zum Ausgang.
Frank streckte den rechten Arm aus. »Warte ich habe dir noch etwas zu sagen!«
Joos hörte ihn nicht mehr. Der Pathologe leerte den Erlenmeyerkolben mit einem Zug. »Josephine ist nicht deine Tochter«, murmelte er.

Die Tür fiel krachend ins Schloss. Er sprang die Treppen herunter und raufte sich die Haare. Was hatte getan? Sie hatte ihm das Vertrauen geschenkt. Er sie verkauft. Sie seinen Spürsinn ausnutzend, ihm Geschichten erzählt, wie ihr Großvater es vermochte. In Rätsel gesprochen, jedoch mit wahren Kern.

»Genau das ist ihr Problem! Sie können sie nicht weiter verstecken!«, drangen ihre Worte in sein Gehirn. Sie! Es war nicht ein Kind, es waren zwei. Ein Spross zu ein Bursche zum anderen eine Dirn. »Hast du nie von Jungen gehört, die Mädchen sein wollen. Widerlich der Gedanke, gibt es aber!« – »Welcher Junge trägt kurze lila Short und Turnschuh mit Schleifchen am Hacken!« – »Lege ein wenig Fantasie an den Tag!« - »Glaub nie einer Frau!«, murmelte er vor sich hin.

Die untersuchte Haarprobe entsprang nicht ihrem Haupt, sondern seinem. Sie war Sophia , dieTochter und er – ihr Sohn! Er hatte es nicht begriffen.
Von wem sie es gehört hatte, konnte er sich denken. Josephine war es gewesen. Sie gab ihr den Tipp. Psychologin! Von ihm hatte sie den Beruf nicht erfahren, er schämte sich, immerhin war er selbst Patient bei ihr. Damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, studierte sie Elektrotechnik. Woher wusste sie den Beruf von Marias Ehemann. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Es war der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl. Ihr Sohn lebte bei Maria. Er zuckte mit den Schultern, schlug sich an die Stirn. Maria! Das war es! Maria und Sophia beides Kinderärzte. Er blieb am Treppenhausfenster stehen, schmetterte die geballte Hand auf die Fensterbank.
»Quatsch. Ich dachte, du hättest es gleich gesehen. Eine Kapcopra hat sie gebissen!«, schrie er, die Rechte zur Faust. Er konnte die Worte von Doc nie vergessen. Sophia lebte lange in Gegenden mit gefährlichen Tieren. Maria nicht. Er hatte sie nicht genau angesehen - trug die Trage am Fußteil. Ihr Gesicht mit kühlenden Tüchern umwickelt. Und ihre Tochter sprang nicht zu ihr, sondern auf den Beifahrersitz. Keine tröstenden Worte der Verletzten zusprechen – nichts. Dafür schrie sie auf ihn ein, wo er gewesen, anstatt ihr beizustehen, ihr zu helfen.

Klar! Maria war Docs Geliebte. Sie waren ein Paar, bevor er sie kennengelernt hatte. Ihre Flucht nach Klaras Entführung, kein in Sicherheit bringen der geliebten Tochter. Zu ihm wollte sie.
Tanja hatte das nicht mehr ausgehalten. Er wusste jetzt, was sie ihm sagen wollte, dass sie ein Kind bekommen hatte. Die Nacht mit ihm ... ?

Joos raufte sich die Haare. Er konnte nicht der Vater sein. Doc ein Schwein, ein miserabler Eber, trotz ihrer Freundschaft, hasste er ihn, aber die eigene Tochter?
Blieb er selbst nur übrig oder der unbekannte Dritte. Doc hätte ihn zur Verantwortung gezogen. Hat er das nicht getan?
Damals seine Begrüßung: Die verachtenden Blicke, die er ihm zugeworfen hatte, nicht die brachiale Umarmung, die er von ihm kannte.
Danach verstarb er - keine Zeit mehr, mit ihm zu sprechen. Nein! Er hätte ihm das vorher aufs Butterbrot geschmiert. Es sei denn, er wollte es ihm nur einreden, ihn am Abend bei einem guten Whiskey zur Seite nehmen.
Die letzten Stufen nahm er mit großen Schritten. Die Gene! Seine Beine wurden ihm schwer.

Er brauchte einen klaren Verstand. Joos kratzte sich im Genick, erst Tanja befreien. Er rannte über den Hof, öffnete den Volvo, schnappte seinen Laptop. Es gab nur einen, der ihm helfen konnte. Sein Zuträger betrieb seine Spelunke Olivenhain in St. Georg, das Einzige, was er von ihm wusste. Die Prostituierten gingen bei ihm ein und aus, wärmten sich im Winter ihre nackten Beine, holten sich im Sommer ein kühles Getränk, benutzen die Toilette nicht nur um sich zu erleichtert. Dort war es sicher und sauber. Er wusste es von Ommo, der kannte ihn. Für ihn war er nur der Seewolf, der Ex-Bulle.

Igor hatte seine Geschäfte nach Hamburg verlagert und wie er Igor kannte, machte der sich nirgendwo Freunde.
Seine Antwort kam wie immer prompt.
»Mach mich auf den Weg zu Igor Pferdestall«, murmelte er.
Er konnte nicht mehr viel machen außer Grübeln. Er startete seinen Volvo und fuhr los.
Wer war das Mädchen?
Die Beweislage für Joos klar. Sophias Tochter. Der Vater? Mitochondrien und Chromosomen hüpfte über seine Synapsen. Geschwister! Nein! Auch! Cousin und Cousine!
Er schlug auf sein Lenkrad. »Nur Freunde im Geist!«, schrie er.
Geschwängert hatte er sie. Beide! Unter der Soutane lebte mehr, als er beteuerte. Klar. Sie damals Nonne und ein Kind unmöglich. Ihre Schwester frei von Zwängen!
Die Ampel zeigte rot und sein aufgeklapptes Laptop blinkte.

Der Seewolf leistete gute Arbeit. Ohne dass er ihn aufgefordert hatte, übermittelte er ihm Fotos. Seine Vermutung verhärtete sich. Die Bilder zeigten das Mädchen und den Jungen, dieses war er für ihn hundertprozentig. Sein kurzes schwarzes Haar, sein kantiges Gesicht, erst recht die beginnende Männlichkeit zwischen den Schenkeln, bewiesen Joos Theorie.
Die Kinder auf dem Weg zu einem Boot. Nahne war Seemann. Warum er nicht. Das Mädchen viel zu zart für diesen rauen Sport. Dennoch, darüber war er sich sicher, sollte dieser Knabe das dritte Mädchen mimen. Deshalb die untypische Kleidung, die Vorführung im Park. Sie war darauf angesetzt ihm beizubringen, wie junge Damen sich benehmen.
Weshalb hieß er Antonia? Auch dieses Rätsel würde er lösen.
Erst einmal schickte er dem Seewolf eine zweite Nachricht, mit der Bitte, dass er auf die Kinder aufpassen solle, denn Joos hatte ein anderes Ansinnen.
Ein Hupkonzert forderte ihn zur Weiterfahrt auf.


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ahorn

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11. Kapitel


72. Die Wissenschaft trügt nicht


»Trink!«
»Danke!«, gab Joos knurrig zurück und winkte ab.
Der Pathologe nahm einen Schluck aus dem Erlenmeyerkolben, stellte das Gefäß auf den Obduktionstisch. »Beruhige dich!«
»Frank, warum hast du es mir nicht beim letzten Mal gesagt«, herrschte er ihn an.
Frank zog seinen Kittel aus und warf ihn auf den Tisch. »Weil du wie immer nie zuhörst!« Kopfschüttelnd ergriff er das Glas, nippte und stütze sich mit der linken Hand auf. »Außerdem solltest du wissen, wie man Proben nimmt.«
»Was soll das heißen?«
Frank schnappte sich ein Plastikröhrchen. »Es ist vom Vorteil, wenn du den Originalträger mir geben würdest und nicht versuchen, eine Speichelprobe zu übertragen.«
Joos Stirn fiel in Falten.
»Auf dem Wattestab waren eindeutig Reste von einem Papiertaschentuch!«
Joos schloss die Augen. Sie muss irgendwie eine Speichelprobe von dem Jungen bekommen haben und hatte diese ihm als ihre untergeschmuggelt.
»Und du bist die hundertprozentig sicher?«
»Du zweifelst.« Der Pathologe tippte an seine Schläfe. »Shila und«, er hielt das Röhrchen an seine Augen, »Antonia sind identisch und sie ist männlich!«
Joos zog die Augenbrauen zusammen. »Woher kennst du die Namen?«
Frank klopfte auf das Röhrchen. »Steht doch drauf!«
»Du kannst hebräisch?«
»Ist das verboten? Habe ich dir nie erzählt, dass ich vorm Medizinstudium Theologie studiert habe.« Er zuckte mit den Schultern. »Familientradition!«

Dabei war er sich sicher gewesen, dass Niemand im Revier seine, wie er es nannte, Geheimschrift zu entziffern vermochte.
»Ist Klara die Schwester oder Mutter?«
Frank schritt ans andere Ende des Tisches, nahm einen Beutel zur Hand und schwang diesen. »Mit dem Schrott kann ich nichts anfangen. Hast die Haarproben aus einer Frauenwohngemeinschaft genommen?«
»Bitte!«
»Haarwurzel von mindesten drei Personen. Gehe von weiblich aus.« Er grinste. »Oder epilierst du als Mann deine Beine.«
»Ich habe andere Probleme, als deine blöden Witze«, schrie Joss, wandte sich ab und lief den Flur zum Ausgang.
Frank streckte den rechten Arm aus. »Warte ich habe dir noch etwas zu sagen!«
Joos hörte ihn nicht mehr. Der Pathologe leerte den Erlenmeyerkolben mit einem Zug. »Josephine ist nicht deine Tochter«, murmelte er.

Die Tür fiel krachend ins Schloss. Er sprang die Treppen herunter und raufte sich die Haare. Was hatte getan? Sie hatte ihm das Vertrauen geschenkt. Er sie verkauft. Sie seinen Spürsinn ausnutzend, ihm Geschichten erzählt, wie ihr Großvater es vermochte. In Rätsel gesprochen, jedoch mit wahren Kern.

»Genau das ist ihr Problem! Sie können sie nicht weiter verstecken!«, drangen ihre Worte in sein Gehirn. Sie! Es war nicht ein Kind, es waren zwei. Ein Spross zu ein Bursche zum anderen eine Dirn. »Hast du nie von Jungen gehört, die Mädchen sein wollen. Widerlich der Gedanke, gibt es aber!« – »Welcher Junge trägt kurze lila Short und Turnschuh mit Schleifchen am Hacken!« – »Lege ein wenig Fantasie an den Tag!« - »Glaub nie einer Frau!«, murmelte er vor sich hin.

Die untersuchte Haarprobe entsprang nicht ihrem Haupt, sondern seinem. Sie war Sophia , dieTochter und er – ihr Sohn! Er hatte es nicht begriffen.
Von wem sie es gehört hatte, konnte er sich denken. Josephine war es gewesen. Sie gab ihr den Tipp. Psychologin! Von ihm hatte sie den Beruf nicht erfahren, er schämte sich, immerhin war er selbst Patient bei ihr. Damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, studierte sie Elektrotechnik. Woher wusste sie den Beruf von Marias Ehemann. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Es war der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl. Ihr Sohn lebte bei Maria. Er zuckte mit den Schultern, schlug sich an die Stirn. Maria! Das war es! Maria und Sophia beides Kinderärzte. Er blieb am Treppenhausfenster stehen, schmetterte die geballte Hand auf die Fensterbank.
»Quatsch. Ich dachte, du hättest es gleich gesehen. Eine Kapcopra hat sie gebissen!«, schrie er, die Rechte zur Faust. Er konnte die Worte von Doc nie vergessen. Sophia lebte lange in Gegenden mit gefährlichen Tieren. Maria nicht. Er hatte sie nicht genau angesehen - trug die Trage am Fußteil. Ihr Gesicht mit kühlenden Tüchern umwickelt. Und ihre Tochter sprang nicht zu ihr, sondern auf den Beifahrersitz. Keine tröstenden Worte der Verletzten zusprechen – nichts. Dafür schrie sie auf ihn ein, wo er gewesen, anstatt ihr beizustehen, ihr zu helfen.

Klar! Maria war Docs Geliebte. Sie waren ein Paar, bevor er sie kennengelernt hatte. Ihre Flucht nach Klaras Entführung, kein in Sicherheit bringen der geliebten Tochter. Zu ihm wollte sie.
Tanja hatte das nicht mehr ausgehalten. Er wusste jetzt, was sie ihm sagen wollte, dass sie ein Kind bekommen hatte. Die Nacht mit ihm ... ?

Joos raufte sich die Haare. Er konnte nicht der Vater sein. Doc ein Schwein, ein miserabler Eber, trotz ihrer Freundschaft, hasste er ihn, aber die eigene Tochter?
Blieb er selbst nur übrig oder der unbekannte Dritte. Doc hätte ihn zur Verantwortung gezogen. Hat er das nicht getan?
Damals seine Begrüßung: Die verachtenden Blicke, die er ihm zugeworfen hatte, nicht die brachiale Umarmung, die er von ihm kannte.
Danach verstarb er - keine Zeit mehr, mit ihm zu sprechen. Nein! Er hätte ihm das vorher aufs Butterbrot geschmiert. Es sei denn, er wollte es ihm nur einreden, ihn am Abend bei einem guten Whiskey zur Seite nehmen.
Die letzten Stufen nahm er mit großen Schritten. Die Gene! Seine Beine wurden ihm schwer.

Er brauchte einen klaren Verstand. Joos kratzte sich im Genick, erst Tanja befreien. Er rannte über den Hof, öffnete den Volvo, schnappte seinen Laptop. Es gab nur einen, der ihm helfen konnte. Sein Zuträger betrieb seine Spelunke Olivenhain in St. Georg, das Einzige, was er von ihm wusste. Die Prostituierten gingen bei ihm ein und aus, wärmten sich im Winter ihre nackten Beine, holten sich im Sommer ein kühles Getränk, benutzen die Toilette nicht nur um sich zu erleichtert. Dort war es sicher und sauber. Er wusste es von Ommo, der kannte ihn. Für ihn war er nur der Seewolf, der Ex-Bulle.

Igor hatte seine Geschäfte nach Hamburg verlagert und wie er Igor kannte, machte der sich nirgendwo Freunde.
Seine Antwort kam wie immer prompt.
»Mach mich auf den Weg zu Igor Pferdestall«, murmelte er.
Er konnte nicht mehr viel machen außer Grübeln. Er startete seinen Volvo und fuhr los.
Wer war das Mädchen?
Die Beweislage für Joos klar. Sophias Tochter. Der Vater? Mitochondrien und Chromosomen hüpfte über seine Synapsen. Geschwister! Nein! Auch! Cousin und Cousine!
Er schlug auf sein Lenkrad. »Nur Freunde im Geist!«, schrie er.
Geschwängert hatte er sie. Beide! Unter der Soutane lebte mehr, als er beteuerte. Klar. Sie damals Nonne und ein Kind unmöglich. Ihre Schwester frei von Zwängen!
Die Ampel zeigte rot und sein aufgeklapptes Laptop blinkte.

Der Seewolf leistete gute Arbeit. Ohne dass er ihn aufgefordert hatte, übermittelte er ihm Fotos. Seine Vermutung verhärtete sich. Die Bilder zeigten das Mädchen und den Jungen, dieses war er für ihn hundertprozentig. Sein kurzes schwarzes Haar, sein kantiges Gesicht, erst recht die beginnende Männlichkeit zwischen den Schenkeln, bewiesen Joos Theorie.
Die Kinder auf dem Weg zu einem Boot. Nahne war Seemann. Warum er nicht. Das Mädchen viel zu zart für diesen rauen Sport. Dennoch, darüber war er sich sicher, sollte dieser Knabe das dritte Mädchen mimen. Deshalb die untypische Kleidung, die Vorführung im Park. Sie war darauf angesetzt ihm beizubringen, wie junge Damen sich benehmen.
Weshalb hieß er Antonia? Auch dieses Rätsel würde er lösen.
Erst einmal schickte er dem Seewolf eine zweite Nachricht, mit der Bitte, dass er auf die Kinder aufpassen solle, denn Joos hatte ein anderes Ansinnen.
Ein Hupkonzert forderte ihn zur Weiterfahrt auf.


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12. Kapitel Neptun schlägt zu

Die Wissenschaft trügt nicht?
»Trink!«
»Danke«, gab Joos knurrig zurück und winkte ab.
Der Pathologe nahm einen Schluck aus dem Erlenmeyerkolben, stellte das Gefäß auf den Obduktionstisch. »Beruhig dich!«
»Frank, warum hast du es mir nicht beim letzten Mal gesagt«, harschte Joos ihn an.
Frank zog seinen Kittel aus und warf ihn auf den Tisch. »Weil du wie immer nie zuhörst.« Seinen Kopf schüttelnd, ergriff er das Glas, nippte und stütze sich mit der linken Hand ab. »Außerdem solltest du wissen, wie man Proben nimmt.«
»Was soll das heißen!«
Frank schnappte sich ein Plastikröhrchen. »Es ist vom Vorteil, wenn du den Originalträger mir geben würdest und nicht versuchen, eine Speichelprobe zu übertragen.«
Joos Stirn fiel in Falten.
»Auf dem Wattestab waren eindeutig Reste von einem Papiertaschentuch.«
Joos schloss die Augen. Sie hatte irgendwie eine Speichelprobe von dem Jungen bekommen, dann diese ihm als ihre untergeschmuggelt.
»Du bist dir hundertprozentig sicher?«
»Du zweifelst.« Der Pathologe tippte an seine Schläfe. »Shila und«, er hielt das Röhrchen an seine Augen, »Antonia sind identisch, ferner ist sie männlich!«
Joos zog die Augenbrauen zusammen. »Woher kennst du die Namen?«
Frank klopfte auf das Röhrchen. »Steht doch drauf!«
»Du kannst hebräisch?«
»Ist das verboten? Habe ich dir nie erzählt, dass ich vorm Medizinstudium Theologie studiert habe.« Frank zuckte mit den Schultern. »Familientradition!«

Dabei war er sich sicher gewesen, dass niemand im Revier seine, wie er es nannte, Geheimschrift zu entziffern vermochte.
»Ist Klara die Schwester oder Mutter?«
Frank schritt ans andere Ende des Tisches, nahm einen Beutel zur Hand und schwang diesen. »Mit dem Schrott kann ich nichts anfangen. Hast die Haarproben aus einer Frauenwohngemeinschaft genommen?«
»Bitte!«
»Haarwurzel von mindesten drei Personen. Gehe von weiblich aus.« Frank grinste. »Oder epilierst du als Mann deine Beine.«
»Ich habe andere Probleme, als deine blöden Witze«, schrie Joss, wandte sich ab und eilte den Flur entlang, der zum Ausgang führte.
Frank streckte den rechten Arm aus. »Warte ich habe dir noch etwas zu sagen!«
Joos hörte ihn nicht mehr. Der Pathologe leerte den Erlenmeyerkolben mit einem Zug. »Josephine ist nicht deine Tochter«, murmelte er.

Die Tür fiel krachend ins Schloss. Joos sprang die Treppen herunter und raufte sich die Haare. Was hatte getan? Sie hatte ihm das Vertrauen geschenkt. Er sie verkauft. Sie seinen Spürsinn ausnutzend, ihm Geschichten erzählt, wie ihr Großvater es vermochte. In Rätsel gesprochen, jedoch mit wahren Kern.

»Genau das ist ihr Problem! Sie können sie nicht weiter verstecken!«, drangen ihre Worte in sein Gehirn. Sie! Es war nicht ein Kind, es waren zwei. Ein Spross zu einem ein Bursche zum anderen eine Dirn. »Hast du nie von Jungen gehört, welche Mädchen sein wollen. Widerlich der Gedanke, gibt es aber!« – »Welcher Junge trägt kurze lila Short und Turnschuh mit Schleifchen am Hacken!« – »Lege ein wenig Fantasie an den Tag!« - »Glaub nie einer Frau!«, murmelte Joos vor sich hin.

Die untersuchte Haarprobe entsprang nicht ihrem Haupt, sondern seinem. Sie war Sophia, die Tochter somit er – ihr Sohn! Er hatte es nicht begriffen.
Von wem sie es gehört hatte, konnte er sich denken. Josephine war es gewesen. Sie gab ihr den Tipp. Psychologin! Von ihm hatte sie den Beruf nicht erfahren, er schämte sich, immerhin war er selbst Patient bei Josephine. Damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, studierte sie Elektrotechnik. Woher wusste sie den Beruf von Marias Ehemann. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Es war der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl. Ihr Sohn lebte bei Maria. Er zuckte mit den Schultern, schlug sich an die Stirn. Maria! Das war es! Maria und Sophia waren beide Kinderärzte. Joos blieb am Treppenhausfenster stehen, schmetterte die geballte Hand auf die Fensterbank.
»Quatsch. Ich dachte, du hättest es gleich gesehen. Eine Kapcopra hat sie gebissen!«, schrie er, die Rechte zur Faust. Er konnte die Worte von Doc nie vergessen. Sophia lebte lange in Gegenden mit gefährlichen Tieren - Maria nicht. Er hatte sie nicht genau angesehen, denn er trug die Trage am Fußteil. Ihr Gesicht war mit kühlenden Tüchern umwickelt. Ihre Tochter sprang nicht zu ihr, sondern auf den Beifahrersitz. Keine tröstenden Worte der Verletzten zusprechen – nichts. Dafür schrie sie auf ihn ein, wo er gewesen war, anstatt ihr beizustehen, ihr zu helfen.

Klar! Maria war Docs Geliebte. Sie waren ein Paar, bevor er sie kennengelernt hatte. Ihre Flucht nach Klaras Kidnapping, kein in Schutz verbringen der geliebten Tochter. Zu Doc wollte sie.
Tanja hatte das nicht mehr ausgehalten. Er wusste jetzt, was sie ihm sagen wollte, dass sie ein Kind bekommen hatte. Die Nacht mit ihr ...?

Joos raufte sich die Haare. Er konnte nicht der Vater sein. Doc war ein Schwein, ein miserabler Eber, trotz ihrer Freundschaft, hasste er ihn, aber die eigene Tochter?
Blieb er selbst nur übrig oder der unbekannte Dritte. Doc hätte ihn zur Rechenschaft gezogen. Hat er das nicht getan?
Damals seine Begrüßung, die verachtenden Blicke, die er ihm zugeworfen hatte, nicht die brachiale Umarmung, welche er von ihm kannte.
Danach verstarb er. Doc hatte keine Zeit mehr, mit ihm zu sprechen. Nein! Er hätte ihm das vorher aufs Butterbrot geschmiert. Es sei denn, er wollte es ihm nur einreden, ihn am Abend bei einem guten Whiskey zur Seite nehmen.
Die letzten Stufen nahm er mit großen Schritten. Die Gene! Die Kraft in seinen Beinen entschwand ihm. Es fühlte sich für ihn an, als hingen Bleikugeln an seinen Füßen.

Er brauchte einen klaren Verstand. Joos kratzte sich im Genick,aber erst Tanja befreien. Er rannte über den Hof, öffnete den Volvo, schnappte seinen Laptop. Es gab nur einen, der ihm helfen konnte. Sein Zuträger betrieb seine Spelunke Olivenhain in St. Georg. Dies war das Einzige, was er von ihm wusste. Die Prostituierten marschierten bei ihm ein und aus, wärmten sich im Winter ihre nackten Beine, holten sich im Sommer ein kühles Getränk, benutzen die Toilette nicht nur um sich zu erleichtert. Dort war es sicher zudem sauber. Er wusste es von Ommo, jener kannte ihn. Für ihn war der Ex-Bulle nur der Seewolf.

Igor hatte seine Geschäfte nach Hamburg verlagert und wie er Igor kannte, machte der sich nirgendwo Freunde.
Seine Antwort kam wie immer prompt.
»Mach mich auf den Weg zu Igor Pferdestall«, murmelte Joos.
Er konnte nicht mehr viel machen außer Grübeln. Er startete seinen Volvo und fuhr los.
Wer war das Mädchen?
Die Beweislage für Joos klar. Sophias Tochter. Der Vater? Mitochondrien nebst Chromosomen hüpfte über seine Synapsen. Geschwister? Nein. Sowie. Cousin und Cousine!
Er schlug auf sein Lenkrad. »Freunde im Geist.«, schrie er.
Geschwängert hatte er sie. Beide? Unter der Soutane lebte mehr, als er beteuerte. Klar, sie war damals Nonne. Damit für sie ein Kind zu gebären unmöglich. Dagegen war ihre Schwester frei von Zwängen!
Die Ampel zeigte rot und sein aufgeklapptes Laptop blinkte.

Der Seewolf leistete gute Arbeit. Ohne dass er ihn aufgefordert hatte, übermittelte er ihm Fotos. Seine Annahme verhärtete sich. Die Bilder zeigten das Mädchen sowie den Jungen, dieses war er für ihn hundertprozentig. Sein kurzes schwarzes Haar, sein kantiges Gesicht, erst recht die beginnende Männlichkeit zwischen den Schenkeln, bewiesen Joos Theorie.
Die Kinder waren auf dem Weg zu einem Boot. Nahne war Seemann. Warum er nicht? Das Mädchen viel zu zart für diesen rauen Sport. Dennoch, darüber war er sich sicher, sollte dieser Knabe das dritte Mädchen mimen. Deshalb die untypische Kleidung, die Darbietung von ihr im Park. Sie war darauf angesetzt ihm beizubringen, wie junge Damen sich benehmen.
Weshalb hieß er Antonia? Auch dieses Rätsel würde er lösen.
Zuerst schickte er dem Seewolf eine zweite Nachricht, mit der Bitte, dass er auf die Kinder aufpassen solle, denn Joos hatte ein anderes Ansinnen.
Ein Hupkonzert forderte Joos zur Weiterfahrt auf.

weiter zum nächsten Teil 73. Geboren aus Meeresschaum
 



 
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