Flucht über die Nordsee 78. In Mutters Armen

ahorn

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In Mutters Armen
Svenja stand, die Arme weit vom Körper gestreckt, wie Rose Dewitt Bukater alias Kate Winslet im Film Titanic, am Bug. Ihr, schulterlanges currygelbes Haar flatterte synchron mit ihrem lichtgrünen Minirock im Rhythmus der Mastflagge. Ihre silbernen Armreifen läuteten beim Senken ihrer Unterarme wie Schiffsglocken.

Sie zog ein Haargummi vom Handgelenk, band sich einen Pferdeschwanz und holte das Fock ein.
»Ey ey Kapitänin«, salutierte Tami, dann rümpfte sie die Nase und griff an ihre Schwimmweste. »Warum muss ich das Ding tragen und du hüpfst so über Bord?«
Svenja richtete ihr opalgrünes Bikinioberteil, sprang zum Ruder, kniete nieder und gab ihrer Freundin erst eine Kopfnuss, dann einen Kuss auf die Wange. »Weil ich nicht immer über Bord gehe.« Sie umschlang Tamis Hals und gab ihr ein Kuss auf den Mund.
Sie wies zum Bug. »Bootsmann Hauptsegel einholen!«, befahl sie in einer Tonlage, die James Cook auf seiner HMS Endeavour verzückt hätte. »In den Hafen fahren wir mit Motorkraft.«

Sie genoss das Glotzen der Männer, das Pfeifen, beim Entlangstolzieren auf dem Anleger, welches eher Tami galt. Das Klackern ihrer Absätze, das ihr Erscheinen ankündigte.
»Wo ist Olgas Ferienhaus?«. Svenja blieb stehen, streckte den Hals und schaute gen Himmel. »Pardon! Das Haus deiner Mutter.«
»Ich habe mich bei dir tausendmal entschuldigt. Hey! Ich habe es Klara geschworen. Sie ist meine Schwester.«
»Meine Schwester!«
»Geht nicht! Sie heißt Klara Weber und hat meine Mutter Maria genannt.« Tami tippte an ihre Schläfe. »Da stimmt was nicht.«
Svenja verschränkte ihre Arme. »Deshalb belügst du mich.«
»Echt ehrlich warst du auch nicht.«
Den Blick zu Boden kratzte Svenja mit der Spitze ihres Schuhes über den Asphalt. »Wir wissen beide nichts.«
Tami nahm sie in die Arme. »Wir sind halt zwei dumme Mädchen.« Sie zwinkerte Svenja zu. »Bleibt aber unter uns!«
»Dann passen wir gut zusammen. Schwester! Wo lang?«

»Gleich die erste Links«, antwortete Tami, derweil reichte sie Svenja ein Top. »Komm, zieh über. Zuviel Aufsehen wollen wir nicht ...« Der Rest des Satzes blubberte in Tamis Oberteil.
Svenja blickte an sich herab, sah zur Freundin. »Von wir kann keine Rede sein!«

»Kinder bin ich froh, euch wiederzusehen. Farbe habt ihr bekommen.« Klara löste die Umarmung. »Wo sind eure Sachen?«
»Auf der Sophia«, antwortete Svenja.
»Gut!« Klara wandte sich an Tami. »Geh zum Boot, hohl deine Sachen, danach gehst du zum Eiscafé am Ende der Promenade! Du wirst erwartet.«
»Ich dachte ...«, begann Tami.
»Ihr seid zu spät. Ich nicht!«
Svenja umarmte ihre Freundin und Klara schloss, nachdem sie gegangen war, die Tür.
»Wer bist du?«, fragte Svenja ohne Umschweife.

»Klara Weber geboren am 10.4.1978 in Emden. Tochter von Maria Weber. Vater bis vor Kurzen unbekannt. Abgebrochene Ausbildung als Krankenschwester in Durban Südafrika und Mörderin.«

Wie oft hatte sie diesen Spruch gelernt, immer in der Angst entdeckt zu werden, in einem Polizeirevier zu stehen, ihre Aussage zu machen. Nie hätte sie sich vorgestellt, ihr die Worte ungefiltert an den Kopf zu werfen. Sachte, mit Vorsicht, wie eine Mutter ihr alles zu erklären, hatte sie sich vorgenommen. In einer ruhigen Stunde bei geblähten Segeln auf den Weg nach Ailsa Craig, dem Ort, an dem alles Vergangene hinweggespült wird - frei für die Zukunft.
Sie stand vor ihr, starrte sie an. Kein Zucken im Gesicht. Die Arme schlaff am Laib.
»Und ich?«

»Antonia Weber alias Svenja Fiete Sengbein alias Sven-Fiete Sengbein geboren am 11.07.2000 um 18:01 Uhr einhundert Kilometer nördlich von Durban. Vater bis vor Kurzen unbekannt und«, sie schloss die Augen, »meine Tochter.«

Tränen quollen ihr aus den Augen, rannen über ihre Wangen. Svenja nahm sie in die Arme, umgriff mit ihren Händen Klaras Taille und drückte den Kopf an ihre Schulter. Klaras Finger strichen durch das Haar ihrer Tochter, presste ihr feuchtes Gesicht an ihre Brust und beide weinten.


Luise oder Lotte
Klara hielt Svenjas Hand und quetschte ihr Gesäß tiefer in die Sitzfläche des Sofas.
»Warum?«
»Ich habe einen Menschen umgebracht!«
»Deswegen verleugnest du dein eigenes Kind. Wen?«
»Deinen Großvater, meinen Vater!«

Klaras Lippen bebten. Es war das erste Mal, dass sie ihn derart nannte.

»Wer war er? Und Warum?«
»Anton!«
»Welcher Anton?«
Klara biss auf ihre Unterlippe. »Franziskas Ex-Mann!«
Svenja riss die Augen auf und verhüllte den Mund mit beiden Händen.
Ihr Gesichtsausdruck sprach für Klara Bände. Sie strich durch das Svenjas Haar.
»Mach dir keine Sorgen!«
Svenja zog den Kopf zurück, spitzte den Mund. »Ich mich Sorgen. Weswegen?«
»Ich mag ihn nicht. War auch mal jung, habe meine Erfahrungen gesammelt.« – »Ich lese deine Gedanken. Er ist nicht mit uns verwandt.« – »Vale ist der Vater deines Schatzes.«
Svenja atmete aus, sank zusammen.
»Zumindest erwidert er deine Gefühle, das war bei meiner ersten Liebe anders – Milina hieß sie.«

Klara streichelte Svenjas gerötete Wangen. »Es war ein Unfall!«
Sie war sauer auf Anton, begann sie zu erzählen. Versetzt hatte er sie. Sie stürmte in sein Haus.
Dieser Wechsel der Gefühle in der Schwangerschaft hatte die Schuld, rechtfertigte sie die Tat vor sich selbst. Klara senkte den Blick. Ihre Tat! Sie trug die Last der Schuld auf ihren Schultern. Es spielte keine Rolle, welch Zeigefinger sich gekrümmt hatte.
Seine Schrotflinte stand angelehnt an der Zimmerwand, fuhr sie fort. Die Waffen waren nie geladen, es sei denn er ging auf die Jagd. Erst seine Reaktion, nachdem sie den Lauf auf ihn gerichtet hatte, ließen sie zweifeln. Dann spürte sie einen Schmerz am Hinterkopf.

Die Presswehen brachten sie wieder zu bewusstsein, schilderte sie ohne Pathos. Sie saß oder lag in einem Jeep, Bärbel hielt ihr die Hand, tupfte ihre Stirn. Karl lenkte den Wagen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz deponiert eine Schrotflinte. Die Schmerzen waren grauenhaft. Erst als sie auf einem Parkplatz ihr Kind in die Arme nahm, war aller Schmerz wie weggeblasen, unendliche Liebe und Sehnsucht umhüllte sie.

»Ich verstehe nicht«, flüsterte Svenja.
»Ich weiß nicht mehr, ob sie mir das mit den Unfällen bereits im Auto oder erst in der Klinik erzählt hatten.« – »Die Folgen dieselben.«
»Unfälle?«
»Der Schuss, der Autounfall von Doc sowie Sophia alles am selben Tag.«

Von Tanja und Stephen erzählte sie erst einmal nichts. Sie hatte die Absicht, Svenja Schritt für Schritt einzuführen. Sie führen damit sie verstand. Die Wahrheit in Ganze ihr vor die Füße zu legen, für ein Mädchen in ihrem Alter zu monströs. Denn sie selbst kannte nicht mehr als die sprichwörtliche Spitze des Eisberges und dieses war sogar für eine Frau in ihrem Alter erschlagend. Was ging es Svenja an, wozu sollte sie sich damit belasten. Es war ihre Vergangenheit, jene sie zu ertragen hatte.
Sie holte aus, spann einen Bogen. Bärbel, Doc sowie seine Tochter wollten am Folgetag zurück nach Deutschland, die Koffer waren gepackt, die Flugscheine lagen parat. Karl kam auf die Idee. Besser ein schwarzes Schaf retten, für die Verstorbenen beten, als es zu opfern.
Klara drückte Svenja Kopf an ihre Brust. »Ich muss zu meiner Schande sagen, ich wollte dich am Anfang nicht, warst kein Wunschkind. Dein Lächeln hatte mich überzeugt. Ich würde dich nie abgeben.«

»Weggeben? Ich bin hier.«
»Meine Freundin hatte kurz vorher entbunden. Es war ein Frühchen«, flüsterte Klara. »Ich weiß nicht wie, aber Karl hatte für dich, wie er sagte, eine gute Familie gefunden.«

Es war spät am Abend, fing sie den Faden erneut auf, da erschien die Schwester in ihrem Zimmer – sie kannten sich nicht. Sie könne Fine holen.

»Fine?«
»Der Name von«, sie stockte, »dem Kind meiner Freundin. Ich bin hinüber, habe die Bändchen getaucht – ihr saht euch so ähnlich, dann habe ich Fine in dein Bettchen gelegt und bin zurück. Kurz danach kam Karl. Wir sollten früh zum Flughafen, damit nicht etwas schief ging.« – »Es wirkte alles geplant - natürlich Blödsinn. Bärbel gab sich als ihre Schwester aus, sogar ein Visum war in ihrem Pass vermerkt. Ich hielt Tanjas Dokument in den Händen.«

»Visum?«, murmelte Svenja.
»Sven-Fiete! Die Sophia hatte ein paar Monate vorher ein Jungen zur Welt gebracht. Er hat nicht lange gelebt, war schwerst behindert.«
Klara biss auf ihre Unterlippe. Das Lügen einzustellen, hatte sie sich vorgenommen, aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.

Svenja richtete sich auf. »Bärbel ist Sophia.«
Klara strich ihr durchs Haar. »Wie kommst du auf diesen Blödsinn. Ich kenne Bärbel, kannte Sophia. Sie war Ärztin und ich Lehrschwester. Na ja, sie waren Zwillinge aber«, sie räusperte, »zweieiig.«
Der letzte Satz war eine Hypothese, dessen war sie sich bewusst, dennoch erklärte diese einiges, obwohl sie von der Logik ein Irrweg bedeutete.
Klara senkte ihre Augenlider. Es gab Situationen, in denen sie annahm, Tanja wäre ihre Zwillingsschwester. Eine Fantasie, die gleichfalls verwegen war. Gut! Wenn sie beide in Kindertagen vorm Spiegel standen, ihre Haare zurückzogen, bis die Stirn befreit war. Klara sich ihre von Kuchen und Schokolade aufgedunsenen Wangen im Gedanken eliminierte, sowie ihre Pickel mit Make-up verdeckte. Dann schlüpften sie in gleiche Kleider und waren Luise und Lotte. Es war ihr Spiel.
Dass sich aber Josephine auf dem Reiterhof zwischen sie drängte, das dritte verloren Mädchen mimte, erzürnte Klara. Die Analogien verblüfften sie, dies wohl, aber Josephine hatte keinen Buckel auf der Nase, dafür glichen ihre Augen der einer Katze.
Mit ihrem heutigen Wissen erklärte es sich, wenn, ja wenn Anton ihr gemeinsamer Erzeuger war. Svenjas Stimme holte sie aus den Gedanken.

»Ich habe die Fotos gesehen!«
»Ich kenne die Bilder. Gleichaltrige Mädchen in den gleichen Kleidern - zum Verwechseln ähnlich«, erboste sich Klara.

Klara blickte auf ihre Armbanduhr. »Ach schon so spät«, murmelte sie, stand auf und lief aus dem Raum.
Kurze Zeit später erschien sie mit einem Kuchen, auf den Kerzen flackerten. »Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday my Svenja«, sang Klara und stellte den Kuchen auf den Wohnzimmertisch.
»Ich hatte bereits Geburtstag.«
Klara schaute auf ihre Uhr und schwang mit den Zeigefinger. »Jetzt! 18 Uhr und eine Minute.« Sie nahm Svenja in die Arme. »Alles gute zum Dreizehnten! Heute vor dreizehn Jahren bist du geboren.«

»Hab ich jetzt zweimal Geburtstag?«
Klara lachte. »Wenn du möchtest!«
»Doppelt Geschenke?«
»Auch das! Puste die Kerzen aus. Wünsch dir was. Du weißt, ich kann nicht kochen und backen. Sollte Rührkuchen werden.«
»Sieht aus wie Pfannkuchen!« Svenja holte tief Luft, dann blies sie alle dreizehn Kerzen mit einem Zug aus.

Klara stellte Svenjas Sandaletten beiseite, zog einen Karton hervor und öffnetet den Deckel. »Tami hat mir gesagt, dass deiner über Bord gegangen ist. War nicht einfach einen zu bekommen.«
Svenja zog ihren linken Mundwinkel empor und entblößte ihre Zähne. Sie legte das Geschenk an ihre Handtasche. »Passt!«
»Mach auf!«
Sie klappte den Rucksack auf, steckte die Hand herein, holte eine Spritze hervor und hielt sich diese vor die Nase.
Klara buffte sie an. »An welchen Tag hatten wir vor bei Alisa Craig zu ankern. Was wolltest du dort außer unter den Bug tauchen?« – »Ich habe eine Frauenärztin ausgemacht, die gibt dir regelmäßig die Spritze, bis sie dich auf den Pen umstellen kann. Alina kommt bestimmt mit.«
Svenja zupfte an ihrem Ohrläppchen. »Ist Alina in Frankreich?«
Klara kniff ein Auge zu. »Wie?«
»Ja! Das Mädcheninternat! Zumindest war die Betätigung auf französisch!«
»Welcher Brief, welche Bestätigung.« Sie fuhr durch Svenjas Haar. »Ich weiß nicht, was in deinem Kopf los ist. In Alinas Internat habe ich dich angemeldet. Direkt am See mit eigenem Segelklub, wie du es gefordert hast.« Klara nahm ihr die Spritze ab. »Komm dreh dich auf die Seite.« Sie schob den Minirock herauf. »Ein Rock hat Vorteile.« Die Zunge über die Lippen fahrend berührte sie mit der Nadelspitze Svenjas Haut.
»Kannst du das«, fragte Svenja.
»Hab ich gelernt!«
»Wirklich?«
»Ja! Willst du?«
Svenja schloss die Augen. »Ja!«, hauchte sie und presste die Lippen zusammen.
»Dann bleibt ab jetzt alles unter uns. Zu niemanden ein Wort!«, forderte Klara sie auf und stach zu.
Svenjas Glieder erschlafften in Sekundenschnelle.


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