Flucht über die Nordsee 83. Im Westen Afrikas

ahorn

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Im Westen Afrikas

Die Vielzahl der Stimmen, der Hautfarben in allen Tönen der Welt, der Haartrachten sowie der Kopfbedeckungen spiegelten die Internationalität wieder, obwohl diese die Uniformität ihrer Kleider einfing.
Svenja und Tami schlängelten sich durch die Gruppen der Mädchen, wobei Tami in ihnen aufging, indes Svenja wie eine Frucht aus den Tropen in einem Korb voller Äpfel unterschiedlicher Sorte herausstach.
Sie betraten die Eingangshalle, welche erst nach dem Durchschreiten eines fantasielosen Vorbaues ihre wahre Pracht darbot. Haushohe Palmen sowie duftende Zitruspflanzen enttarnten die Halle als Orangerie, in der mühelos zwei Basketballfelder Platz fanden.
Mädchen saßen an Tischen, unterhielten sich, beförderten mit Gabeln, Löffeln, Stäbchen oder mit blanken Fingern Speisen in ihre plappernden Münder, hockten zwischen den exotischen Pflanzen und verschmolzen in ihrer Uniformität mit deren Blüten. Ihre Schuluniformen, Trachten waren klassisch geschnitten, aber mit ihren Ornamenten, ihrer Farbenpracht gehörte sie eher auf einen westafrikanischen Markt.

»Oh! Hier möchte ich gern zur Schule gehen«, schwärmte Tami.
»Wirklich?«
Obwohl die Kinder lachten, verbargen sie nicht ihre geschunden Körper, ihre Arm- sowie Beinprothesen, ihre vernarbten entstellten Gesichter.

»Wo lang?«
Svenja wies auf einen Gang, welcher verdeckt von zwei Orangenbäumen aus dem Glaspalast führte.
Mit jedem Schritt verfinsterte sich der Durchgang und das zuvor glückliche Geschnatterte verwandelte sich zu einem bedrohlichen Gemurmel.

»Ich weiß nicht, was wir hier wollen?«
Svenja drückte Tami an die Flurwand. »Mehr heraus bekommen!«
»Die wievielte Theorie ist das von dir.« Tami verdrehte die Augen. »Die Einhundertsechsunddreizigste.«
»Es geht nicht um mich, um Alina.«
Tami verschränkte die Arme. »Und Tanja ist ein Mann« – » mit Busen!«
»Er heißt Stephen!«
»Mit Dekolleté!«
Svenjas Lippen berührten Tamis Ohr. »Ich habe dir gestern Nacht gesagt, dass Stephen einen Motorradunfall hatte. Soweit mir Matthias angedeutet hat« ,sie leckte über ihre Oberlippe, senkte das Haupt, »er sein ... Ding verloren hat«, stotterte sie.
Tami berührte ihren Schritt. »Schniedel weg«, dann an ihren Oberkörper, »Brust da.«
»Hast du nicht berichtet er habe ein anderes Leben geführt, als Frau. Es ist einfacher, aus einem Mann eine Frau zu machen, als umgekehrt.«
»Musst du ja Wissen«, grummelte Tami.
Svenja presste die Lippen und legte die Stirn in Falten.
»Sorry!«, haucht Tami. »Aber warum soll ich du sein und du ich.« Sie hob den Saum ihres Rockes. »Dazu dieses lächerliche Kleid tragen. Ich sehe aus wie ein Papagei.«
Svenja schlug mehrmals mit der flachen Hand an ihre Stirn. »Wenn wir erwischt werden, bin ich deine Freundin, dann kann ich mich ungestört umsehen.«
Denn Trick aus den Büchern mit Ricky und Blümchen.
»Vielleicht hätten wir lieber auf ihn warten sollen«, warf Tami ein.
Svenja drückte ihren Zeigefinger gegen die Brust der Freundin. »Du hast mir gesagt, er habe dir gesagt, wenn er nicht bis eine Stunde vor Abfahrt des Zuges zurück ist, sollen wir alleine los.« Sie pochte an ein Schild, jenes in mehreren Sprachen ferner Schriftzeichen jeder Schülerin, jedem Fremden erklärte, inwieweit der dahinterliegende Sektor tabu war.

»Boa ey!« Tami bekam vorm Staunen den Mund nicht mehr zu.
Die Kinder standen auf dem marmornen Fußboden eines Foyers, welches ohne Probleme einem Palast aus dem Orient den Rang ablief. Säulen aus feinsten Marmor hielten die Decke.
Svenja schloss die Tür hinter sich und zerrte Tami, die weiterhin mit riesigen Augen die Wandelhalle betrachtete, auf den roten Teppich, der vom Eingangsportal zur Treppe führte. Ein aus Granit gefertigter Aufgang mit Löwenfiguren, breit wie eine Einmann-Jolle lang, gabelte sich zur Rechten sowie Linken auf bis er am Obergeschoss wiederum mit Löwenabbildungen endete.

»Das war das Bad«, informierte Tami.
Svenja schloss die Tür. »Du tust so, als kenne ich mich hier aus!«
»Was suchen wir eigentlich?«
»Weiß nicht!«
»Wenn uns jemand erwischt?«
»Dann haben wir uns verlaufen«, besänftige Svenja ihre Freundin, wunderte sich über ihren Ausspruch, denn Tami war die Toughere von beiden.

Svenja hatte keinen Plan. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie in der Villa mehr erführe. Sie füllte sich wie Amanda aus Joachim Friedrichs Detektivgeschichten Amanda X. Gut! Amanda hatte immer eine Strategie. Eher Blümchen? Obwohl sie Svenja konnte nicht boxen und das Blümchenkleid trug Tami. Dann halt Ricki, diese favorisierte zwar in den Geschichten Hosen, aber ihr schlichter Jeansrock kam dem nahe.
Sie stemmete den Fuß gegen das Türblatt und drückte die letzte am Ende der Diele befindende Eichentür auf. Ein Geruch, welchen sie liebte, stieg ihr in die Nase. Der Duft von Staub nebst antiquarischer Büchern zog sie in den Raum. Es war die Bibliothek des alten Haus, der Geist, das Gedächtnis des Gemäuers.
An zwei Wänden, der rechts neben ihnen sowie der gegenüberliegenden, luden deckenhohe Bücherregale zum Schmökern ein. Von Links schien das Tageslicht in den Raum.
Drei Fenster bodentief mit Rundbögen erlaubten den Blick auf den Park. Davor ein Schreibtisch aus Eiche, der jedes Museum frohlockte. Ein Chefsessel, welcher seine besten Tage hinter sich hatte seine müde, kopfhohe Rückenlehne gegen den Tisch schmiegte. Daneben zwei schwere tiefschwarze französische Klubsessel.
Die Wand, durch dessen Tür sie eingetreten waren, war behängt mit unzähligen Fotos. Unterbrochen durch zwei goldgerahmte Ölgemälde auf denen jeweils ergraute Herren in steifer Pose ihren Blick zum Schreibtisch richteten.

Svenja schritt ihrem Naturell folgend zu den in Leder eingebundenen literarischen Relikten. Tami zu den, dem gegenüber modernen Bildern sowie zeitgenössischen Fotos.

»Ey Svenja«, zischte Tami.
»Ich heiß Tami, vergessen«, stöhnte die Angesprochene.
»Ey Tami komm mal her!«
Svenja lief zu Tami, welche auf eine gerahmte schwarz-weiß Fotografie klopfte. »Sind das nicht dein Opa und deine Oma. Ich habe ein Foto von ihnen in ihrem Haus gesehen.«
»Wenn Klara meine Mutter, dann sind sie es nicht!« Sie strich über den Bilderrahmen. »Recht hast du, dies sind Nahne und Oma.«
Svenja machte einen Schritt nach rechts. »Hier Franziska, Anton!«
Tami schmiegte sich an den Körper der Freundin und runzelte die Stirn.
»Franziska - Matthias Mutter - und womöglich sein Vater. Er hat ihn mir auf einem Foto gezeigt.«
Schmunzelnd tippte Tami auf das Glas. »Muss hier irgendwo aufgenommen sein!«
»Warum!«
»Das Karnevalskostüm, wie die in der Halle.« – »Wer ist das Mädchen zwischen ihnen?«
Svenja zuckte mit den Achseln. »Vielleicht eine Schülerin!«, murmelte sie und wandte sich ab. »Ich werd nicht mehr!« – »Onkel Karl!«
Tami hüpfte heran. »Welcher der Magnum Verschnitt oder der Pfaffe?«
»Magnum?«
Tami winkte ab. »Eine alte Fernsehserie, die meine Mutter immer schaut«, gab sie zum Besten.
»Der Priester! Mein Zieh-Onkel und Möchtegern Vormund.«
»Gut habt ihr euch nicht verstanden!«
Svenja zog ihren rechten Mundwinkel empor und zeigte ihre Zähne. »Geht so!«
»Der andere?«
Die Lippen gespitzt, verdeckte Svenja den Körper des Mannes auf dem Bild. »Den habe ich gesehen. Auf demselben Foto mit Matthias Vater und Großvater, nur dass er einen pechschwarzen Wachsmantel trug.«

Ihr Gefühl hatte sie nicht getrügt. Hier war der Ort, von dem alle Schifffahrtsweg ausgingen, der Heimathafen, das letzte entscheidende Puzzlestück. Wer mochten die Bewohner dieser Villa sein? Graue Eminenzen, derren Ziel es war, Menschen zu steuern, um sie in ihren Sinne, wie Marionetten zu führen.

»Er sieht schnucklig aus!«
Svenja lief zu Tami. »Wer?«
»Na dein Freund im Anzug.«
»Er ist nicht mein Freund! Jedenfalls nicht wie du es denkst«, zischte Svenja und schnappte nach Luft.

Matthias lächelte ihr entgegen. An seiner Seite Alina in weißen Kleid, eine Kerze in der Rechten und hinter ihm Franziska sowie Valentin.

Das Knarren der Eichentür holte Svenja aus ihren Gedanken. Eine Frau stürmte in die Bibliothek. Ihr angegrautes Haar unterschied sie von den Schülerinnen. Sie gestikulierte, fuchtelte mit ihren Armen. »Was macht ihr hier!«, harschte sie die Kinder auf Französisch an.

weiter zum nächsten Teil 84. Sophia Tütken ist verschollen
 



 
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