Lieber Walther,
dieses Sonett hat mir vor allem dadurch gefallen, dass es eine gewisse Spontaneität und Direktheit austrahlt und dennoch perfekt in seiner Form sitzt.
Das Gefühl, dass Du beschreibst, kenne ich aus eigener Erfahrung nur zu gut: Da trifft man auf ein ganz schlechtes Gedicht und spricht das auch offen aus und schon wird man vom selbstgefälligen Dichter samt seiner Jüngerschar in eine Art Glaubenskrieg verwickelt. Unversehens in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt, (hier würde ich allerdings bei der Schreibweise "To[blue]t[/blue]schlag" bleiben,) bleibt dann oft nur noch der schnelle Rückzug als Fluchtversuch.
Wie häufig musste ich das schon in Foren erleben, wo ich ahnungslos und unbekümmert den Platzhirschen vor das Geweih geriet. An einem Austausch von Gedanken, Ideen und Meinungen waren die nicht interessiert: Stets waren sie um ihren Status besorgt, der anscheinend gefährdet schien, wie man an ihren Empfindlichkeiten leicht erkennen konnte.
Obwohl ich nach den ersten Tagen in der LL erkennen muss, dass auch hier Rudelbildungen und persönliche Angriffe keine unbekannten Erscheinungen sind, werde ich mich davon nicht einschüchtern lassen und meine An- oder Einsichten über fremde Texte weiterhin veröffentlichen, es sei denn, der Betreffende bittet mich ausdrücklich darum, von weiteren Kommentierungen seiner Werke Abstand zu nehmen.
Zurück zum Text.
Ich hoffe, ich habe den Inhalt so verstanden, wir er gemeint war. Allerdings musste ich in Q2 etwas länger grübeln, bevor ich mir den Sinn zusammengereimt hatte:
Sehr selten bleibt die Chuzpe leider unentdeckt.
Und man ist irreschnell der Dümmste der Galaxis.
Ach ja: Das "man" ist die Schablone aus Q1 ("man las"), hinter der sich der hier dichtende Dichter, (und nicht der Angesprochene) verbirgt. Und weil dieser die Chuzpe ent- und aufgedeckt hat, wird er nun zum Dümmsten der Galaxis - und zum Gejagten. Nachdem ich mir so nach und nach den Inhalt zusammengereimt hatte, wurde mir klar, was mein Verständnis erschwert hatte:
Hier stilisiert sich einer zum Opfer. Er verschweigt dem Leser seine eigenen Taten (der offenen Kritik an einem fremden Text und des nachfolgenden Glaubensstreits, zu dem bekanntlich zwei gehören) und stellt sein Gegenüber als den eigentlichen Täter heraus:
Einer, der ein schlechtes Gedicht schreibt, der auch noch stolz darauf ist und zugleich der Selbsttäuschung erlegen. Einer, der den Brustton der Überzeugung beherrscht, dessen Orthodoxieanspruch ihn zugleich in die Nähe von Mord und Totschlag rückt.
Mein Kompliment:
Die Täter-Opfer-Verdrehung ist wirklich geschickt gemacht, geradezu genial ist die Andeutung von Mord und Totschlag, ohne dass der Vorwurf ausgesprochen wird. Dem bleibt der Andere nun ausgeliefert, ohne sich dagegen wehren zu können.
Mein Urteil:
Hier stellt jemand seine sprachlichen Fähigkeiten in den Rahmen seiner eigenen Machtinteressen. Nicht tiefere Einsicht ist hier das Ziel, nicht die Reflexion der eigenen Rolle, sondern die Wiederherstellung von Selbstgerechtigkeit, die er ironischerweise seinem Gegenüber vorwirft. Ich nenne so etwas eine "angewandte Dichtung" (im Politischen wäre es wohl "Propaganda") und finde es bedauerlich, wenn jemand sein Talent dazu missbraucht. Von einer gelungenen Dichtung erwarte ich mehr.
Gern kommentiert.
LG JB