Frühaufsteher? – Nein, Langschläfer!

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Vagant

Mitglied
Joe,
für zwei dem Tod geweihte, erscheinen mir diese Carolin und dieser Paul noch ganz schön aufgeräumt; die haben nichts wirklich Tiefes, schon gar nichts, was ewig blutet; fast so, wie dieser JJ aus Hornbys "A long Way down", der sich vom Dach stürzen will, weil seine Band den Durchbruch nicht geschafft hat, ein lebensmüder Wohlstandsjüngling; ja, so in etwas stelle ich mir nun auch diese Carolin und diesen Paul vor - halt nur nicht mehr jung -, und da hat es die Fantasie aber nun wirklich schwer, hier eine überzeugende Motivation herauszulesen.
Gruß, Vagant.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Hi Vagant,
wie du dir die beiden vorstellst, und wie du sie für dich charakterisierst, ist ausschließlich deine Sache. Du kannst ihnen abnehmen, was sie da vorhaben, du kannst es aber auch lassen. Was du akzeptieren musst als Leser der Geschichte, ist, dass sie es tun. Und wenn du dann weiterliest, wird es entscheidend sein, ob du die Lösung des Problems hinnimmst. Wenn nicht, ist das womöglich keine Geschichte für dich. Macht ja nichts.
Gruß JF
 

Vagant

Mitglied
Hallo Joe.
Einspruch: Lesen muss ich die Figuren so, wie sie mir vom Autor präsentiert werden.
Ob ich ihnen dann, also ausgehend von dieser Basis, ihr Handeln und die "Lösung des Problems" abnehme, das liegt, wie du hier richtig sagst, aber ganz allein in meinem Ermessen; und nach meinem subjektiven Leserermessen sehe ich die Figuren hier nirgens in einem dermaßenen Dilemma, aus dem sich eine glaubwürdige Motivation für den Aufhänger deiner Erzählung herauslesen ließe.
Wenn ich mich da beim Aufhänger schon nicht richtig mitgenommen fühle, dann funktioniert es für mich hinten raus dann leider auch nicht mehr.
Aber egal, denn es ist, wie du's schon gesagt hast: macht ja nichts.
Gruß, Vagant.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Einspruch, Vagant: Warum, glaubst du, hat Hemingway den Selbstmord gewählt? Kleist? Trakl? Jack London? Celan? Virginia Woolf? Andere? Ein Zitat:
"… und die schreibenden und malenden Selbstmörder konnten den Prozess vom erfolgreichen Leben in die Tragik ihres Scheiterns beschreiben. Wir können ahnen, was in ihnen vor sich gegangen ist. Bei vielen wetterleuchtet das Ende schon lange vor der Tat durch ihr Leben. Selbstmörder ist man lange bevor man sich umbringt, schreibt Jean Améry. Und dann geht es ganz schnell. Warum begeht man Selbstmord? fragt Klaus Mann, als sich wieder einer seiner Freunde getötet hat. Plötzlich ist man am toten Punkt, am Todespunkt. Die Grenze ist erreicht. Kein Schritt weiter! Wo ist der Gashahn? Her mit dem Phanodorm! Schmeckt es bitter? Was tut's? Das Leben hat nicht eben süß geschmeckt." (Birgit Lahan, Tagespiegel) – Und erschreckend banal kann der Selbstmord auch motiviert sein: Der Blick in den Spiegel ins eigene alternde Gesicht, der Verlust der Träume am frühen Morgen …
Gruß JF
 

Tula

Mitglied
Hallo Joe

Für mich eine wunderbare Geschichte, mit unterschwelligem Humor, der dem Ganzen seinen eigentlichen Reiz verleiht, dem Ernst des Themas nicht widersprechend. Da gehört der 'unglaubwürdige' Entschluss, sich vor dem vermeintlichen Abschied noch einmal einen Tag im Freizeitbad zu gönnen, selbstverständlich dazu. Die Auflösung mit Rilke kommt selbst beim dargestellten verkrachten Dichter unerwartet (wie es sich gehört), während das zitierte Gedicht die eigentliche Aussage der Handlung auf wundervolle Weise bekräftigt.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Danke Tula (dem Rilke hab ich etliche Male schon gedankt). Ich bin froh, dass du die Geschichte so siehst. So erhoffe ich es mir von den Lesern. Dazu noch eine Anmerkung: Ich gehe mit meinen Geschichten immer auf die Bühne, ich kann Geschichten professionell (das Publikum in die Geschichte hineinzwingend) rüberbringen, und eben diese Geschichte, die trotz des Themas zunächst belanglos heiter sich aufbaut, dann ins Dramatische umschwenkt – die Leute nehmen am Schluss die Lösung als glaubhaft an. Ich habe bisher nie jemanden dazu gehört, der gesagt hätte: "konstruiert" oder "literarisch", nein, die Zuhörer sind am Ende davon überzeugt, dass eine Lösung so möglich gewesen ist. Und genau das hast du ja auch auch so gesehen.
Gruß Joe

Noch ein ps (fällt mir gerade ein): Ich habe mit dem Gebärdensprachler vom Fernsehen (der im dritten Programm bei den Nachrichten) gesprochen und ihn gefragt: Kann man ein Rilke-Gedicht in die Gebärdensprache übersetzen? Seine Antwort: Mühelos sogar ein ganzes Shakespeare-Stück.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21286

Gast
Hallo Joe,
Danke für Deine Geschichte.
Was mir gut gefällt: der erste Satz - der hat mich tatsächlich neugierig gemacht.
Großartig ist die Idee, eine Taubstumme per Gebärdensprache von einem Freitodversuch vom Sprungturm runterzuholen - klasse!
Weniger stark finde ich die Charakterzeichnungen von Carolin und Paul - die sind mir generell zu lang und erst recht für das, was ich dann von ihnen erfahre.
Die Frage, ob ihre Situationen einen Suizid rechtfertigen würden, habe ich mir beim lesen nicht gestellt, weil sie mich nicht besonders interessiert hat. Das Gleiche gilt für die "Langschläfer - Frühaufsteher"-Thematik.
Kurzum: richtig gut wird Deine Story für mich im Schwimmbad. Da kriegt die Geschichte Tempo, auch weil Du einen anderen sprachlichen Rythmus fährst (Wechsel von langen und kurzen Sätzen). Wobei inhaltlich auch hier für meinen Geschmack noch einiges weg könnte (Eisverkäufer, Drei-Mann-Combo u.a.).
Das Gedicht von Rilke hat mich nicht umgehauen - aber dass Paul Poesie für seinen Rettungsversuch benutzt, ist ein sehr schöner Dreh.
Grüße und weiterhin frohes Schaffen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Danke, Norbert, für die Einschätzung. Irgendjemand (ich habe vergessen, wer) hat die Metapher von der "Banalität des Todes" geprägt. Also: der Eisverkäufer, ein albernes Banjo-Lied, dann unerwartet die Konfrontation mit dem Tod – eine unglaublich banal ablaufende Kettenreaktion. Zur Motivation der Kandidaten habe ich oben schon meine Sicht skizziert. Den Rilke lies vielleicht noch mal. Für mich ist dieses Gedicht allen Gedichten des Genres "Lebenslauf", die ich kenne, uneinholbar überlegen.
Gruß Joe
 



 
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