Glaube und Wissenschaft
Monica fand, dass ihr Chef Jim Goodman eine merkwürdige Gestalt hatte, mit seinem großen Glatzkopf und seinem schmalen Körper, als hätte jemand den Kopf eines Erwachsenen auf den Körper eines Kindes gepflanzt. Er war zwar ein guter Freund von ihr, aber auch ein Tyrann als Chef, da er hartnäckig auf seinem Standpunkt beharrte. „Wir sind kurz vor der Schließung und du willst jetzt Urlaub machen?“ Empört sah er Monica an, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte und ihr direkt in die Augen schaute.
Sie saß in seinem Büro, ihm gegenüber, und beugte sich in ihrem Stuhl vor. „Jim, ich brauche diesen Urlaub.“
Ihr Chef schüttelte den Kopf. „Dir ist doch klar, dass die Regierung uns im Nacken sitzt. Wenn wir nicht bald brauchbare Ergebnisse liefern, werden sie uns die Gelder streichen, dann können wir die Forschungsanstalt schließen und dann hast du genug Zeit für deinen Urlaub.“
„Ich muss nach Italien“, sagte sie mit Nachdruck.
„Und ich muss mich vor der neu gewählten Regierung rechtfertigen, und glaub mir, darauf habe ich keine Lust. Wir kommen mit den Klonexperimenten nicht weiter. Ich brauche jetzt jeden Mann“, erwiderte er und verschränkte seine dünnen Arme vor seiner schmalen Brust.
Monica stand auf und lehnte ihren schlanken Körper, abgestützt mit den Händen, über den Arbeitstisch ihres Chefs. Sie sah ihm tief in die Augen.
„Jim, mein Bruder Toni wurde zum Klostervorsteher ernannt, und ich habe ihn seit sechs Jahren nicht gesehen. Es ist ein wichtiges Ereignis für meinen Bruder, für mich und für meine Familie.“
„Monica, ich will und kann dich nicht gehen lassen, da du zu meinen besten Mitarbeiterinnen gehörst.“
„Ich brauche doch nur eine Woche Urlaub“, bettelte sie.
„Das ist eine Woche zu viel“, erwiderte er mit versteinerter Miene.
Monicas schmales Gesicht nahm eine stark rote Farbe an. Die Wut kochte in ihr hoch, wie ein Vulkan, der kurz davor stand zu explodieren. Verzweifelt griff sie sich mit den Händen in ihre schwarzen Locken, die langsam einen Graustrich bekamen, und fing an, vor Jims Arbeitstisch hin und her zu gehen. „Ich arbeite seit vier Jahren ununterbrochen!“, brüllte sie schon fast, während sie den Zeigefinger auf ihren Chef richtete. „Und hatte seit dieser Zeit keinen richtigen Urlaub. Seit vier Jahren mache ich unzählige Überstunden und arbeite fast jeden Tag verdammte zehn Stunden, und jetzt kann mir dieses Institut etwas zurückgeben. Ich habe mir meinen Urlaub verdient!“ Sie schlug mit der rechten Faust auf den Arbeitstisch, so dass der Monitor und zwei Bilder auf dem Tisch kurz erzitterten, dann stemmte sie ihre Hände in die Hüften. Mit schmollendem Mund sah sie ihren Vorgesetzten an.
Jim blieb völlig ruhig. Typisch Brite, dachte sich Monica. Lediglich eine Augenbraune ging bei ihm nach oben. Er schwieg für einen Moment, dann sagte er: „Monica, Liebes, die Genexperimente haben bis jetzt zu keinen Ergebnissen geführt. Alle Klone sind früher oder später eingegangen. Ich muss mich demnächst vor dem Finanzausschuss rechtfertigen.“
„Das ist nicht meine Schuld. Ich habe meinen Teil beigetragen. Ich habe in den letzten Jahren alles gegeben.“ Stehend und immer noch die Hände in die Hüften stemmend, hielt sie für einen Moment inne. Nun langsam und leise: „Ich habe mir meinen Urlaub verdient, Jim.“
Es herrschte eine Stille zwischen den beiden. Monica stand einfach nur da und sah ihren Chef mit durchdringendem Blick an. Dieser wich ihrem Blick aus und legte seine Stirn in Falten. Seine Augen wanderten über den Boden vor seinen Füßen, als würde er etwas suchen, dann sah er Monica wieder an.
„Na gut, du gehörst zu meinen besten Forscherinnen. Ich geb dir drei Tage, mehr nicht.“
„Fünf Tage“, erwiderte sie sofort.
„Vier Tage, und das ist mein letztes Angebot.“
„Damit bin ich zufrieden“, sagte Monica und ließ sich auf den Stuhl mit einem lauten Ausatmen fallen. Ihr Herz schlug wieder gleichmäßiger. Sie schloss für einen Moment die Augen und glättete dann ihren Rock.
„Das ist eine absolute Ausnahme.“ Jim drohte ihr mit dem Finger. „Ich hasse dich. Irgendwie kriegst du mich immer wieder rum.“ Wieder runzelte er die Stirn.
Monica lehnte sich im Stuhl zurück und schenkte ihrem Chef ihr schönstes Lächeln.
Monica wusste, früher oder später würde ein Aufschrei durch das Labor gehen und jemand würde sie wegen ihres Sonderurlaubs kritisieren.
Und so kam es auch, als sie sich ein paar Tage später nach einem harten Arbeitstag im Umkleideraum des Forschungsinstituts aufhielt.
Sie stand vor ihrem offenen Spind und warf ihre gelben Gummihandschuhe und ihre Schutzbrille hinein. Es war mal wieder ein enttäuschender Tag im Labor gewesen, wie so oft.
Zwei Klone waren überraschend gestorben. Ein Klon hatte vom Embryostadium bis zum 15. Lebensjahr nur eine Woche gebraucht, um sich zu entwickeln, und war dann plötzlich gestorben, und ein weiterer Klon war nach zwei Tagen, noch im Embryostadium, verendet. Die Klone hatten unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Letztendlich starben sie aber alle früher oder später, ohne dass jemand genau wusste, warum.
Mit ihrer rechten Hand massierte sie ihren Nacken. Sie fühlte die Anspannung am ganzen Rücken. Der Stress im Labor belastete sie.
Monica sah ihr Gesicht im kleinen Spiegel an der Innenseite der offenen Spindtür. Ihre Falten unten den braunen Augen, ihr schmales Gesicht und ihre langsam ergrauenden Locken. Sie war nicht mehr die Jüngste.
Die Tür der Umkleidekabine ging auf und riss Monica aus ihren Gedanken. Sie sah, wie die Mitarbeiterin Jessica mit müdem Blick in die Umkleidekabine trottete.
Oh nein, dachte sich Monica, die hat mir gerade noch gefehlt, als wäre der Tag nicht schon schlimm genug gewesen.
Jessica, klein und pummelig, war zwar eine gute Mitarbeiterin, leider aber auch eine sehr streitsüchtige. Monica war in der Vergangenheit ziemlich oft mit ihr aneinandergeraten, daher nickte sie ihr nur kurz zu, um nicht unnötig mit ihr reden zu müssen.
Jessica erwiderte den Gruß beiläufig und ging an den Spind gleich neben Monica. Mit einer trägen Bewegung öffnete sie diesen. Während Jessica ihre Handschuhe und ihre Schutzbrille in den Schrank warf, sagte Jessica: „Sieh an, die Urlauberin.“
Monica war gerade dabei, ihren Laborkittel an einem Haken im Spind aufzuhängen, und blieb in der Bewegung stehen. Sie sah Jessica an. Lass dich nicht provozieren, ermahnte sich Monica selbst.
Jessica fuhr fort: „Ich habe gehört, du fliegst weg. Ich dachte, wir haben doch alle eine Urlaubssperre?“ Jessica schloss den Spind ziemlich schnell, nachdem sie ihren Laborkittel hineingeworfen hatte, und sah Monica mit einem provozierenden Blick an.
Monica atmete erst mal lange aus. Sie spürte, wie ihr innerer Vulkan langsam anfing zu brodeln. Sie konnte Jessica nicht entkommen, da sie im selben Laborbereich arbeiteten, und früher oder später würden sie eine gemeinsame Aufgabe haben.
„Es ist eine Ausnahme“, erwiderte Monica zögernd.
„Eine Ausnahme?“, fragte Jessica erschrocken und fuhr fort: „Seit wann macht das Institut Ausnahmen?“
„Ich habe meinen Bruder in Italien seit Jahren nicht gesehen, außerdem wurde er zum Klostervorsteher ernannt.“ Kaum dass sie das Letzte gesagt hatte, bereute sie es auch schon. Monica biss sich auf die Unterlippe.
„Dein Bruder lebt in einem Kloster?“, sagte Jessica ungläubig. Sie sah aus, als hätte ihr jemand einen Schlag ins Gesicht gegeben.
Monica erwiderte nichts, sie nickte nur.
Für einen Moment herrschte Stille.
Jessica, die immer noch vor ihrem Spind stand, richtete ihren Blick, an Monica vorbei, in die Ferne. „Meine Mutter war auch gläubig. Sie hat mich immer in die Kirche geprügelt. Gott, habe ich Jesus und die verlogenen, pädophilen Priester dafür gehasst.“ Jessica schüttelte angewidert den Kopf.
Monica reagierte nicht darauf. Sie hatte im Laufe ihres Lebens gelernt, nicht über Religion und Glauben zu diskutieren, besonders nicht mit Menschen, die sie nicht als Freund oder Bekannte bezeichnete.
Jessica schien weiterhin in Gedanken versunken zu sein und redete an Monica vorbei: „Ich meine, das ist doch alles Unsinn. Die unbefleckte Empfängnis. Eine Frau kriegt ein Kind, ohne Sex zu haben. Wie soll das möglich sein? Oder die Wiederkunft Jesus. Ich habe mich immer gefragt, wie das aussehen soll. Kommt er schwebend auf eine Wolke nieder und sagt dann: Hallo, hier bin ich?“ Jessica verzerrte dabei ihr Gesicht und spielte Jesus nach, indem sie unbeholfen mit der Hand winkte.
Monica zog ihre kurze Lederjacke an und nahm ihre Handtasche aus dem Spind. Sie drehte sich zu Jessica um. Sie verspürte das starke Verlangen, Jessica zu würgen. Dieses Verlangen verspürte sie ziemlich oft bei Jessica.
„Ich weiß das alles nicht, aber ich weiß, warum ich Urlaub bekommen habe und du nicht.“
Jessica sah für einen Moment Monica verdutzt an, dann fasste sie sich wieder. „Na, erzähl mal“, sagte sie herausfordernd und verschränkte ihre Hände vor der Brust. Sie ging den einen Schritt zwischen ihren beiden Spindtüren und stellte sich Monica gegenüber.
„Weil ich meine Arbeit mache, anstatt nur Streit zu provozieren. Das ist fehl am Platz bei diesem Beruf und in dieser schwierigen Situation.“ Daraufhin knallte Monica ihre Spindtür zu und ließ Jessica mit rotem Gesicht zurück, ohne auf ihre Reaktion zu warten.
Ziemlich genervt fuhr Monica mit ihrem Auto vom Labor in die Stadt Edinburgh hinein, wo sie wohnte.
Zwei Tage später, der Streit mit Jessica war längst vergessen, flog Monica nach Venedig zu ihrem Bruder Toni. Ihr Bruder holte sie vom Flughafen ab.
Am gleichen Tag fuhren sie gemeinsam zum Grab der Eltern, wie sie es immer taten, wenn Monica in die Lagunenstadt kam.
Am darauffolgenden Tag zeigte ihr Toni das Kloster, in dem er lebte und welches sich in der Nähe Venedigs befand. Er führte sie durch den Garten, in dem hauptsächlich Beete voller Wildrosen und Gänseblümchen wuchsen und der sich in der Mitte eines Säulengangs befand.
Dann zeigte er ihr die alte Bibliothek mit den verstaubten Holzregalen, in denen antiquarische Bücher vorhanden waren, die so groß waren wie ein Kind, und gemeinsam gingen sie dann zu dem schmucklosen Essraum mit den langgezogenen Holztischen und Holzbänken.
Es war schon acht Jahre her, dass Monica das letzte Mal in diesem Kloster war, und es war alles so geblieben, wie sie es in Erinnerung hatte, als wäre die Zeit stehen geblieben. An diesem Ort erlosch ihr innerer Vulkan und sie genoss die Stille und die Erhabenheit, die in den einfachen Räumen herrschte.
Am späten Abend gingen sie dann tief in das Kellergewölbe, weil Toni ihr etwas Wichtiges zeigen wollte. Nach einem kurzen Gang durch einen dunklen Steinflur betraten sie durch eine Holztür einen der Kellerräume. Monica konnte kaum etwas sehen in diesem Raum, da die einzige Lichtquelle der fünfarmige Kerzenständer war, den der Bruder mit nach unten genommen hatte. Es roch muffig im Raum und Monica nahm respektvollen Abstand von den feuchten Steinwänden, nachdem sie diese aus Versehen mit der Handfläche berührt hatte.
Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, aber das Einzige, was sie im Raum erkennen konnte, waren die vagen Umrisse von Holzkisten, die in einer Ecke aufeinandergestapelt lagen, und der Holztisch, auf den ihr Bruder Toni den Kerzenständer abgestellt hatte.
Monica fröstelte. Mit verschränkten Armen stellte sie sich neben den Tisch mit dem Kerzenständer, der sich mitten im Raum befand, und streichelte mit ihren Händen ihre Oberarme. Sie bekam eine Gänsehaut an diesem Ort, ohne dass sie sagen konnte, warum.
Ihr Bruder Toni kramte in der Ecke zwischen den unterschiedlich großen Holzkisten.
„Was wollen wir hier?“, sagte sie zögernd.
Bis jetzt hatte sie die Kellerräume des Klosters nie zu Gesicht bekommen.
Toni drehte sich zu ihr um; im Kerzenschein konnte sie sehen, dass er eine kleine Holzkiste in den Händen hielt. Er lächelte sie an, auch das konnte sie noch erkennen.
Monica fand, dass sein verschmitztes, schiefes Lächeln etwas Freches und Provozierendes an sich hatte, etwas, das so gar nicht zu einem Mönch oder gar Klostervorsteher passte.
Seit ihrer Kindheit fühlte sie sich von diesem Lächeln provoziert, und als sie noch jung war, hatte fast jeder Streit mit diesem Lächeln angefangen.
„Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust“, sagte er mit großen braunen Augen, die ihren so ähnlich waren.
Monica runzelte die Stirn. Sie schaute auf die Kiste.
„Was für einen Gefallen, und was ist da drinnen?“
Ihr Bruder kam noch näher zu ihr und zu dem Tisch mit dem Kerzenständer.
Monica konnte nun erkennen, dass es eine schäbig aussehende Holzkiste war mit einem halbrunden Deckel. Sie schien abgenutzt zu sein und die Oberfläche war voller Kerben.
Er öffnete den Deckel und hielt ihr den Inhalt entgegen, dann sagte er mit ehrfurchtsvoller Stimme: „Ein Stück vom Holz Christi.“
Monica blickte erst gar nicht in den Kasten und lachte nur. Sie wedelte mit der rechten Hand, als würde sie versuchen, eine Fliege zu verscheuchen. „Ah, komm schon, Toni! Was ist das schon wieder für ein Unsinn? Wenn man alle Holzteile, die als Kreuz Christi verehrt werden, zusammenlegt, hat man mannshohe Kreuze von hier bis nach Jerusalem.“ Sie zeigte mit der rechten Hand in die Richtung, in der sie die besagte Stadt vermutete. „Hast du mich hierhergebracht, um mir eine verdammte Reliquie zu zeigen?“, fragte sie leicht wütend und verschränkte wieder ihre Arme. Sie sah ihn genervt an.
Toni kämmte sich mit einer Hand durch sein volles braunes Haar, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das ist mehr als nur eine Reliquie. An diesem Stück ist das Blut Christi vorhanden.“
„Bestimmt“, erwiderte Monica schnell und trocken.
Sie sah sich nun das kleine Stück Holz in der Kiste an, die ihr Bruder ihr immer noch entgegenhielt. Es war nicht länger als ihr Zeigefinger und nicht breiter als eine gewöhnliche Briefmarke. Das obere und untere Ende des Holzstücks waren zackig, als hätte es jemand mit Gewalt aus einem Balken ausgerissen. Es hatte eine dunkelbraune Farbe, obwohl noch dunklere Flecken auf dem Stück zu erkennen waren. Sie sah Toni wieder an.
„Das glaube ich nicht“, sagte sie und fuhr seufzend fort: „Toni, warum müssen wir uns immer wieder über Religion streiten?“
Wann immer ihr Bruder und sie zusammentrafen, kam es früher oder später zum Streit über den Glauben und die Religion. Ihr Bruder war ein tief religiöser Mensch, wie ihre gemeinsamen, verstorbenen Eltern, und glaubte der Bibel blind, während für Monica die Geschichten des Christentums einfach nur Märchenerzählungen waren. Lange Zeit hatten sie beide es geschafft, das Thema zu meiden, da beide wussten, es würde wieder zum Streit kommen. Monica wunderte sich, warum ihr Bruder jetzt aber wieder damit anfing, obwohl sie sich so viele Jahre nicht gesehen hatten und kaum Kontakt miteinander hatten.
„Ich will mich nicht mit dir streiten, Monica. Es ist keine Reliquie, denn es war nie für die christliche Gemeinde gedacht.“
Monica runzelte wieder die Stirn: „Für wen denn sonst?“
„Nur für die Gemeindevorsteher“, sagte er zufrieden.
„Für die Gemeindevorsteher?“, fragte sie irritiert.
„Ja, für die Anführer der ersten christlichen Gemeinden. Die Apostelfürsten, wenn du so willst. Die Überreste des Kreuzes von Jesus, besonders wegen seinem Blut drauf, sollte sie in ihrem Glauben stärken.“
Monica zog eine Augenbraune hoch. „Von dieser Geschichte habe ich noch nie etwas gehört.“
Monica kannte die Geschichten der Bibel und des Christentums in- und auswendig, da ihre Eltern sehr gläubig waren, und als sie noch jung war, hatte sie auch geglaubt, dass diese Geschichten wahr waren, bis sie irgendwann für sich erkannte, dass die Bibel letztendlich ein Fantasiewerk war.
„Weil sie nie an die Öffentlichkeit kamen.“
„Und woher weißt du dann davon?“ Monica sah ihren Bruder mit schief geneigtem Kopf an.
Toni lachte kurz auf. „Ein Klostervorsteher hatte mir von diesen Holzstücken erzählt. Er lebte in einem Kloster in der Nähe von Rom. Dort hatte ein Papst im 12. Jahrhundert das Holzstück aus Rom hingebracht, als durch das gleichzeitige Auftreten von drei Päpsten, die gegeneinander kämpften, die katholische Kirche fast zerbrochen wäre. Der Klostervorsteher war krank und übergab mir den Kasten mit dem Holzstück, kurz bevor er starb. Er hütete das Geheimnis in einer langen Tradition.“
„Er gab dir diesen wichtigen Kasten anstatt den Mönchen im eigenen Kloster? Er hatte wohl wenig Vertrauen zu den eigenen Brüdern“, sagte Monica mit einem leichten Hauch von Spott in der Stimme, den sie einfach nicht unterdrücken konnte.
Monica konnte schon ahnen, warum der alte Klostervorsteher Toni ausgewählt hatte. Ihr Bruder war zwar ein guter Mensch, aber auch unglaublich naiv. Leicht anfällig für religiöse Legenden, denen er blind glaubte.
Toni zögerte für einen Moment. „Das weiß ich nicht genau, aber der alte Mann vertraute mir den Kasten an.“
„Und du glaubtest ihm?“
Toni schürzte die Lippen. „Nein, im Grunde genommen nicht. Ich forschte nach den anderen Holzteilen. Leider gab es nur sehr spärliche Quellen darüber. Angeblich gab es nur vier echte Holzstücke mit dem Blut Christi, alle anderen Reliquien sind nicht authentisch.
Diese vier Teile wurden von Petrus zu den wichtigsten Städten des frühen Glaubens gebracht, wo die ersten christlichen Gemeinden entstanden. Dort wurden diese Holzstücke den Gemeindevorstehern zur Aufbewahrung übergeben.
Diese Städte waren Antiochia im heutigen Libanon, wo Petrus selbst der Vorsteher war und ein Holzstück für sich behielt, Alexandria in Ägypten, Damaskus in Syrien und als Letztes Rom in Italien. Die Teile des Kreuzes sollten von Gemeindevorsteher zu Gemeindevorsteher vererbt werden, um sie als Anführer der christlichen Gesellschaft in ihrem Glauben zu stärken. Weder die christlichen Mitmenschen noch jemand anders sollte etwas von diesen Holzteilen erfahren, damit sie keiner stehlen oder vernichten konnte, da sie zu wertvoll waren.
Soweit ich das recherchieren konnte, wurde das Holzstück in Antiochia zum letzten Mal erwähnt gegen Ende der Kreuzzüge, in dem Bibliotheksregister eines Klosters.
Über das Holzteil in Alexandria schrieben die Araber im 9. Jahrhundert, als sie Ägypten eroberten, dann verliert sich die Spur. Über das Stück in Damaskus habe ich leider keine Quellen gefunden. Aber allem Anschein nach gab es diese anderen Holzteile wirklich.“
„Das hört sich alles nach einer tollen Gutenachtgeschichte an.“ Monica hatte keine Lust mehr, mit ihrem Bruder über diese Reliquie zu diskutieren. „Aber warum erzählst du mir das alles?“
„Wie ich dir schon vorhin gesagt habe, möchte ich, dass du mir einen Gefallen tust.“
„Welchen Gefallen?“ Monica sah ihren Bruder mit zusammengekniffenen Augen an.
Toni atmete tief durch. „Ich möchte, dass du das Blut auf dem Holzstück untersuchst.“
„Was?“, schrie sie fast, dann schüttelte sie den Kopf und fuhr fort: „Blut kann sich nicht so lange halten.“
„Laut dem alten Klostervorsteher wurde das Holzstück immer kühl gelagert in dunklen Räumen. Es wurde immer gut darauf aufgepasst.“
„Toni, es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit unbrauchbar.“
„Ich möchte nur wissen, ob du etwas herausfinden kannst. Es ist nicht für die Kirche oder die Öffentlichkeit gedacht, sondern nur für mich selbst.“
Monica stutzte innerlich für einen Moment. Seit wann war ihr Bruder so egoistisch?
„Ich kann nicht einfach so ins Labor marschieren und eine persönliche Untersuchung vornehmen.“
„Ich bin mir sicher, du findest einen Weg. Schließlich bist du doch dort eine wichtige Person.“
Monica glaubte einen Hauch von Abneigung in seiner Stimme zu hören.
Eigentlich dürfte er gar nicht wissen, als was sie in Edinburgh, Scotland, arbeitete, aber Monica sah damals keine Gefahr, ihn einzuweihen, schließlich lebte er in einem Kloster und war ein verschwiegener Mensch.
„Das ist viel zu gefährlich. Wegen so einer Aktion könnte ich meinen Job verlieren.“
„Es geht hier um eine wichtige Sache. Mir ist es sehr wichtig.“ Die Stimme von Toni hatte etwas Flehendes an sich, etwas Bettelndes, bemerkte Monica.
Sie zog eine Braune hoch. Hatte ihr Bruder etwa Zweifel am Glauben? Es war immer ein erbitterter Kampf zwischen ihr und Toni gewesen, um Religion und Wissenschaft, der teilweise so weit ging, dass sie mehrere Jahre nicht miteinander geredet hatten. Erst als ihre Eltern bei einem Autounfall verunglückten, kamen sie sich wieder näher. Für Monica hatte Toni sein Potential verschwendet, weil er sich für ein Leben im Kloster entschieden hatte. Er hätte so viel machen können aus seinem Leben, eine Familie gründen oder eine Karriere, stattdessen entschied er sich, sein Leben zu verschwenden in diesem abgeschiedenen Geschichtsmuseum auf einem Berg im Hinterland von Venedig.
Bestand nun die Möglichkeit, ihm endlich klarzumachen, dass er ein Leben lang an Fantasiegestalten geglaubt hatte? Dass er ein Leben lang einem Irrtum hinterhergelaufen war? Hatte ihr Bruder das endlich eingesehen? Das irritierte Monica. Woher kam diese Einsicht? Irgendwie störte sie das. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke nicht, dass er sich vom Glauben abgewandt hatte, obwohl sie nicht sagen konnte, warum. Als hätte man ihr den Wind aus den Segeln genommen, da sie ihr Ziel nach so langer Zeit erreicht hatte.
„Ich kann dir nichts versprechen, Toni, aber ich schaue, ob ich eine Möglichkeit finde, mir das Blut anzugucken.“
Ihr Bruder nickte und seufzte erleichtert.
Es wurde still zwischen den beiden. Monica nahm den Kasten von ihrem Bruder entgegen und sah sich noch mal im Kerzenschein das Holzstück an.
Drei Tage später war sie wieder im Labor in der Nähe von Edinburgh. Die Ruhe des Klosters, die wunderschönen Brücken Venedigs und das merkwürdige Gespräch mit ihrem Bruder waren schnell vergessen. Die Hektik des Alltags hatte sie wieder. Es regnete ununterbrochen in Edinburgh, so wie es Monica gewohnt war.
Ihr Forschungsteam, in dem sie arbeitete, war nicht erfreut, dass sie einige Tage nicht im Labor war, und das ließ man sie spüren. Keiner fragte, wie ihr Urlaub war, ob es ihr gut ging oder wo sie überhaupt gewesen war. Man ignorierte sie, so weit wie möglich, besonders Jessica.
Die Experimente liefen weiterhin nicht gut. Das Team machte keine Fortschritte. Vielleicht war auch deswegen eine so schlechte Stimmung im Team, dachte sich Monica.
Es war einfach eine frustrierende Sache mit diesen Klonen. Das Problem war, man wusste, aus welchen Molekülen die Erbinformation bestand. Das war erforscht worden, aber das Zusammenspiel der riesigen Molekülketten, der Bausteine der Erbinformation, war noch nicht vollständig klar.
Es gab kein einzelnes Gen, auf das man zurückführen konnte, ob jemand blond war oder eine kriminelle Neigung hatte. Das war ein Mythos, der durch die Medien geisterte. Solche Eigenschaften wie die Haar- oder Hautfarbe wurden durch ein Zusammenspiel von unzähligen Genen festgelegt, und Monica und ihr Team hatten die Aufgabe, dieses Zusammenspiel zu erforschen, zu verstehen und nachzuvollziehen.
Es war, als würde man wissen, wo welcher Musiker in einem Orchester sitzt, aber nicht, nach welchen Noten die einzelnen Mitglieder miteinander spielten. Nur glichen diese Musiker nicht einem Orchester, sondern einem gewaltigen Ameisenhaufen.
Das Zusammenspiel der unzähligen Gene zu erforschen, war eine Mammutaufgabe. Monica hatte aber diese Herausforderung angenommen, als sie im Forschungsinstitut der britischen Regierung anfing.
Eines Morgens, lange nachdem Monica aus Italien zurück war und die anderen Mitglieder im Labor mit ihr wieder sprachen, entschied sie, dass es Zeit war, das Holzstück mit zur Arbeit zu nehmen, schließlich würde sie an diesem Abend allein im Labor sein.
Monica war nun selbst neugierig, was diese Reliquie betraf, weil ihr Bruder so versessen darauf war, herauszufinden, ob es authentisch war oder nicht. Sie packte daher in aller Frühe den kleinen Holzkasten, den sie im feuchten Kellerraum verwahrt hatte, in ihre Handtasche und fuhr damit zum Forschungsinstitut.
Nach zehn Stunden harter Arbeit saß sie allein vor einem Computer im Hauptlaborraum. Monica saß an einer der Arbeitsplätze, die entlang der Wand des Labors aufgestellt waren. Hinter ihr in der Mitte des Raums waren die sechs mannshohen Zylindergefäße, in denen jeweils ein Klon in einer Flüssigkeit schwebte. Die Klone waren an Drähte und Schleusen angeschlossen.
Als Monica sicher war, dass der letzte Labormitarbeiter, auch in den Nebenräumen, weggegangen war, nahm sie den kleinen Kasten aus ihrer Handtasche, die die ganze Zeit zu ihren Füßen lag. Sie zog sich Handschuhe über und öffnete den Deckel des Kastens. Vorsichtig nahm sie das dünne und kleine Holzstück heraus.
Sie wandte sich mit ihrem Stuhl zum weißen Metallkasten, der neben dem Monitor auf dem Arbeitstisch stand. An der Vorderseite des Metallkastens öffnete sie einen kleinen Deckel, und eine dünne Plastikplatte kam aus der Öffnung herausgeschossen. Monica legte das Holzstück auf die Plastikplatte und drückte diese wieder hinein.
Sie fragte sich, ob noch etwas brauchbares Blut vorhanden war oder ob die ganze Aktion nicht einfach nur lächerlich war. Nichtsdestotrotz aktivierte sie den Laserscanner, indem sie ein paar Knöpfe drückte an der Seite des Apparats, und der weise Metallkasten fing an zu rattern wie ein alter Traktor.
Auf dem Monitor vor ihr erschien eine dreidimensionale Abbildung des Holzstücks, welches aufrecht stand und sich um die eigene Achse drehte.
Es dauerte ein paar Minuten, dann fingen einige Stellen auf der Abbildung des Holzstücks an zu blinken. Monica zog eine Augenbraue hoch, tatsächlich hatte das Programm Blutspuren und damit ganze DNA-Stränge gefunden.
Sie drückte ein paar Tasten auf der Tastatur und ließ am Computer die ersten Hochrechnungen fahren, um welche DNA-Moleküle es sich handelte.
Die dreidimensionale Abbildung des Kreuzes verschwand und eine Auflistung von Genbezeichnungen erfolgte.
Fünf lange Reihen von Gennamen standen nebeneinander auf dem Monitor. Monica überflog die ersten Zeilen der Liste: Haboglid 54, Haboglid 84, Haboglid 67. Alle Bezeichnungen für Genmoleküle, die typisch für den Mittleren Osten waren. Eine neue Bildschirmseite mit fünf weiteren langen Reihen von Gennamen erschien und danach noch weitere Seiten. Auf die Schnelle konnte Monica erkennen, dass es sich um eine männliche Person handelte, die für heutige Verhältnisse nicht besonders groß war. Er musste dunkle Haare gehabt haben, einige Genbezeichnungen wiesen darauf hin, aber man müsste dies noch weiter untersuchen.
Monica drückte einen Knopf auf der Tastatur und die Auflistung der vorhandenen Genmoleküle stoppte. Die Auflistung sämtlicher Gene würde Abertausende von Seiten füllen.
Sie ließ sich mit dem Oberkörper in den Stuhl nach hinten fallen, atmete hörbar aus und strich sich mit den Händen durch das teilweise ergraute Haar. Soweit sie das feststellen konnte, waren das alles Merkmale, die auf jeden beliebigen Menschen des Mittleren Ostens in den letzten 2000 Jahren passen würden. Der Aufwand wäre zu groß, um nachzuprüfen, inwieweit die Merkmale der Gene dem traditionellen Bild von Jesus entsprachen.
Früher oder später würde das jemandem im Labor auffallen, dass sie hier etwas Privates untersuchte. Gerade bei dieser Situation wäre es undenkbar. Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Unterlippe, dann kam ihr eine Idee.
Sie sollte das Genmaterial vorbereiten für die nächsten Klonversuche, die ab morgen starteten. Die Gene, die mit Genen von einem weiblichen Gegenstück in einem komplizierten Verfahren vermischt werden und dann in den durchsichtigen Flüssigkeitstanks, hinter ihr im Raum, beobachtet werden. Das Material von ihrem Bruder war erstaunlicherweise gut zu gebrauchen. Vielleicht hatten die Klosterleute wirklich immer sorgfältig darauf aufgepasst. Andererseits konnte es auch nur Zufall sein. Gläubige Menschen und besonders ihr Bruder würden, das wusste Monica, sofort dahinter einen höheren Sinn, ja sogar ein göttliches Zeichen vermuten, so albern, wie diese waren. Monica kicherte über den Gedanken.
Sie entschied, dass sie die Proben für morgen vertauschen würde. Der Gedanke beflügelte sie. Alle Embryos sind bis jetzt früher oder später verendet, warum sollte sie es nicht mit einer alten Probe versuchen? Sie würde verhärtete Genstrukturen vom Blut auf dem Holzteil nehmen und es in eine Eizelle verpflanzen. Wenn man sie dabei ertappen würde, dass sie Proben vertauscht hatte, könnte man sie feuern. Nicht, dass ihr Chef das machen würde, dazu waren sie zu lange befreundet, aber jeder andere Mitarbeiter würde sie, ohne mit der Wimper zu zucken, an das Forschungsministerium melden.
Ein paar Stunden später und nachdem sie die Proben vertauscht hatte, fuhr sie glücklich nach Hause.
Die Tage verstrichen und der Embryo im Flüssigkeitstank entwickelte sich gut. Das Vertauschen der Proben hatte keiner bemerkt. In der ersten Woche hatte der Embryo sprunghaft das Alter von 15 Jahren erreicht. Er wuchs erstaunlich schnell und stabil. Im Labor wunderte sich aber keiner. Es war ein tägliches Phänomen, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit der Klone sehr unterschiedlich war.
Jeden Morgen kontrollierte Monica die Werte des vertauschten Klons als Erstes. In der zweiten Woche hatte der Klon das 30. Lebensjahr erreicht. Alle Organe arbeiteten gut, soweit es Monica feststellen konnte. Es war kurios, dass das Material von ihrem Bruder etwas Brauchbares war. Welche Ironie des Schicksals, dass der Glaube der Wissenschaft half, dachte sie sich.
Drei Wochen nachdem Monica die Proben vertauscht hatte, hatte sie nachts einen merkwürdigen Traum. Sie träumte von ihren Eltern. Im Traum befand sich Monica in einem dunklen Raum. Ihre Eltern standen ihr gegenüber. Obwohl es keine Lichtquelle gab, konnte sie beide gut erkennen. Ihre Eltern waren zwei stark ergraute und gekrümmte Personen, die nur aus Haut und Knochen bestanden. Eine unsichtbare Wand trennte Monica von den beiden. Monica sah die Wand nicht, aber sie wusste, dass diese da war. Sie legte ihre rechte Hand auf diese Wand und ihre Mutter die ihre auf der anderen Seite. Sie lächelte ihre Mutter an und die alte Frau lächelte zurück.
Dann verschwand der Traum und Monica erwachte. Sie war irritiert, da sie lange nicht an ihre Eltern gedacht, geschweige denn von ihnen geträumt hatte. Monica öffnete die Augen und sah auf dem Nachttisch neben ihrem Bett, dass der Wecker 8:00 Uhr zeigte. Verdammt, dachte sie sich. Sie hatte den Wecker nicht gehört und sollte heute bereits um 7:00 Uhr im Labor sein. Blitzschnell und mit benommenem Kopf stand sie auf und riss die Gardinen des Schlafzimmers zur Seite.
Ihre Augen weiteten sich und sie ging einen Schritt zurück vom Fenster. Da sie in einem großen Apartment weit oben im 12. Stock eines Hochhauses von Edinburgh wohnte, hatte sie einen guten Überblick über die Stadt. Sie sah, dass sich über der Stadt ein Tornado gebildet hatte.
Stirnrunzelnd betrachtete sie ihn und ihr Blick folgte dem Tornado nach unten bis zum Boden, wo er spitz zusammenlief und knapp über den Häusern der Stadt verschwand. Dieser Tornado schien sich lautlos und langsam um sich selbst zu drehen.
Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie losmusste. Sie zog sich schnell an, machte aus ihren Haaren einen Zopf und verließ das Apartment, ohne zu duschen oder zu frühstücken.
Monica stieg in ihr Auto und drückte das Gaspedal durch. Sie kam zügig durch. Die Straßen waren weitgehend leer. Es waren kaum Autos oder Passanten unterwegs. Vielleicht war es gefährlich rauszugehen wegen des Tornados, aber Monica musste wissen, wie sich der vertauschte Klon weiterentwickelt hatte. Die Neugier war zu groß. Das Projekt zu wichtig. Endlich schien ein Klon länger überlebt zu haben als alle zuvor.
Während sie die weitgehend leeren Straßen entlangfuhr, behielt sie den Tornado im Auge.
Soweit sie das feststellen konnte, schien sich der Tornado nicht weiterzubewegen. Das grau-weiße Ungetüm drehte sich lediglich um die eigene Achse, und das ziemlich gemütlich.
Monica wusste nicht viel über Tornados, aber ein Exemplar, das sich auf einer Stelle um sich selbst drehte, war ihr nicht bekannt.
Sie drehte den Schalter für das Autoradio nach rechts und eine dumpfe Stimme ertönte aus den Lautsprechern am Armaturenbrett. Diese Stimme sagte: „Die Tornados sind praktisch über Nacht in sämtlichen Städten auf der Welt entstanden und sie bewegen sich nicht.“
Monica drehte einen weiteren Knopf am Armaturenbrett. Eine neue Stimme war nun zu hören. „Herr Meyer, danke, dass Sie so kurzfristig vorbeischauen konnten. Können Sie uns als Meteorologe das weltweite Phänomen erklären?“
Eine piepsende Stimme antwortete: „Nein.“ Eine kurze gedehnte Pause entstand. „Ich muss zugestehen, als Meteorologe bin ich ratlos. In der gesamten Geschichte der Wetteraufzeichnung ist so ein Phänomen noch nicht aufgetreten.“
Monica schnaubte und drehte wieder denselben Knopf.
Eine neue Stimme ertönte aus dem Lautsprecher mit einer eindringlichen Tiefe: „... gern noch einmal, bitte bleiben Sie in Ihrer Wohnung. Hier spricht Leutnant Murphy von der Polizei. Bis das Wetterphänomen geklärt ist, bleiben Sie in Ihren Häusern.“
Monica drehte den Schalter, den sie als Erstes bedient hatte, nach links, und die Stimme des Polizeileutnants verstummte. Sie seufzte und eine Stille herrschte im Auto.
Da der trichterförmige Tornado so gewaltig war, dass er sich in den Himmel verlor, konnte sie ihn von jedem Standpunkt in der Stadt aus gut beobachten. Sollte er doch anfangen sich zu bewegen, müsste sie sich schnell etwas überlegen, aber sie kam unbeschadet im Forschungsinstitut an.
Als sie den Hauptlaborraum mit den sechs Klonzylinderbehältern betrat, standen die paar Leute, die zur Arbeit gefahren waren, vor einem Monitor versammelt und hörten gebannt einem Reporter zu. Kein Mitarbeiter nahm Notiz von ihr. Monica sah, dass auf dem Bildschirm, vor dem die Mitarbeiter standen, die Stadtsilhouette von Edinburgh und dahinter der Tornado zu sehen waren.
Monica ging zum Flüssigkeitstank mit dem Klon, bei dem sie die Proben vertauscht hatte und der sich in den letzten drei Wochen so gut entwickelt hatte. Sie beugte sich vor, um auf dem Armaturenbrett und dem kleinen Bildschirm an dem Flüssigkeitsgefäß die Daten zu überprüfen. Sie drückte ein paar Knöpfe und auf dem kleinen Bildschirm erschien ein Diagramm für den Herzrhythmus und eines für die Atmung, darunter eine Zahlenreihe für den Blutkreislauf. Monica klatschte innerlich vor Freude. Das Herz des Klons schlug gut. Die Lunge und der Blutkreislauf wirkten sehr stabil.
Monica musterte den Klon. Die Wachstumsschübe waren in den letzten Tagen total gering gewesen. Er hatte knapp das 30. Lebensjahr überschritten und war klein und dunkelhäutig. Mit Locken und einem gekräuselten Bart schwebte er regungslos in der Flüssigkeit. Seine Augen waren geschlossen. Er war umgeben von kleinen Luftlöchern und angeschlossen an Drähte und Schläuche. Monica legte eine Hand an den Tank und versenkte sich in den Anblick des nackten, behaarten Körpers.
Plötzlich riss Jim, der Chef, die Tür zum Laborraum auf. Mit knallrotem Kopf blieb er an der Tür stehen und schrie: „Wer zum Teufel hat die Proben für die Klone vertauscht?“
Alle Köpfe im Raum, außer Monicas, wandten sich ihm zu. Es wurde totenstill im Labor.
Monica löste ihre Hand vom Tank, und dann erkannte sie es, dann verstand sie es endlich.
Ihr Bruder hatte so Recht gehabt. Er hatte die ganze Zeit Recht gehabt.
Oh Gott, wieso hatte sie es nie eingesehen?
Sie drehte sich zum Chef um, der immer noch an der Tür stand, und zitierte die Bibel, Offenbarung 1, Vers 7: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen und alle, die ihn durchbohrt und verhöhnt haben, und es werden wehklagen um seinetwillen alle Geschlechter der Erde.“
Ende
Monica fand, dass ihr Chef Jim Goodman eine merkwürdige Gestalt hatte, mit seinem großen Glatzkopf und seinem schmalen Körper, als hätte jemand den Kopf eines Erwachsenen auf den Körper eines Kindes gepflanzt. Er war zwar ein guter Freund von ihr, aber auch ein Tyrann als Chef, da er hartnäckig auf seinem Standpunkt beharrte. „Wir sind kurz vor der Schließung und du willst jetzt Urlaub machen?“ Empört sah er Monica an, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte und ihr direkt in die Augen schaute.
Sie saß in seinem Büro, ihm gegenüber, und beugte sich in ihrem Stuhl vor. „Jim, ich brauche diesen Urlaub.“
Ihr Chef schüttelte den Kopf. „Dir ist doch klar, dass die Regierung uns im Nacken sitzt. Wenn wir nicht bald brauchbare Ergebnisse liefern, werden sie uns die Gelder streichen, dann können wir die Forschungsanstalt schließen und dann hast du genug Zeit für deinen Urlaub.“
„Ich muss nach Italien“, sagte sie mit Nachdruck.
„Und ich muss mich vor der neu gewählten Regierung rechtfertigen, und glaub mir, darauf habe ich keine Lust. Wir kommen mit den Klonexperimenten nicht weiter. Ich brauche jetzt jeden Mann“, erwiderte er und verschränkte seine dünnen Arme vor seiner schmalen Brust.
Monica stand auf und lehnte ihren schlanken Körper, abgestützt mit den Händen, über den Arbeitstisch ihres Chefs. Sie sah ihm tief in die Augen.
„Jim, mein Bruder Toni wurde zum Klostervorsteher ernannt, und ich habe ihn seit sechs Jahren nicht gesehen. Es ist ein wichtiges Ereignis für meinen Bruder, für mich und für meine Familie.“
„Monica, ich will und kann dich nicht gehen lassen, da du zu meinen besten Mitarbeiterinnen gehörst.“
„Ich brauche doch nur eine Woche Urlaub“, bettelte sie.
„Das ist eine Woche zu viel“, erwiderte er mit versteinerter Miene.
Monicas schmales Gesicht nahm eine stark rote Farbe an. Die Wut kochte in ihr hoch, wie ein Vulkan, der kurz davor stand zu explodieren. Verzweifelt griff sie sich mit den Händen in ihre schwarzen Locken, die langsam einen Graustrich bekamen, und fing an, vor Jims Arbeitstisch hin und her zu gehen. „Ich arbeite seit vier Jahren ununterbrochen!“, brüllte sie schon fast, während sie den Zeigefinger auf ihren Chef richtete. „Und hatte seit dieser Zeit keinen richtigen Urlaub. Seit vier Jahren mache ich unzählige Überstunden und arbeite fast jeden Tag verdammte zehn Stunden, und jetzt kann mir dieses Institut etwas zurückgeben. Ich habe mir meinen Urlaub verdient!“ Sie schlug mit der rechten Faust auf den Arbeitstisch, so dass der Monitor und zwei Bilder auf dem Tisch kurz erzitterten, dann stemmte sie ihre Hände in die Hüften. Mit schmollendem Mund sah sie ihren Vorgesetzten an.
Jim blieb völlig ruhig. Typisch Brite, dachte sich Monica. Lediglich eine Augenbraune ging bei ihm nach oben. Er schwieg für einen Moment, dann sagte er: „Monica, Liebes, die Genexperimente haben bis jetzt zu keinen Ergebnissen geführt. Alle Klone sind früher oder später eingegangen. Ich muss mich demnächst vor dem Finanzausschuss rechtfertigen.“
„Das ist nicht meine Schuld. Ich habe meinen Teil beigetragen. Ich habe in den letzten Jahren alles gegeben.“ Stehend und immer noch die Hände in die Hüften stemmend, hielt sie für einen Moment inne. Nun langsam und leise: „Ich habe mir meinen Urlaub verdient, Jim.“
Es herrschte eine Stille zwischen den beiden. Monica stand einfach nur da und sah ihren Chef mit durchdringendem Blick an. Dieser wich ihrem Blick aus und legte seine Stirn in Falten. Seine Augen wanderten über den Boden vor seinen Füßen, als würde er etwas suchen, dann sah er Monica wieder an.
„Na gut, du gehörst zu meinen besten Forscherinnen. Ich geb dir drei Tage, mehr nicht.“
„Fünf Tage“, erwiderte sie sofort.
„Vier Tage, und das ist mein letztes Angebot.“
„Damit bin ich zufrieden“, sagte Monica und ließ sich auf den Stuhl mit einem lauten Ausatmen fallen. Ihr Herz schlug wieder gleichmäßiger. Sie schloss für einen Moment die Augen und glättete dann ihren Rock.
„Das ist eine absolute Ausnahme.“ Jim drohte ihr mit dem Finger. „Ich hasse dich. Irgendwie kriegst du mich immer wieder rum.“ Wieder runzelte er die Stirn.
Monica lehnte sich im Stuhl zurück und schenkte ihrem Chef ihr schönstes Lächeln.
Monica wusste, früher oder später würde ein Aufschrei durch das Labor gehen und jemand würde sie wegen ihres Sonderurlaubs kritisieren.
Und so kam es auch, als sie sich ein paar Tage später nach einem harten Arbeitstag im Umkleideraum des Forschungsinstituts aufhielt.
Sie stand vor ihrem offenen Spind und warf ihre gelben Gummihandschuhe und ihre Schutzbrille hinein. Es war mal wieder ein enttäuschender Tag im Labor gewesen, wie so oft.
Zwei Klone waren überraschend gestorben. Ein Klon hatte vom Embryostadium bis zum 15. Lebensjahr nur eine Woche gebraucht, um sich zu entwickeln, und war dann plötzlich gestorben, und ein weiterer Klon war nach zwei Tagen, noch im Embryostadium, verendet. Die Klone hatten unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Letztendlich starben sie aber alle früher oder später, ohne dass jemand genau wusste, warum.
Mit ihrer rechten Hand massierte sie ihren Nacken. Sie fühlte die Anspannung am ganzen Rücken. Der Stress im Labor belastete sie.
Monica sah ihr Gesicht im kleinen Spiegel an der Innenseite der offenen Spindtür. Ihre Falten unten den braunen Augen, ihr schmales Gesicht und ihre langsam ergrauenden Locken. Sie war nicht mehr die Jüngste.
Die Tür der Umkleidekabine ging auf und riss Monica aus ihren Gedanken. Sie sah, wie die Mitarbeiterin Jessica mit müdem Blick in die Umkleidekabine trottete.
Oh nein, dachte sich Monica, die hat mir gerade noch gefehlt, als wäre der Tag nicht schon schlimm genug gewesen.
Jessica, klein und pummelig, war zwar eine gute Mitarbeiterin, leider aber auch eine sehr streitsüchtige. Monica war in der Vergangenheit ziemlich oft mit ihr aneinandergeraten, daher nickte sie ihr nur kurz zu, um nicht unnötig mit ihr reden zu müssen.
Jessica erwiderte den Gruß beiläufig und ging an den Spind gleich neben Monica. Mit einer trägen Bewegung öffnete sie diesen. Während Jessica ihre Handschuhe und ihre Schutzbrille in den Schrank warf, sagte Jessica: „Sieh an, die Urlauberin.“
Monica war gerade dabei, ihren Laborkittel an einem Haken im Spind aufzuhängen, und blieb in der Bewegung stehen. Sie sah Jessica an. Lass dich nicht provozieren, ermahnte sich Monica selbst.
Jessica fuhr fort: „Ich habe gehört, du fliegst weg. Ich dachte, wir haben doch alle eine Urlaubssperre?“ Jessica schloss den Spind ziemlich schnell, nachdem sie ihren Laborkittel hineingeworfen hatte, und sah Monica mit einem provozierenden Blick an.
Monica atmete erst mal lange aus. Sie spürte, wie ihr innerer Vulkan langsam anfing zu brodeln. Sie konnte Jessica nicht entkommen, da sie im selben Laborbereich arbeiteten, und früher oder später würden sie eine gemeinsame Aufgabe haben.
„Es ist eine Ausnahme“, erwiderte Monica zögernd.
„Eine Ausnahme?“, fragte Jessica erschrocken und fuhr fort: „Seit wann macht das Institut Ausnahmen?“
„Ich habe meinen Bruder in Italien seit Jahren nicht gesehen, außerdem wurde er zum Klostervorsteher ernannt.“ Kaum dass sie das Letzte gesagt hatte, bereute sie es auch schon. Monica biss sich auf die Unterlippe.
„Dein Bruder lebt in einem Kloster?“, sagte Jessica ungläubig. Sie sah aus, als hätte ihr jemand einen Schlag ins Gesicht gegeben.
Monica erwiderte nichts, sie nickte nur.
Für einen Moment herrschte Stille.
Jessica, die immer noch vor ihrem Spind stand, richtete ihren Blick, an Monica vorbei, in die Ferne. „Meine Mutter war auch gläubig. Sie hat mich immer in die Kirche geprügelt. Gott, habe ich Jesus und die verlogenen, pädophilen Priester dafür gehasst.“ Jessica schüttelte angewidert den Kopf.
Monica reagierte nicht darauf. Sie hatte im Laufe ihres Lebens gelernt, nicht über Religion und Glauben zu diskutieren, besonders nicht mit Menschen, die sie nicht als Freund oder Bekannte bezeichnete.
Jessica schien weiterhin in Gedanken versunken zu sein und redete an Monica vorbei: „Ich meine, das ist doch alles Unsinn. Die unbefleckte Empfängnis. Eine Frau kriegt ein Kind, ohne Sex zu haben. Wie soll das möglich sein? Oder die Wiederkunft Jesus. Ich habe mich immer gefragt, wie das aussehen soll. Kommt er schwebend auf eine Wolke nieder und sagt dann: Hallo, hier bin ich?“ Jessica verzerrte dabei ihr Gesicht und spielte Jesus nach, indem sie unbeholfen mit der Hand winkte.
Monica zog ihre kurze Lederjacke an und nahm ihre Handtasche aus dem Spind. Sie drehte sich zu Jessica um. Sie verspürte das starke Verlangen, Jessica zu würgen. Dieses Verlangen verspürte sie ziemlich oft bei Jessica.
„Ich weiß das alles nicht, aber ich weiß, warum ich Urlaub bekommen habe und du nicht.“
Jessica sah für einen Moment Monica verdutzt an, dann fasste sie sich wieder. „Na, erzähl mal“, sagte sie herausfordernd und verschränkte ihre Hände vor der Brust. Sie ging den einen Schritt zwischen ihren beiden Spindtüren und stellte sich Monica gegenüber.
„Weil ich meine Arbeit mache, anstatt nur Streit zu provozieren. Das ist fehl am Platz bei diesem Beruf und in dieser schwierigen Situation.“ Daraufhin knallte Monica ihre Spindtür zu und ließ Jessica mit rotem Gesicht zurück, ohne auf ihre Reaktion zu warten.
Ziemlich genervt fuhr Monica mit ihrem Auto vom Labor in die Stadt Edinburgh hinein, wo sie wohnte.
Zwei Tage später, der Streit mit Jessica war längst vergessen, flog Monica nach Venedig zu ihrem Bruder Toni. Ihr Bruder holte sie vom Flughafen ab.
Am gleichen Tag fuhren sie gemeinsam zum Grab der Eltern, wie sie es immer taten, wenn Monica in die Lagunenstadt kam.
Am darauffolgenden Tag zeigte ihr Toni das Kloster, in dem er lebte und welches sich in der Nähe Venedigs befand. Er führte sie durch den Garten, in dem hauptsächlich Beete voller Wildrosen und Gänseblümchen wuchsen und der sich in der Mitte eines Säulengangs befand.
Dann zeigte er ihr die alte Bibliothek mit den verstaubten Holzregalen, in denen antiquarische Bücher vorhanden waren, die so groß waren wie ein Kind, und gemeinsam gingen sie dann zu dem schmucklosen Essraum mit den langgezogenen Holztischen und Holzbänken.
Es war schon acht Jahre her, dass Monica das letzte Mal in diesem Kloster war, und es war alles so geblieben, wie sie es in Erinnerung hatte, als wäre die Zeit stehen geblieben. An diesem Ort erlosch ihr innerer Vulkan und sie genoss die Stille und die Erhabenheit, die in den einfachen Räumen herrschte.
Am späten Abend gingen sie dann tief in das Kellergewölbe, weil Toni ihr etwas Wichtiges zeigen wollte. Nach einem kurzen Gang durch einen dunklen Steinflur betraten sie durch eine Holztür einen der Kellerräume. Monica konnte kaum etwas sehen in diesem Raum, da die einzige Lichtquelle der fünfarmige Kerzenständer war, den der Bruder mit nach unten genommen hatte. Es roch muffig im Raum und Monica nahm respektvollen Abstand von den feuchten Steinwänden, nachdem sie diese aus Versehen mit der Handfläche berührt hatte.
Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, aber das Einzige, was sie im Raum erkennen konnte, waren die vagen Umrisse von Holzkisten, die in einer Ecke aufeinandergestapelt lagen, und der Holztisch, auf den ihr Bruder Toni den Kerzenständer abgestellt hatte.
Monica fröstelte. Mit verschränkten Armen stellte sie sich neben den Tisch mit dem Kerzenständer, der sich mitten im Raum befand, und streichelte mit ihren Händen ihre Oberarme. Sie bekam eine Gänsehaut an diesem Ort, ohne dass sie sagen konnte, warum.
Ihr Bruder Toni kramte in der Ecke zwischen den unterschiedlich großen Holzkisten.
„Was wollen wir hier?“, sagte sie zögernd.
Bis jetzt hatte sie die Kellerräume des Klosters nie zu Gesicht bekommen.
Toni drehte sich zu ihr um; im Kerzenschein konnte sie sehen, dass er eine kleine Holzkiste in den Händen hielt. Er lächelte sie an, auch das konnte sie noch erkennen.
Monica fand, dass sein verschmitztes, schiefes Lächeln etwas Freches und Provozierendes an sich hatte, etwas, das so gar nicht zu einem Mönch oder gar Klostervorsteher passte.
Seit ihrer Kindheit fühlte sie sich von diesem Lächeln provoziert, und als sie noch jung war, hatte fast jeder Streit mit diesem Lächeln angefangen.
„Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust“, sagte er mit großen braunen Augen, die ihren so ähnlich waren.
Monica runzelte die Stirn. Sie schaute auf die Kiste.
„Was für einen Gefallen, und was ist da drinnen?“
Ihr Bruder kam noch näher zu ihr und zu dem Tisch mit dem Kerzenständer.
Monica konnte nun erkennen, dass es eine schäbig aussehende Holzkiste war mit einem halbrunden Deckel. Sie schien abgenutzt zu sein und die Oberfläche war voller Kerben.
Er öffnete den Deckel und hielt ihr den Inhalt entgegen, dann sagte er mit ehrfurchtsvoller Stimme: „Ein Stück vom Holz Christi.“
Monica blickte erst gar nicht in den Kasten und lachte nur. Sie wedelte mit der rechten Hand, als würde sie versuchen, eine Fliege zu verscheuchen. „Ah, komm schon, Toni! Was ist das schon wieder für ein Unsinn? Wenn man alle Holzteile, die als Kreuz Christi verehrt werden, zusammenlegt, hat man mannshohe Kreuze von hier bis nach Jerusalem.“ Sie zeigte mit der rechten Hand in die Richtung, in der sie die besagte Stadt vermutete. „Hast du mich hierhergebracht, um mir eine verdammte Reliquie zu zeigen?“, fragte sie leicht wütend und verschränkte wieder ihre Arme. Sie sah ihn genervt an.
Toni kämmte sich mit einer Hand durch sein volles braunes Haar, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das ist mehr als nur eine Reliquie. An diesem Stück ist das Blut Christi vorhanden.“
„Bestimmt“, erwiderte Monica schnell und trocken.
Sie sah sich nun das kleine Stück Holz in der Kiste an, die ihr Bruder ihr immer noch entgegenhielt. Es war nicht länger als ihr Zeigefinger und nicht breiter als eine gewöhnliche Briefmarke. Das obere und untere Ende des Holzstücks waren zackig, als hätte es jemand mit Gewalt aus einem Balken ausgerissen. Es hatte eine dunkelbraune Farbe, obwohl noch dunklere Flecken auf dem Stück zu erkennen waren. Sie sah Toni wieder an.
„Das glaube ich nicht“, sagte sie und fuhr seufzend fort: „Toni, warum müssen wir uns immer wieder über Religion streiten?“
Wann immer ihr Bruder und sie zusammentrafen, kam es früher oder später zum Streit über den Glauben und die Religion. Ihr Bruder war ein tief religiöser Mensch, wie ihre gemeinsamen, verstorbenen Eltern, und glaubte der Bibel blind, während für Monica die Geschichten des Christentums einfach nur Märchenerzählungen waren. Lange Zeit hatten sie beide es geschafft, das Thema zu meiden, da beide wussten, es würde wieder zum Streit kommen. Monica wunderte sich, warum ihr Bruder jetzt aber wieder damit anfing, obwohl sie sich so viele Jahre nicht gesehen hatten und kaum Kontakt miteinander hatten.
„Ich will mich nicht mit dir streiten, Monica. Es ist keine Reliquie, denn es war nie für die christliche Gemeinde gedacht.“
Monica runzelte wieder die Stirn: „Für wen denn sonst?“
„Nur für die Gemeindevorsteher“, sagte er zufrieden.
„Für die Gemeindevorsteher?“, fragte sie irritiert.
„Ja, für die Anführer der ersten christlichen Gemeinden. Die Apostelfürsten, wenn du so willst. Die Überreste des Kreuzes von Jesus, besonders wegen seinem Blut drauf, sollte sie in ihrem Glauben stärken.“
Monica zog eine Augenbraune hoch. „Von dieser Geschichte habe ich noch nie etwas gehört.“
Monica kannte die Geschichten der Bibel und des Christentums in- und auswendig, da ihre Eltern sehr gläubig waren, und als sie noch jung war, hatte sie auch geglaubt, dass diese Geschichten wahr waren, bis sie irgendwann für sich erkannte, dass die Bibel letztendlich ein Fantasiewerk war.
„Weil sie nie an die Öffentlichkeit kamen.“
„Und woher weißt du dann davon?“ Monica sah ihren Bruder mit schief geneigtem Kopf an.
Toni lachte kurz auf. „Ein Klostervorsteher hatte mir von diesen Holzstücken erzählt. Er lebte in einem Kloster in der Nähe von Rom. Dort hatte ein Papst im 12. Jahrhundert das Holzstück aus Rom hingebracht, als durch das gleichzeitige Auftreten von drei Päpsten, die gegeneinander kämpften, die katholische Kirche fast zerbrochen wäre. Der Klostervorsteher war krank und übergab mir den Kasten mit dem Holzstück, kurz bevor er starb. Er hütete das Geheimnis in einer langen Tradition.“
„Er gab dir diesen wichtigen Kasten anstatt den Mönchen im eigenen Kloster? Er hatte wohl wenig Vertrauen zu den eigenen Brüdern“, sagte Monica mit einem leichten Hauch von Spott in der Stimme, den sie einfach nicht unterdrücken konnte.
Monica konnte schon ahnen, warum der alte Klostervorsteher Toni ausgewählt hatte. Ihr Bruder war zwar ein guter Mensch, aber auch unglaublich naiv. Leicht anfällig für religiöse Legenden, denen er blind glaubte.
Toni zögerte für einen Moment. „Das weiß ich nicht genau, aber der alte Mann vertraute mir den Kasten an.“
„Und du glaubtest ihm?“
Toni schürzte die Lippen. „Nein, im Grunde genommen nicht. Ich forschte nach den anderen Holzteilen. Leider gab es nur sehr spärliche Quellen darüber. Angeblich gab es nur vier echte Holzstücke mit dem Blut Christi, alle anderen Reliquien sind nicht authentisch.
Diese vier Teile wurden von Petrus zu den wichtigsten Städten des frühen Glaubens gebracht, wo die ersten christlichen Gemeinden entstanden. Dort wurden diese Holzstücke den Gemeindevorstehern zur Aufbewahrung übergeben.
Diese Städte waren Antiochia im heutigen Libanon, wo Petrus selbst der Vorsteher war und ein Holzstück für sich behielt, Alexandria in Ägypten, Damaskus in Syrien und als Letztes Rom in Italien. Die Teile des Kreuzes sollten von Gemeindevorsteher zu Gemeindevorsteher vererbt werden, um sie als Anführer der christlichen Gesellschaft in ihrem Glauben zu stärken. Weder die christlichen Mitmenschen noch jemand anders sollte etwas von diesen Holzteilen erfahren, damit sie keiner stehlen oder vernichten konnte, da sie zu wertvoll waren.
Soweit ich das recherchieren konnte, wurde das Holzstück in Antiochia zum letzten Mal erwähnt gegen Ende der Kreuzzüge, in dem Bibliotheksregister eines Klosters.
Über das Holzteil in Alexandria schrieben die Araber im 9. Jahrhundert, als sie Ägypten eroberten, dann verliert sich die Spur. Über das Stück in Damaskus habe ich leider keine Quellen gefunden. Aber allem Anschein nach gab es diese anderen Holzteile wirklich.“
„Das hört sich alles nach einer tollen Gutenachtgeschichte an.“ Monica hatte keine Lust mehr, mit ihrem Bruder über diese Reliquie zu diskutieren. „Aber warum erzählst du mir das alles?“
„Wie ich dir schon vorhin gesagt habe, möchte ich, dass du mir einen Gefallen tust.“
„Welchen Gefallen?“ Monica sah ihren Bruder mit zusammengekniffenen Augen an.
Toni atmete tief durch. „Ich möchte, dass du das Blut auf dem Holzstück untersuchst.“
„Was?“, schrie sie fast, dann schüttelte sie den Kopf und fuhr fort: „Blut kann sich nicht so lange halten.“
„Laut dem alten Klostervorsteher wurde das Holzstück immer kühl gelagert in dunklen Räumen. Es wurde immer gut darauf aufgepasst.“
„Toni, es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit unbrauchbar.“
„Ich möchte nur wissen, ob du etwas herausfinden kannst. Es ist nicht für die Kirche oder die Öffentlichkeit gedacht, sondern nur für mich selbst.“
Monica stutzte innerlich für einen Moment. Seit wann war ihr Bruder so egoistisch?
„Ich kann nicht einfach so ins Labor marschieren und eine persönliche Untersuchung vornehmen.“
„Ich bin mir sicher, du findest einen Weg. Schließlich bist du doch dort eine wichtige Person.“
Monica glaubte einen Hauch von Abneigung in seiner Stimme zu hören.
Eigentlich dürfte er gar nicht wissen, als was sie in Edinburgh, Scotland, arbeitete, aber Monica sah damals keine Gefahr, ihn einzuweihen, schließlich lebte er in einem Kloster und war ein verschwiegener Mensch.
„Das ist viel zu gefährlich. Wegen so einer Aktion könnte ich meinen Job verlieren.“
„Es geht hier um eine wichtige Sache. Mir ist es sehr wichtig.“ Die Stimme von Toni hatte etwas Flehendes an sich, etwas Bettelndes, bemerkte Monica.
Sie zog eine Braune hoch. Hatte ihr Bruder etwa Zweifel am Glauben? Es war immer ein erbitterter Kampf zwischen ihr und Toni gewesen, um Religion und Wissenschaft, der teilweise so weit ging, dass sie mehrere Jahre nicht miteinander geredet hatten. Erst als ihre Eltern bei einem Autounfall verunglückten, kamen sie sich wieder näher. Für Monica hatte Toni sein Potential verschwendet, weil er sich für ein Leben im Kloster entschieden hatte. Er hätte so viel machen können aus seinem Leben, eine Familie gründen oder eine Karriere, stattdessen entschied er sich, sein Leben zu verschwenden in diesem abgeschiedenen Geschichtsmuseum auf einem Berg im Hinterland von Venedig.
Bestand nun die Möglichkeit, ihm endlich klarzumachen, dass er ein Leben lang an Fantasiegestalten geglaubt hatte? Dass er ein Leben lang einem Irrtum hinterhergelaufen war? Hatte ihr Bruder das endlich eingesehen? Das irritierte Monica. Woher kam diese Einsicht? Irgendwie störte sie das. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke nicht, dass er sich vom Glauben abgewandt hatte, obwohl sie nicht sagen konnte, warum. Als hätte man ihr den Wind aus den Segeln genommen, da sie ihr Ziel nach so langer Zeit erreicht hatte.
„Ich kann dir nichts versprechen, Toni, aber ich schaue, ob ich eine Möglichkeit finde, mir das Blut anzugucken.“
Ihr Bruder nickte und seufzte erleichtert.
Es wurde still zwischen den beiden. Monica nahm den Kasten von ihrem Bruder entgegen und sah sich noch mal im Kerzenschein das Holzstück an.
Drei Tage später war sie wieder im Labor in der Nähe von Edinburgh. Die Ruhe des Klosters, die wunderschönen Brücken Venedigs und das merkwürdige Gespräch mit ihrem Bruder waren schnell vergessen. Die Hektik des Alltags hatte sie wieder. Es regnete ununterbrochen in Edinburgh, so wie es Monica gewohnt war.
Ihr Forschungsteam, in dem sie arbeitete, war nicht erfreut, dass sie einige Tage nicht im Labor war, und das ließ man sie spüren. Keiner fragte, wie ihr Urlaub war, ob es ihr gut ging oder wo sie überhaupt gewesen war. Man ignorierte sie, so weit wie möglich, besonders Jessica.
Die Experimente liefen weiterhin nicht gut. Das Team machte keine Fortschritte. Vielleicht war auch deswegen eine so schlechte Stimmung im Team, dachte sich Monica.
Es war einfach eine frustrierende Sache mit diesen Klonen. Das Problem war, man wusste, aus welchen Molekülen die Erbinformation bestand. Das war erforscht worden, aber das Zusammenspiel der riesigen Molekülketten, der Bausteine der Erbinformation, war noch nicht vollständig klar.
Es gab kein einzelnes Gen, auf das man zurückführen konnte, ob jemand blond war oder eine kriminelle Neigung hatte. Das war ein Mythos, der durch die Medien geisterte. Solche Eigenschaften wie die Haar- oder Hautfarbe wurden durch ein Zusammenspiel von unzähligen Genen festgelegt, und Monica und ihr Team hatten die Aufgabe, dieses Zusammenspiel zu erforschen, zu verstehen und nachzuvollziehen.
Es war, als würde man wissen, wo welcher Musiker in einem Orchester sitzt, aber nicht, nach welchen Noten die einzelnen Mitglieder miteinander spielten. Nur glichen diese Musiker nicht einem Orchester, sondern einem gewaltigen Ameisenhaufen.
Das Zusammenspiel der unzähligen Gene zu erforschen, war eine Mammutaufgabe. Monica hatte aber diese Herausforderung angenommen, als sie im Forschungsinstitut der britischen Regierung anfing.
Eines Morgens, lange nachdem Monica aus Italien zurück war und die anderen Mitglieder im Labor mit ihr wieder sprachen, entschied sie, dass es Zeit war, das Holzstück mit zur Arbeit zu nehmen, schließlich würde sie an diesem Abend allein im Labor sein.
Monica war nun selbst neugierig, was diese Reliquie betraf, weil ihr Bruder so versessen darauf war, herauszufinden, ob es authentisch war oder nicht. Sie packte daher in aller Frühe den kleinen Holzkasten, den sie im feuchten Kellerraum verwahrt hatte, in ihre Handtasche und fuhr damit zum Forschungsinstitut.
Nach zehn Stunden harter Arbeit saß sie allein vor einem Computer im Hauptlaborraum. Monica saß an einer der Arbeitsplätze, die entlang der Wand des Labors aufgestellt waren. Hinter ihr in der Mitte des Raums waren die sechs mannshohen Zylindergefäße, in denen jeweils ein Klon in einer Flüssigkeit schwebte. Die Klone waren an Drähte und Schleusen angeschlossen.
Als Monica sicher war, dass der letzte Labormitarbeiter, auch in den Nebenräumen, weggegangen war, nahm sie den kleinen Kasten aus ihrer Handtasche, die die ganze Zeit zu ihren Füßen lag. Sie zog sich Handschuhe über und öffnete den Deckel des Kastens. Vorsichtig nahm sie das dünne und kleine Holzstück heraus.
Sie wandte sich mit ihrem Stuhl zum weißen Metallkasten, der neben dem Monitor auf dem Arbeitstisch stand. An der Vorderseite des Metallkastens öffnete sie einen kleinen Deckel, und eine dünne Plastikplatte kam aus der Öffnung herausgeschossen. Monica legte das Holzstück auf die Plastikplatte und drückte diese wieder hinein.
Sie fragte sich, ob noch etwas brauchbares Blut vorhanden war oder ob die ganze Aktion nicht einfach nur lächerlich war. Nichtsdestotrotz aktivierte sie den Laserscanner, indem sie ein paar Knöpfe drückte an der Seite des Apparats, und der weise Metallkasten fing an zu rattern wie ein alter Traktor.
Auf dem Monitor vor ihr erschien eine dreidimensionale Abbildung des Holzstücks, welches aufrecht stand und sich um die eigene Achse drehte.
Es dauerte ein paar Minuten, dann fingen einige Stellen auf der Abbildung des Holzstücks an zu blinken. Monica zog eine Augenbraue hoch, tatsächlich hatte das Programm Blutspuren und damit ganze DNA-Stränge gefunden.
Sie drückte ein paar Tasten auf der Tastatur und ließ am Computer die ersten Hochrechnungen fahren, um welche DNA-Moleküle es sich handelte.
Die dreidimensionale Abbildung des Kreuzes verschwand und eine Auflistung von Genbezeichnungen erfolgte.
Fünf lange Reihen von Gennamen standen nebeneinander auf dem Monitor. Monica überflog die ersten Zeilen der Liste: Haboglid 54, Haboglid 84, Haboglid 67. Alle Bezeichnungen für Genmoleküle, die typisch für den Mittleren Osten waren. Eine neue Bildschirmseite mit fünf weiteren langen Reihen von Gennamen erschien und danach noch weitere Seiten. Auf die Schnelle konnte Monica erkennen, dass es sich um eine männliche Person handelte, die für heutige Verhältnisse nicht besonders groß war. Er musste dunkle Haare gehabt haben, einige Genbezeichnungen wiesen darauf hin, aber man müsste dies noch weiter untersuchen.
Monica drückte einen Knopf auf der Tastatur und die Auflistung der vorhandenen Genmoleküle stoppte. Die Auflistung sämtlicher Gene würde Abertausende von Seiten füllen.
Sie ließ sich mit dem Oberkörper in den Stuhl nach hinten fallen, atmete hörbar aus und strich sich mit den Händen durch das teilweise ergraute Haar. Soweit sie das feststellen konnte, waren das alles Merkmale, die auf jeden beliebigen Menschen des Mittleren Ostens in den letzten 2000 Jahren passen würden. Der Aufwand wäre zu groß, um nachzuprüfen, inwieweit die Merkmale der Gene dem traditionellen Bild von Jesus entsprachen.
Früher oder später würde das jemandem im Labor auffallen, dass sie hier etwas Privates untersuchte. Gerade bei dieser Situation wäre es undenkbar. Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Unterlippe, dann kam ihr eine Idee.
Sie sollte das Genmaterial vorbereiten für die nächsten Klonversuche, die ab morgen starteten. Die Gene, die mit Genen von einem weiblichen Gegenstück in einem komplizierten Verfahren vermischt werden und dann in den durchsichtigen Flüssigkeitstanks, hinter ihr im Raum, beobachtet werden. Das Material von ihrem Bruder war erstaunlicherweise gut zu gebrauchen. Vielleicht hatten die Klosterleute wirklich immer sorgfältig darauf aufgepasst. Andererseits konnte es auch nur Zufall sein. Gläubige Menschen und besonders ihr Bruder würden, das wusste Monica, sofort dahinter einen höheren Sinn, ja sogar ein göttliches Zeichen vermuten, so albern, wie diese waren. Monica kicherte über den Gedanken.
Sie entschied, dass sie die Proben für morgen vertauschen würde. Der Gedanke beflügelte sie. Alle Embryos sind bis jetzt früher oder später verendet, warum sollte sie es nicht mit einer alten Probe versuchen? Sie würde verhärtete Genstrukturen vom Blut auf dem Holzteil nehmen und es in eine Eizelle verpflanzen. Wenn man sie dabei ertappen würde, dass sie Proben vertauscht hatte, könnte man sie feuern. Nicht, dass ihr Chef das machen würde, dazu waren sie zu lange befreundet, aber jeder andere Mitarbeiter würde sie, ohne mit der Wimper zu zucken, an das Forschungsministerium melden.
Ein paar Stunden später und nachdem sie die Proben vertauscht hatte, fuhr sie glücklich nach Hause.
Die Tage verstrichen und der Embryo im Flüssigkeitstank entwickelte sich gut. Das Vertauschen der Proben hatte keiner bemerkt. In der ersten Woche hatte der Embryo sprunghaft das Alter von 15 Jahren erreicht. Er wuchs erstaunlich schnell und stabil. Im Labor wunderte sich aber keiner. Es war ein tägliches Phänomen, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit der Klone sehr unterschiedlich war.
Jeden Morgen kontrollierte Monica die Werte des vertauschten Klons als Erstes. In der zweiten Woche hatte der Klon das 30. Lebensjahr erreicht. Alle Organe arbeiteten gut, soweit es Monica feststellen konnte. Es war kurios, dass das Material von ihrem Bruder etwas Brauchbares war. Welche Ironie des Schicksals, dass der Glaube der Wissenschaft half, dachte sie sich.
Drei Wochen nachdem Monica die Proben vertauscht hatte, hatte sie nachts einen merkwürdigen Traum. Sie träumte von ihren Eltern. Im Traum befand sich Monica in einem dunklen Raum. Ihre Eltern standen ihr gegenüber. Obwohl es keine Lichtquelle gab, konnte sie beide gut erkennen. Ihre Eltern waren zwei stark ergraute und gekrümmte Personen, die nur aus Haut und Knochen bestanden. Eine unsichtbare Wand trennte Monica von den beiden. Monica sah die Wand nicht, aber sie wusste, dass diese da war. Sie legte ihre rechte Hand auf diese Wand und ihre Mutter die ihre auf der anderen Seite. Sie lächelte ihre Mutter an und die alte Frau lächelte zurück.
Dann verschwand der Traum und Monica erwachte. Sie war irritiert, da sie lange nicht an ihre Eltern gedacht, geschweige denn von ihnen geträumt hatte. Monica öffnete die Augen und sah auf dem Nachttisch neben ihrem Bett, dass der Wecker 8:00 Uhr zeigte. Verdammt, dachte sie sich. Sie hatte den Wecker nicht gehört und sollte heute bereits um 7:00 Uhr im Labor sein. Blitzschnell und mit benommenem Kopf stand sie auf und riss die Gardinen des Schlafzimmers zur Seite.
Ihre Augen weiteten sich und sie ging einen Schritt zurück vom Fenster. Da sie in einem großen Apartment weit oben im 12. Stock eines Hochhauses von Edinburgh wohnte, hatte sie einen guten Überblick über die Stadt. Sie sah, dass sich über der Stadt ein Tornado gebildet hatte.
Stirnrunzelnd betrachtete sie ihn und ihr Blick folgte dem Tornado nach unten bis zum Boden, wo er spitz zusammenlief und knapp über den Häusern der Stadt verschwand. Dieser Tornado schien sich lautlos und langsam um sich selbst zu drehen.
Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie losmusste. Sie zog sich schnell an, machte aus ihren Haaren einen Zopf und verließ das Apartment, ohne zu duschen oder zu frühstücken.
Monica stieg in ihr Auto und drückte das Gaspedal durch. Sie kam zügig durch. Die Straßen waren weitgehend leer. Es waren kaum Autos oder Passanten unterwegs. Vielleicht war es gefährlich rauszugehen wegen des Tornados, aber Monica musste wissen, wie sich der vertauschte Klon weiterentwickelt hatte. Die Neugier war zu groß. Das Projekt zu wichtig. Endlich schien ein Klon länger überlebt zu haben als alle zuvor.
Während sie die weitgehend leeren Straßen entlangfuhr, behielt sie den Tornado im Auge.
Soweit sie das feststellen konnte, schien sich der Tornado nicht weiterzubewegen. Das grau-weiße Ungetüm drehte sich lediglich um die eigene Achse, und das ziemlich gemütlich.
Monica wusste nicht viel über Tornados, aber ein Exemplar, das sich auf einer Stelle um sich selbst drehte, war ihr nicht bekannt.
Sie drehte den Schalter für das Autoradio nach rechts und eine dumpfe Stimme ertönte aus den Lautsprechern am Armaturenbrett. Diese Stimme sagte: „Die Tornados sind praktisch über Nacht in sämtlichen Städten auf der Welt entstanden und sie bewegen sich nicht.“
Monica drehte einen weiteren Knopf am Armaturenbrett. Eine neue Stimme war nun zu hören. „Herr Meyer, danke, dass Sie so kurzfristig vorbeischauen konnten. Können Sie uns als Meteorologe das weltweite Phänomen erklären?“
Eine piepsende Stimme antwortete: „Nein.“ Eine kurze gedehnte Pause entstand. „Ich muss zugestehen, als Meteorologe bin ich ratlos. In der gesamten Geschichte der Wetteraufzeichnung ist so ein Phänomen noch nicht aufgetreten.“
Monica schnaubte und drehte wieder denselben Knopf.
Eine neue Stimme ertönte aus dem Lautsprecher mit einer eindringlichen Tiefe: „... gern noch einmal, bitte bleiben Sie in Ihrer Wohnung. Hier spricht Leutnant Murphy von der Polizei. Bis das Wetterphänomen geklärt ist, bleiben Sie in Ihren Häusern.“
Monica drehte den Schalter, den sie als Erstes bedient hatte, nach links, und die Stimme des Polizeileutnants verstummte. Sie seufzte und eine Stille herrschte im Auto.
Da der trichterförmige Tornado so gewaltig war, dass er sich in den Himmel verlor, konnte sie ihn von jedem Standpunkt in der Stadt aus gut beobachten. Sollte er doch anfangen sich zu bewegen, müsste sie sich schnell etwas überlegen, aber sie kam unbeschadet im Forschungsinstitut an.
Als sie den Hauptlaborraum mit den sechs Klonzylinderbehältern betrat, standen die paar Leute, die zur Arbeit gefahren waren, vor einem Monitor versammelt und hörten gebannt einem Reporter zu. Kein Mitarbeiter nahm Notiz von ihr. Monica sah, dass auf dem Bildschirm, vor dem die Mitarbeiter standen, die Stadtsilhouette von Edinburgh und dahinter der Tornado zu sehen waren.
Monica ging zum Flüssigkeitstank mit dem Klon, bei dem sie die Proben vertauscht hatte und der sich in den letzten drei Wochen so gut entwickelt hatte. Sie beugte sich vor, um auf dem Armaturenbrett und dem kleinen Bildschirm an dem Flüssigkeitsgefäß die Daten zu überprüfen. Sie drückte ein paar Knöpfe und auf dem kleinen Bildschirm erschien ein Diagramm für den Herzrhythmus und eines für die Atmung, darunter eine Zahlenreihe für den Blutkreislauf. Monica klatschte innerlich vor Freude. Das Herz des Klons schlug gut. Die Lunge und der Blutkreislauf wirkten sehr stabil.
Monica musterte den Klon. Die Wachstumsschübe waren in den letzten Tagen total gering gewesen. Er hatte knapp das 30. Lebensjahr überschritten und war klein und dunkelhäutig. Mit Locken und einem gekräuselten Bart schwebte er regungslos in der Flüssigkeit. Seine Augen waren geschlossen. Er war umgeben von kleinen Luftlöchern und angeschlossen an Drähte und Schläuche. Monica legte eine Hand an den Tank und versenkte sich in den Anblick des nackten, behaarten Körpers.
Plötzlich riss Jim, der Chef, die Tür zum Laborraum auf. Mit knallrotem Kopf blieb er an der Tür stehen und schrie: „Wer zum Teufel hat die Proben für die Klone vertauscht?“
Alle Köpfe im Raum, außer Monicas, wandten sich ihm zu. Es wurde totenstill im Labor.
Monica löste ihre Hand vom Tank, und dann erkannte sie es, dann verstand sie es endlich.
Ihr Bruder hatte so Recht gehabt. Er hatte die ganze Zeit Recht gehabt.
Oh Gott, wieso hatte sie es nie eingesehen?
Sie drehte sich zum Chef um, der immer noch an der Tür stand, und zitierte die Bibel, Offenbarung 1, Vers 7: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen und alle, die ihn durchbohrt und verhöhnt haben, und es werden wehklagen um seinetwillen alle Geschlechter der Erde.“
Ende