Grabstein

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sufnus

Mitglied
Hey Scal!

Aktuell sammeln sich offensichtlich Grabsteingedichte hier im Forum - Klaatu hat ja kürzlich auch eins eingestellt.
Eigentlich eine gruselige Sache, aber die Gattung der Grabsteinlyrik ist ja durchaus eine etablierte Größe in der Dichtgeschichte. Paul Fleming hat mit seiner "Grabschrift" vielleicht den berühmtesten Vertreter dieser Zunft verfasst. Heine hat seinen "Grabspruch Wo?" beigesteuert. Und (eins meiner liebsten Grabgedichte) von Rühmkorf gibt es eine ebenfalls mit "Grabspruch" betitelte Perle ("Schaut nicht so bedeppert...") .

Gerade das Rühmkorf-Gedicht gibt den Ton vieler Verse vor, die sich mit dem letzten Stündlein beschäftigen oder das Gedankenspiel bemühen, wie ein Zeitpunkt nach dem letzten Stündlein zu besingen wäre, was auf eine Weise beinahe so paradox anmutet, wie ein Lied auf die Zeit vor dem Big Bang zu verfassen. Wie auch immer: Es darf in der Grabsteinlyrik und auch in den mit ihr eng verwandten Sterbe- und Gestorbensein-Gesängen offenbar gerne etwas humorvoll zugehen. Bei Jandls "Sommerlied" ist das sehr schön realisiert oder auch nochmal bei Rühmkorf mit seinen "Erwägungen für ein Grabmal".
Und schon der allererste (im historischen wie auch im qualitativen Sinne) mir bekannte Vertreter der Totgehlyrik "Animula vagula blandula", angeblich vom Kaiser Hadrian höchstpersönlich verfasst, bespielt das Humorregister.

Speziell an dieses Animula-Gedicht Hadrians muss ich nun bei Deinen Zeilen denken. Im Unterschied zu jenem, welches eine etwas verdrehte Du-Lyrik an die eigene Seele darstellt, bist Du auf den ersten Blick ganz bei einem lyrischen Ich, so dass sich die Haltung Deines Textes vom Hadrian-Lied schon unterscheidet. Meine initiale Assoziation mit den Hadrianversen rührte wohl von der für mein Liking verwandten Stimmung her, irgendwo zwischen einer leicht eingetrübten Heiterkeit, einem Gefühl der Kleinheit (die bei Hadrian ja geradezu zum sprachlichen Programm erhoben wird) und tiefempfundener Ratlosigkeit vor dem Endgültigen.

Was mir bei Deinen Zeilen aber ganz besonders gut gefällt ist der Adressat des lyrischen Ichs, der in dem O-Ausruf am Anfang anklingt und in der 2. Person Singular des "Bei-dir-Sein(s)" am Ende nochmal aufgegriffen wird. Man könnte diesen Adressaten konventionell als den Tod lesen. Wenn man sich aber die beschriebene Szene mal ganz wortwörtlich genommen vorstellt, dann kniet da einer (das lyr. Ich) vor dem noch unbeschrifteten (eigenen) Grabstein und ist von einem peinsamen Writers Block befallen. Damit wird das Gedicht dann doch eher zu einer Art Selbstgespräch des um Schreibinspiration ringenden Steinmetz in eigenen Diensten: Der Tod - das sind wir selbst.

Je länger ich über Dein Gedicht nachdenke, desto besser gefällt es mir. Langsam reiche ich bereits ins Entzücktheitsstadium.

LG!

S.
 

Scal

Mitglied
Lieber Sufnus,

ich neige dazu, phänomenologisch du denken – und zu stottern.
Da ist Überraschung, da ist Freude anwesend. Freude, weil in deinen Ausführungen das Fließen der Liebe zur Poesie vernehmbar ist, und sie, diese Liebe, sie umspielt einen Zeigefinger, der begeisterungsreich in die vielgestaltigen Landschaften, in die Gemälde der Pulsschlagzeit, deutet. Schön ist das, und zudem sehr lehrreich.
Überraschung ist anwesend, weil dieses, dein Gemälde, völlig unerwartet plötzlich vor mir steht. Die Straße meiner Erwartung hatte ich vorgepflastert in Richtung LL-Friedhof.
Vielen Dank für deine Mühe!

Rilke, freilich; Hadrian, Rühmkorf, Jandl – nach deren Meißel muss ich mich erst noch auf die Suche machen.

Ja, der Grabstein. Das Gegenüberstehen klopft an dich. Das erweckt Stottertastgefühle, aus denen ein lyrikhaftes Glucksen emporsickern kann.
Eine Hebamme – die Nacht – verhalf zur Geburt der dritten Strophe.

Lieben Gruß
Scal
 

Walther

Mitglied
Hi Scal
was hat dich dazu bewogen, in s1 v1 & v2 mit 4 hebungen, s2 und s3 aber v21 nur mit 3 hebungen zu versehen?
lg W.
 

Scal

Mitglied
Ja, wogiger - in gewisser Hinsicht.
Andererseits: der andere Tonfall, das grüblerische, langsame Zögern in der Frage - eine anders geartete Woge? Hm ... lyrische Ambivalenz.
 

sufnus

Mitglied
Hey!
Ich bin eindeutig für eine 4-4-4-3-4-3-Aufstellung (also so wie gehabt). :)
Wie Scal schon schreibt: Die Frage verträgt sich sehr gut mit der Bedächtigkeit eines metrischen Extraschlags und außerdem wär es ja grad ganz verkehrt, wenn dieses durchaus ambivalente (nochmal perfektes Stichwort, Scal! :) ) Werk in eine trällerige 4-3-4-3-4-3-Gleichmäßigkeit absönke (sinke? sänke? sünke?).
LG & 5 cents. :)
S.
 

Walther

Mitglied
Hey!
Ich bin eindeutig für eine 4-4-4-3-4-3-Aufstellung (also so wie gehabt). :)
Wie Scal schon schreibt: Die Frage verträgt sich sehr gut mit der Bedächtigkeit eines metrischen Extraschlags und außerdem wär es ja grad ganz verkehrt, wenn dieses durchaus ambivalente (nochmal perfektes Stichwort, Scal! :) ) Werk in eine trällerige 4-3-4-3-4-3-Gleichmäßigkeit absönke (sinke? sänke? sünke?).
LG & 5 cents. :)
S.
Ja, wogiger - in gewisser Hinsicht.
Andererseits: der andere Tonfall, das grüblerische, langsame Zögern in der Frage - eine anders geartete Woge? Hm ... lyrische Ambivalenz.
Hallo ihr beiden,
das entscheidet eh der autor bzw. die autorin. ich kann nur vorschläge machen. das habe ich getan, mehr nicht.
lg w.
 



 
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