Salute in die Runde,
beim aufmerksamen Lesen von
Halloween sind mir zwei Texte in der Erinnerung aufgetaucht, einer von den Brüdern Grimm, der andere aus irgendeiner Witzsammlung der sechziger Jahre:
Der alte Großvater und sein Enkel
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch immer wieder etwas aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt, da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass.
Wie sie da so sitzen, so trägt das Enkelchen auf der Erde kleine Brettlein zusammen. Was machst du da, fragte der Vater. Ich mache eine Tröglein, antwortete das Kind, daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.
Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an. Fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.
Schmuggelfahrt
Österreichische Grenze kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges: Eier, Butter, Fleisch sind in Deutschland Mangelware. Konsumgüter sind über Lebensmittelmarken empfindlich rationiert. Auf österreichischer Seite liegt der Schwarzmarkt für die begierigen „Reichsdeutschen“.
Auf der Rückfahrt im Zug reißt der österreichische Kondukteur - Mütze, Uniform, untersetzt, rotes Gesicht -, die Abteiltür auf, kneift die Augen zusammen und raunzt: „Hamm´s Butter?“ „O, nein.“ „Gar nix.“ „Nur Brot“ murmelt man eingeschüchtert. Der Uniformierte schweigt einen Moment, dann - mit einer gleitenden Handbewegung die Tür hinter sich schließend - beugt er sich nach vorn: „Wolln´s Butter?“
Der erste Text weicht sehr ab vom Märchenschema und seinen Wunderstandards. Vielmehr eine Alltagsgeschichte. Gewiss irgendwie erkünstelt in der Konstruktion. Oder? Und doch rührend. Das Kind will vermeiden, dass es den Eltern so geht, wie es jetzt deren Vater geht. Und das wird daran sichtbar, wie es sucht und mit dem Gefundenen hantiert. Und so wird den Eltern bewusst, wie sie mit ihrem Vater umgehen sollten. Eine indirekte, gar nicht breit ausgmalte Bekehrungsgeschichte. Eine Miniatur.
Und der zweite Text überrascht durch eine völlig unerwartete Wendung. Die gleiche Person in der gleichen Situation mit zwei kontradiktorischen Aussagen. Einmal als (scheinbarer) Diener des Staates und staatlicher Normen, die Schmuggel verbieten, dann als Anbieter von Schmuggelware, wohl zum eigenen Verdienst. Ein Kipp-Phänomen. Seltsam, auch in der Grimm-Geschichte gibt es ein Kipp-Phänomen. Beide Texte stimulieren das Bewusstsein des Lesers und berühren, einmal durch Komik, einmal durch Emotion und Trauer und Einfühlung und Gerechtigkeitsgefühl und Fürsorglichkeit eines Kindes.
Wahrscheinlichkeiten
Der Teufelchentext ist ähnlich konstruiert: Ein empathisches Kind und noch eines. Und ein Kippen raus aus der Bitte um etwas rein in das Geben von etwas.
Mir scheint die Kürze und das Filigrane der Geschichte wichtig. Die Leerstellen sind da und funktional, sie können bei aufnahmebereiter Lektüre sehr wohl gefüllt werden. Der Opa ist zornig, auch wegen dem Verschmieren der Türe vor einem Jahr. Ein kleines Unglück in der Küche und schon sollen die Halloween-Kinder draußen dafür und für letztes Jahr angeraunzt werden, auch wenn sie wohl gar nicht die früheren Täter sind.
Dann schlurft er grummelnd in die Küche und spült das Geschirr. Eine Tasse rutscht ihm aus der Hand, der Henkel bricht ab.
„Herrgott noch mal, nur Scherereien!“
Letztes Jahr meinte irgendeiner dieser Rotzlöffel, er müsse sich mit einer Ketchup-Fratze auf der Haustür verewigen.
Da, es klingelt! Dieses Mal wird er den frechen Gören gehörig den Kopf waschen!
Ab "letztes Jahr" haben wir eine summierende erlebte Rede, interne Fokalisierung: Die Gedanken und Emotionen sind recht deutlich als Opaanteile markiert, etwa über das idiomatische "irgendeiner dieser Rotzlöffel". Die interne Fokalisierung setzt sich - ohne weitereres als logisch einsehbar fort in personengebundener Wahrnehmung der Außenwelt: "Da, es klingelt" und der emotionalen Aufrüstung in "Dieses Mal wird er den frechen Gören gehörig den Kopf waschen!"
Eione Doppelcodierung: Der Erzähler und die Er-Form, narrationale Perspektive, figurale Perspektive im Futur und der emotionalen Rede: "Dieses Mal wird er ...!"
Das schon diskutierte "Was?!" ist gar nicht schlecht gewählt, gar nicht. Es ist ja eine gewisse, wenn auch schroffe Kontaktaufnahme mit den beiden Kindern vor der Tür. Auch dass nun keine explizite Klärung der emotionalen Prozesse beim Großvater kommt, ist nicht unbedingt ein Nachteil. Das Kindchenschema und die Verkleidung - so interpolieren wir - hat eine durchaus besänftigende Wirkung. Und so kann dann - zwar überraschend, aber durchaus nachvollziehbar der Wechsel in der Kinderbehandlung und der Kinderhandlung (Bitten-Geben) folgen. Und ja, da folgt ein komischer Effekt. Eine Erwartungsdurchbrechung und Überraschung eindrucksvoller Art, fern von automatisierten Frames und Scripten.
Was mir in der Diskussion eingeleuchtet hat, ist die gewisse Unwahrscheinlichkeit in der Reaktion des Mädchens. Das "Drücken" ist wohl doch eine eher intime Geste, abrufbar im engen privaten Kreis der Familie oder der Freunde.
So gesehen scheint mir eine Veränderung dieser Schluss-Passage diskutabel. Vielleicht könnte nun der Text - orientiert an der ersten Fassung - so aussehen. Ich halte die erste Fassung für durchaus plausibel und wirksam, auch wenn der Autor inzwischen voller Skepsis eine andere Variante gewählt hat.
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„Neumodischer Kram! Zu meiner Zeit hat’s das nicht gegeben!“
Rentner Dorn mustert mit zusammengekniffenen Lippen die Gestalten auf der Straße.
Dann schlurft er grummelnd in die Küche und spült das Geschirr. Eine Tasse rutscht ihm aus der Hand, der Henkel bricht ab.
„Herrgott noch mal, nur Scherereien!“
Letztes Jahr meinte irgendeiner dieser Rotzlöffel, er müsse sich mit einer Ketchup-Fratze auf der Haustür verewigen.
Da, es klingelt! Dieses Mal wird er den frechen Gören gehörig den Kopf waschen!
Dem Teufelchen und der kleinen Hexe vergeht schlagartig das Lächeln, als sie dem alten Mann in die Augen blicken.
„Ja?!“
Die Steppkes zögern kurz, holen tief Luft und singen: „Jack o'lantern …“
„Das haben wir in der Schule gelernt.“
Milder als geplant meint Herr Dorn: „Ich habe nichts. Und nun?“
Keine Süßigkeiten im Haus?!
Das Hexlein macht große Augen. Der arme Opa!
Und der Junge zögert, dann atmet er tief ein und hält dem alten Mann sein Körbchen hin: „Möchten Sie vielleicht ein paar Bonbons?“
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greetse
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