Hans Achterbein

4,30 Stern(e) 3 Bewertungen

lietzensee

Mitglied
Hans Achterbein​

Die Zugfahrt war lang und langweilig. Wer wollte schon nach Finsterwalde? Sabrina jedenfalls nicht. Kahle Wiesen zogen am Fenster vorbei. Der Zug ruckelte. Eine dicke Frau schlief in der Ecke des Abteils und der Papa las wieder etwas über Politik auf seinem Handy. Bei ihrem Spielehandy aber war der Akku leer. Sie sah sich um. Die Tasche der dicken Frau war voll, sicher mit Essen. Eine gefleckte Kuh wischte vor dem Fenster vorbei und war sofort wieder verschwunden. Vor langer Weile wurde Sabrina schon traurig. Dann aber entdeckte sie etwas.
Zwischen dem kleinen Klapptisch und der Wand des Abteils gab es einen Spalt. Aus diesem Spalt lugten zwei dünne Beinchen hervor. Die Beinchen vermehrten sich. Erst wurden es vier, dann sechs, dann acht. Eine kleine Spinne sah sich vorsichtig im Abteil um. Sofort hatte Sabrina ihre lange Weile vergessen. Sie sah, wie nervös alle Beine des Tieres zitterten. Kleine Spinne mit dickem Bauch, Sabrina würde sie Hakim Wackelfuß nennen, nein, besser, Hans Achterbein. Der Hans wohnte in dem Spalt. Dort hatte er sicher alles, was er brauchte. Eine Spinnenfrau, deren Hintern noch dicker als sein eigener war, ihr Name war Gabi. Außerdem versteckte er in dem Spalt noch sieben kleine Spinnenkinder, ein Bett für sie alle zusammen und einen großen Fernseher vor der Bettkante. Vorsichtig beugte sie sich vor, um zu sehen, ob man in dem Spalt vielleicht etwas vom Flimmern des Fernsehers sehen konnte. Hui, musste das ein Beingewusel sein, wenn die Familie Achterbein abends zusammen im Bett lag und Serien schaute!
Die Frau in der Ecke schlief weiter. Der Vater schien den Hans nicht zu bemerken und las weiter Politik. Die Spinne aber hatte sofort gezuckt, als Sabrina die kleine Bewegung gemacht hatte. Vorsichtig hielt der Spinnerig, seine vorderen zwei Beine in die Luft. "Ich tu dir doch nichts", flüsterte Sabrina so leise, dass nur sie und Hans es hören konnten. Sie hielt ganz still, weil man sich nicht bewegen durfte, wenn man wilde Tiere beobachtete. Und wirklich, langsam kam Hans Achterbein weiter aus seiner Spalte hervor. Er trappelte die fleckige Wand des Abteils hinauf, bei jedem Schienenstoß innehaltend, um sich tastend und Sabrina dabei zublinzelnd. Sie beide verstanden sich. Sicher war auch Hans langweilig. Vielleicht, weil seine Frau in der Spalte saß und auf ihrem Handy Politik las. Die Vorstellung einer Spinne mit Handy war lustig und sie musste ein Kichern unterdrücken. Dann kletterte Hans die Kante des Tisches hinauf und Sabrina stellte sich die Frage, über die sie bei allen Tieren nachdachte. Konnte Hans die Spinne zaubern? Welche Tricks beherrschte er?
Dass er fliegen konnte, war ja schon mal klar. Das konnten alle Spinnen, an dünnen Fäden durch den Altweibersommer gleiten. Sabrina wollte so gerne auch seine anderen Geheimnisse erfahren. Ob er durch Wände und ins nächste Abteil sehen konnte? Nun erinnerte Sabrina sich, dass Spinnen fünfzehn oder sechzehn Augen besaßen. Das hatte sie in der Schule gelernt. Hans kletterte weiter in Richtung Fensterritze und sah sie aus all den Augen an. Ein bisschen unheimlich war das ja schon, so viele Augen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, aus zwanzig Augen gleichzeitig zu gucken. Dann versuchte sie sich vorzustellen, wie ihr eigenes Gesicht mit zwanzig Augen aussehen würde und sie bekam einen Schreck. So viele Augen hatten nur Monster! Hans wandte sich ihr zu und starrte sich aus allen Monsteraugen an. Wer weiß, wonach er Ausschau hielt. Ob er eine Stelle zum Beißen suchte? Spinnen hatte natürlich auch spitze Zähne. Und Spinnen war ja giftig! Das hatte Hans ihr ganz verschwiegen. Sie wurde wütend und sah, wie das kleine, haarige Wesen frech an der Fensterscheibe saß und glotzte. Eine böse Zauberspinne. Wahrscheinlich sagte sie nun leise einen Zauberspruch, um sie, den Papa und die schlafende Frau zu verhexen. So einer war er also, der Hans Achterbein. Glaubte er, er könne sich alles erlauben, nur weil sie noch ein kleines Mädchen war? Sie spürte die Wut in sich aufsteigen. "Hans Achterbein", raunte sie ihm zu, "aus dir werde ich Harald Siebenfuß machen, mindestens". Sie hob die Hand. Mittelfinger und Daumen pressten gegeneinander und machten eine drohende Zupfbewegung. Als Hans plötzlich zuckte, schrie Sabrina und schlug mit geballtem Fäustchen zu. Sie traf aber nur hartes Glas. Hans saß auf der Außenseite der Scheibe, wie von Zauberhand. Noch einmal blickte er sie enttäuscht an. Dann sprang die Spinne in den Fahrtwind davon.
Sabrina weinte. Jetzt endlich sah der Papa zu ihr auf. Er ließ das Handy mit der Politik sinken und fragte, was los war.
"Da war eine Spinne", schluchzte Sabrina. "Ich hab erst gedacht, dass sie lieb ist und dann, dass sie zaubern kann. Dann wollte ich ..." Scham erstickte ihre Stimme.
Der Papa streichelte ihre Stirn. "So sind wir Menschen." Seine Stimme klang merkwürdig. Noch einmal blickte er auf sein Handy. Er schüttelte den Kopf und steckte das Ding endlich in die Tasche. "Lass uns was spielen!", rief er so laut, dass sogar die Frau in der Ecke wach wurde. "Ich sehe was, was du nicht siehst ..."
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Lietzensee,
so amüsant die Geschichte für Kinder unter 6 Jahre ist, ich habe so meine Zweifel, dass sie hier an der richtigen Stelle steht. Wir sollten die Bedeutung der Kurzgeschichte als literarische Gattung ein bisschen ernster nehmen.
Gruß Bo-ehd
 

Matula

Mitglied
Grüß Dich, lietzensee,
eine gelungene Studie ist das ! Wie aus dem guten Objekt im Handumdrehen ein böses wird, wenn es nicht so tut, wie man will. Eine Objektentwertung, die aus dem Vertrauten etwas Unheimliches macht. Bei den Erwachsenen heißt es dann "Ambivalenz".

Herzliche Grüße,
Matula
 
S

Susanne Evers

Gast
Guten Morgen lietzensee,
Deine Geschichte hat mir gut gefallen.
Herzliche Grüße
Susanne
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Bo-ehd,
vielen Dank für deine Antwort. Woran würdest du denn festmachen, dass die Gattung hier nicht ernstgenommen wird? Am Alter der Protagonistin oder an etwas anderem?

Hallo Susanne,
Dankeschön für deine Antwort, es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Hallo und Grüße Matula,
vielen Dank für deine Antwort. Genau, in diese Richtung wollte ich gehen.

Viele Grüße an alle
lietzensee
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Lietzensee,

gern beantworte ich deine Frage.

Das Gerüst einer Kurzgeschichte ist immer die Geschichte, sonst würde sie nicht so heißen. Nun wirst du sagen, deine Geschichte ist doch eindeutig vorhanden. Stimmt, aber Geschichte ist nicht gleich Geschichte. Man muss sehr differenzieren.

Für ein kindliches Verständnis ist deine Geschichte toll. Ein Kind entdeckt eine Spinne, baut eine Beziehung zu ihr auf und versucht, ihr Wesen zu entdecken. Das ist richtig gut, aber nur für eine Kindergeschichte, denn da gehört sie inhaltlich auch hin. Wenn du in der Weltliteratur nach ähnlichen Mensch/Tier-Beziehungen suchst, wirst du schnell fündig: Dschungelbuch, Granville, Karneval der Tiere, Walt Disney etc. Nie wirst du eine Episode daraus als Kurzgeschichte entdecken. Woran liegts? Die Geschichte in der Kinderliteratur ist nicht dieselbe wie in der Erwachsenenliteratur. Jetzt sind wir am Punkt.

Die Geschichte einer Short Story erwächst immer aus einem Handlungsstrang. Sie ist Hauptthema eines Textes und besteht aus Anfang, Mittelteil und Schluss/Ende. Der Anfang kann dabei sehr kurz sein, etwa bei einem Unfall. Mittel- und Schlussteil bilden das Gerippe, sind also unverzichtbar. Wenn du irgendwo etwas anderes liest, vergiss es. Inhaltlich besteht die Geschichte immer aus einem Konflikt, den der Held (gen. Masc.) lösen bzw. auflösen muss. Auslöser für den Konflikt kann alles Mögliche sein: Missverständnisse, Intrigen, Irrtümer, Gewalt, Naturereignisse etc. Wichtig ist immer, dass der Held in die Bredouille kommt, also in Schwierigkeiten gerät oder sein Ziel nicht erreicht. Das erzeugt Spannung. Die Story kann so oder so ausgehen, aber sie darf niemals abgebrochen werden. Die Geschichten, die mittendrin abgebrochen werden, weil es heißt, die Kurzgeschichte habe ein offenes Ende, sind ein Witz, und zwar ein grottenschlechter. Die Vertreter dieser unhaltbaren Theorie sollen mir mal beibringen, wie sie eine Pointe setzen, wenn die hintere Hälfte der Geschichte fehlt.

Zur Gestaltung des Schlusses noch eines: Überrasch den Leser, indem du die Geschichte völlig anders enden lässt, als er es erwartet. Wenn dir das gelingt, gewinnst du den Leser für dich, und das ist mehr als die halbe Miete.

Die beste Kurzgeschichte (für mich), die je geschrieben wurde, ist Hemmingways „Der alte Mann und das Meer“. Sie ist Weltliteratur, wie ein Krimi zu lesen, und hat einen gigantisch guten Schluss. Gebraucht bei Amazon für Pfennige zu haben; unbedingt lesen und die Romanstruktur gut einprägen. Es lohnt wirklich.

In diesem Sinne

Gruß Bo-ehd
 

petrasmiles

Mitglied
Da sind die Geschmäcker wohl verschieden - das ist mitnichten eine Kindergeschichte.
Ich finde die Welt der Erwachsenen und die Erlebniswelt des Kindes sehr gut verschränkt; beide verschenken ihre Aufmerksamkeit und man kann nicht entscheiden, welche Dramen wohl tiefere Spuren hinterlassen.
Und am Ende übernimmt der Erwachsene Verantwortung - und so soll es sein.

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Bo-ehd,
vielen Dank für deine Erklärung. Ich verstehe jetzt besser, worauf es dir in einer Kurzgeschichte ankommt. Ich glaube, dass wir sehr unterschiedlich an das Schreiben rangehen.

Wenn du in der Weltliteratur nach ähnlichen Mensch/Tier-Beziehungen suchst, wirst du schnell fündig: Dschungelbuch, Granville, Karneval der Tiere, Walt Disney etc. Nie wirst du eine Episode daraus als Kurzgeschichte entdecken.
Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass ich der Erste sein sollte, der Mensch-Tier-Beziehungen in einer Kurzgeschichte beschreibt. Aber wenn es so wäre, würde ich mir mächtig auf die Schulter klopfen. Was soll denn schlecht daran sein, wenn man einen Plot zuerst findet? Ich versuche immer, den ausgetreten Pfad verlassen, sobald ich eine kleine Lücke im Gebüsch erkenne.
Was mich stört ist, dass du deine formalen Kriterien mit der Qualität von Texten gleichzusetzen scheinst. Sicher gibt es viele geniale Kurzgeschichten, die nach dem von dir beschriebenen Muster funktionieren. Aber das beweist doch nicht den Umkehrschluss. Glaubst du, dass Geschichten automatisch schlechter werden, wenn sie nicht alle Kästchen auf dieser Checkliste abhaken? Is there no other way than Hemmingway?


Ein Kind entdeckt eine Spinne, baut eine Beziehung zu ihr auf und versucht, ihr Wesen zu entdecken. Das ist richtig gut, aber nur für eine Kindergeschichte, denn da gehört sie inhaltlich auch hin.
Das verstehe ich nicht. Warum soll so ein Plot ungeeignet für "Erwachsenen" Geschichten sein? Es kommt doch darauf an, was der Text aus dieser Situation heraus holt.

Inhaltlich besteht die Geschichte immer aus einem Konflikt, den der Held (gen. Masc.) lösen bzw. auflösen muss.
Meine Heldin (gen. Fem.) glaubt sich in einem Konflikt mit der Spinne. Den Konflikt versucht sie mit Gewalt zu lösen. Da stecken Jahrtausende an Erzähltradition drin.

Die Story kann so oder so ausgehen, aber sie darf niemals abgebrochen werden.
Findest du, das die Geschichte abgebrochen wird? Wo genau ist für dich da der Bruch?

Viele Grüße
lietzensee
 
Zuletzt bearbeitet:

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Petra,
die Geschmäcker sind wirklich verschieden, und das muss auch so sein. Zustimmung. Dass dies eine Kindergeschichte ist, habe ich nie bezweifelt. Und dass ihr Inhalt auch für Erwachsene durchaus wertvoll sein kann, würde ich nie bezweifeln. Wir sind da in vielen Dingen auf einere Linie, nur: Eine Kurzgeschichte ist das eben nicht.
Gruß Bo-ehd
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Lietzensee,
danke für deine Rückmeldung. Ich sehe, wir kommen da nicht zusammen, was schade ist. Ich habe, wie du weißt, bereits an anderer Stelle in diesem Forum diese grundsätzlichen Dinge erörtert, bin immer wieder auf härtesten Widerstand gestoßen und lasse es nun gut sein. Ihr habt alle Recht! Noch ein Wort zu Hemmingway und deiner Bemerkung: Is there no other way than Hemmingway?
No, there isn´t. The best advice I can give you is to watch how the pros and world famous writers perform. How they accept the rules and work with the tools. Learn from the best. Can this be wrong?
So long
Bo-ehd
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Matula,
ich habe zuvor in einem Post erwähnt, dass H. die in meinen Augen beste Short Story ever verfasst hat ("Der alte Mann und das Meer"). Und Lietzensee hat sinngemäß gefragt, ob es denn unbedingt Hemmingway sein muss.
Dazu Folgendes: Er hat mit "Schnee auf dem Kilimandscharo" Short Storys verfasst, die ich weniger gut und noch schlechter finde. Aber mit dem "Alten Mann..." hat er den Volltreffer schlechthin gelandet. Für mich ist es faszinierend, wie er die Story aufbaut, einen unglaublichen Spannungsbogen erzeugt (der den Leser fesseln muss) und auf ein Ende mit einer Pointe zuarbeitet, die man nur als sensationell bezeichnen kann.
Wegen der Überlänge wurde die Geschichte in Deutschland als Roman deklariert, was völlig daneben ist. 120 gedruckte Seiten lassen sich als Roman halt besser verkaufen.
Ansonsten habe ich andere Favoriten. Etwa H. Slezar (Drehbuchschreiber für Hitchcock) oder O. Henry.
Gruß Bo-ehd
 

Bo-ehd

Mitglied
Oh, Mann, jetzt hast du mich voll erwischt. Ein M reicht wirklich. Ich schieb´s aufs Alter, da verdaddelt man sich öfters mal. Zum Glück habe ich ihn in einem früheren Post richtig geschrieben.
Würde mich interessieren, wer deine Favoriten sind.
Gruß Bo-ehd
 

Matula

Mitglied
Mir gefallen die Kurzgeschichten und Short-Short-Stories von Alfred Polgar (1873-1955), aus der Gegenwartsliteratur die Geschichten von Christoph Ransmayr, zB "Atlas eines ängstlichen Mannes". Aber viel lieber lese ich Romane. Je dicker, desto besser. Ich will nicht schon nach zweihundert Seiten hinausgeworfen werden.

Schöne Grüße,
Matula
 

Bo-ehd

Mitglied
Ransmayr kenne ich nicht, da ich sehr wenig deutschsprachige Gegenwartsliteratur lese. Polgar? Zum Verlieben gut. Gut durchdachte Geschichten und Kurzprosa, sehr präzise Sprache. Das liebe ich.
An die längeren "Textschlappen" wage ich mich nicht, da ich ein Langsamleser bin. Das Letzte, was ich mir zugemutet habe, war Schätzings "Schwarm", auf den ich im Nachhinein auch hätte verzichten können.

Gruß Bo-ehd
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Lietzensee,

nein, ich verehre Hemingway nicht, nur seine Story vom alten Mann. Siehe meinen Post an Matula.

Zum Abschluss der Diskussion krame ich nochmal eine alte, abgelegte Chronologie hervor, die das Thema verdeutlicht. Hinzuphantasieren nicht erlaubt. Sie zeigt, wie man aus der größten Banalität dieser Welt eine echte Kurzgeschichte machen kann. Voraussetzung: Phantasie.

Im alten China fällt ein Sack Reis um.

Ein Bild aus dem Alltag, das natürlich nicht genug für eine Geschichte sein kann.

Zwei alte Frauen richten ihn mühsam wieder auf.

Ebenfalls Alltagsgeschehen. Das reicht immer noch nicht.

Beim Aufrichten reißt eine Naht. Eine Handvoll Reis tritt aus und rieselt auf den Boden.

Auch das reicht noch nicht für eine Geschichte. Der Sachverhalt ist zu einfach. So etwas kann jeden Tag passieren. Und: Es interessiert keinen.

Ein Aufseher sieht das und befiehlt den beiden Frauen, die Körner aufzulesen. Zur Not einzeln und wegen des Drecks auf dem Boden nicht mit dem Besen.

Jetzt kommt Fahrt in den Vorfall, weil etwas geschieht. Eine Handlung entsteht. Daraus eine Geschichte zu schreiben, wäre mir aber noch zu dünn.

Die beiden Alten knien sich mit ihren schmerzenden Gelenken auf den Boden. Mit ihrer verminderten Sehkraft lesen sie jedes Korn einzeln auf. Sie entwickeln eine Wut auf den Aufseher, der mit verschränkten Armen neben ihnen steht und grinst.

Das ist eine gute Szene. Daraus könnte man einen gesellschaftskritischen Text machen. Für eine Kurzgeschichte reicht sie aber noch nicht. Die Handlung entwickelt sich ja erst.

Den Alten tränen die Augen. Das Auflesen wird zur Qual, und der Aufseher hat eine Freude daran, ihr Leid anzusehen. Er verordnet ihnen ein noch größeres, indem er fordert, sie sollen auch noch in den Ritzen zwischen den Holzplanken nach Körnern suchen. Dazu reicht er ihnen zwei kleine Messer.

Handlung und Spannung sind on top. Wie kommen die beiden Alten da wieder heraus? (Konflikt!). 99,5% aller Autoren im deutschen Sprachraum beginnen jetzt, daraus eine Kurzgeschichte zu machen. Aber das ist verfrüht, denn die Entwicklung der Handlung ist ja noch nicht zu Ende.

Die Alten können die Erniedrigung, die Verletzung ihrer Würde, den Sarkasmus, ja, Sadismus, kaum ertragen. Da bemerkt die eine von ihnen mitten im Schmerz, dass eine der Bohlen ganz locker ist, nachdem der Dreck aus den Ritzen entfernt ist. Doch sie lässt sich nichts anmerken und ergibt sich ihrem Schicksal und lässt sich weiter drangsalieren. Nachts schleichen sich die beiden ins Lager, heben die Bohle und finden eine Schatulle, die die Initialen des früheren Firmeninhabers trägt. Sie öffnen sie …

Jetzt erst ist die Geschichte zu Ende. Es liegen alle Elemente vor, die eine Kurzgeschichte benötigt: Eine Einführung in die Situation, die Vorstellung der Personen, einen Handlungsstrang mit Konflikt und einem überraschenden Ende. Der Konflikt kann zwar nicht gelöst werden, dafür gibt es aber einen Ausgleich für die beiden Alten.

Mit diesen Bemerkungen möchte ich, soweit es mich betrifft, diesen Thread beenden.

Gruß Bo-ehd
 



 
Oben Unten