lietzensee
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Hans Achterbein
Die Zugfahrt war lang und langweilig. Wer wollte schon nach Finsterwalde? Sabrina jedenfalls nicht. Kahle Wiesen zogen am Fenster vorbei. Der Zug ruckelte. Eine dicke Frau schlief in der Ecke des Abteils und der Papa las wieder etwas über Politik auf seinem Handy. Bei ihrem Spielehandy aber war der Akku leer. Sie sah sich um. Die Tasche der dicken Frau war voll, sicher mit Essen. Eine gefleckte Kuh wischte vor dem Fenster vorbei und war sofort wieder verschwunden. Vor langer Weile wurde Sabrina schon traurig. Dann aber entdeckte sie etwas.
Zwischen dem kleinen Klapptisch und der Wand des Abteils gab es einen Spalt. Aus diesem Spalt lugten zwei dünne Beinchen hervor. Die Beinchen vermehrten sich. Erst wurden es vier, dann sechs, dann acht. Eine kleine Spinne sah sich vorsichtig im Abteil um. Sofort hatte Sabrina ihre lange Weile vergessen. Sie sah, wie nervös alle Beine des Tieres zitterten. Kleine Spinne mit dickem Bauch, Sabrina würde sie Hakim Wackelfuß nennen, nein, besser, Hans Achterbein. Der Hans wohnte in dem Spalt. Dort hatte er sicher alles, was er brauchte. Eine Spinnenfrau, deren Hintern noch dicker als sein eigener war, ihr Name war Gabi. Außerdem versteckte er in dem Spalt noch sieben kleine Spinnenkinder, ein Bett für sie alle zusammen und einen großen Fernseher vor der Bettkante. Vorsichtig beugte sie sich vor, um zu sehen, ob man in dem Spalt vielleicht etwas vom Flimmern des Fernsehers sehen konnte. Hui, musste das ein Beingewusel sein, wenn die Familie Achterbein abends zusammen im Bett lag und Serien schaute!
Die Frau in der Ecke schlief weiter. Der Vater schien den Hans nicht zu bemerken und las weiter Politik. Die Spinne aber hatte sofort gezuckt, als Sabrina die kleine Bewegung gemacht hatte. Vorsichtig hielt der Spinnerig, seine vorderen zwei Beine in die Luft. "Ich tu dir doch nichts", flüsterte Sabrina so leise, dass nur sie und Hans es hören konnten. Sie hielt ganz still, weil man sich nicht bewegen durfte, wenn man wilde Tiere beobachtete. Und wirklich, langsam kam Hans Achterbein weiter aus seiner Spalte hervor. Er trappelte die fleckige Wand des Abteils hinauf, bei jedem Schienenstoß innehaltend, um sich tastend und Sabrina dabei zublinzelnd. Sie beide verstanden sich. Sicher war auch Hans langweilig. Vielleicht, weil seine Frau in der Spalte saß und auf ihrem Handy Politik las. Die Vorstellung einer Spinne mit Handy war lustig und sie musste ein Kichern unterdrücken. Dann kletterte Hans die Kante des Tisches hinauf und Sabrina stellte sich die Frage, über die sie bei allen Tieren nachdachte. Konnte Hans die Spinne zaubern? Welche Tricks beherrschte er?
Dass er fliegen konnte, war ja schon mal klar. Das konnten alle Spinnen, an dünnen Fäden durch den Altweibersommer gleiten. Sabrina wollte so gerne auch seine anderen Geheimnisse erfahren. Ob er durch Wände und ins nächste Abteil sehen konnte? Nun erinnerte Sabrina sich, dass Spinnen fünfzehn oder sechzehn Augen besaßen. Das hatte sie in der Schule gelernt. Hans kletterte weiter in Richtung Fensterritze und sah sie aus all den Augen an. Ein bisschen unheimlich war das ja schon, so viele Augen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, aus zwanzig Augen gleichzeitig zu gucken. Dann versuchte sie sich vorzustellen, wie ihr eigenes Gesicht mit zwanzig Augen aussehen würde und sie bekam einen Schreck. So viele Augen hatten nur Monster! Hans wandte sich ihr zu und starrte sich aus allen Monsteraugen an. Wer weiß, wonach er Ausschau hielt. Ob er eine Stelle zum Beißen suchte? Spinnen hatte natürlich auch spitze Zähne. Und Spinnen war ja giftig! Das hatte Hans ihr ganz verschwiegen. Sie wurde wütend und sah, wie das kleine, haarige Wesen frech an der Fensterscheibe saß und glotzte. Eine böse Zauberspinne. Wahrscheinlich sagte sie nun leise einen Zauberspruch, um sie, den Papa und die schlafende Frau zu verhexen. So einer war er also, der Hans Achterbein. Glaubte er, er könne sich alles erlauben, nur weil sie noch ein kleines Mädchen war? Sie spürte die Wut in sich aufsteigen. "Hans Achterbein", raunte sie ihm zu, "aus dir werde ich Harald Siebenfuß machen, mindestens". Sie hob die Hand. Mittelfinger und Daumen pressten gegeneinander und machten eine drohende Zupfbewegung. Als Hans plötzlich zuckte, schrie Sabrina und schlug mit geballtem Fäustchen zu. Sie traf aber nur hartes Glas. Hans saß auf der Außenseite der Scheibe, wie von Zauberhand. Noch einmal blickte er sie enttäuscht an. Dann sprang die Spinne in den Fahrtwind davon.
Sabrina weinte. Jetzt endlich sah der Papa zu ihr auf. Er ließ das Handy mit der Politik sinken und fragte, was los war.
"Da war eine Spinne", schluchzte Sabrina. "Ich hab erst gedacht, dass sie lieb ist und dann, dass sie zaubern kann. Dann wollte ich ..." Scham erstickte ihre Stimme.
Der Papa streichelte ihre Stirn. "So sind wir Menschen." Seine Stimme klang merkwürdig. Noch einmal blickte er auf sein Handy. Er schüttelte den Kopf und steckte das Ding endlich in die Tasche. "Lass uns was spielen!", rief er so laut, dass sogar die Frau in der Ecke wach wurde. "Ich sehe was, was du nicht siehst ..."